Geheimplan-Recherche

Wie sich der Wert von Lokaljournalismus für die Demokratie gerade besonders zeigt

Seit zwei Monaten vernetzen sich Lokalredaktionen aus ganz Deutschland im Netzwerk CORRECTIV.Lokal, um über die Folgen der Geheimplan-Veröffentlichung zu berichten und setzen eigene Recherchen um. Hier berichten sechs Reporterinnen und Reporter.

von Jonathan Sachse

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Eine von vielen Demos: Am 20.01.2024 kamen vor dem Neuen Schloss in Stuttgart zehntausende Menschen zusammen, um gegen Faschismus und für mehr Vielfalt zu demonstrieren. Foto: Stuttgart/ Matt

Es ist der Tag nach Veröffentlichung der Geheimplan-Recherche: In einem Videogespräch treffen sich Dutzende Reporterinnen und Reporter, die für Lokalmedien aus ganz Deutschland arbeiten. Sie sind Mitglieder von CORRECTIV.Lokal. Es ist der Beginn einer Vernetzung, die seitdem täglich im Netzwerk stattfindet.

Ein Kollege berichtet von ersten Protesten gegen die AfD und Rechtsextremismus in seiner Stadt. Eine Lokalreporterin teilt mit der Runde, wie sie in kürzester Zeit einen weiteren AfD-Politiker identifizieren konnte, der am Geheimtreffen bei Potsdam teilgenommen hat. Andere teilen Ideen für weitere Recherchen und diskutieren handwerkliche Fragen, um tiefer ins Thema einsteigen zu können.

Die Kolleginnen und Kollegen vor Ort nehmen als Erstes wahr, was später für alle sichtbar sein wird. Mittlerweile sind mehr als drei Millionen Menschen auf die Straße gegangen. Über die Deutschlandkarte von CORRECTIV haben Menschen in mehr als 350 Einträgen lokale Folgen sichtbar gemacht. In den folgenden Berichten erzählen sechs Reporterinnen und -reporter, was bei ihnen vor Ort passiert ist.

Niedersachsen: Innerhalb von 24 Stunden wird ein weiterer AfD-Politiker bekannt

von Anping Richter (Stader Tageblatt und Buxtehuder Tageblatt)

In der Story „Geheimplan gegen Deutschland“ wurde ein SUV mit Stader Kennzeichen erwähnt, was mich natürlich elektrisierte. Auf Nachfrage schickte mir CORRECTIV ein Foto des Nummernschildes. Wem der SUV gehört, war schnell herauszukriegen: dem AfD-Kreisvorsitzenden und Unternehmer Maik Julitz aus Buxtehude.

Das führte mich am nächsten Morgen direkt an seine Tür. Erst wollte er nicht, dann ließ er sich doch auf ein Gespräch ein: Ja, er habe mindestens 5.000 Euro für die Teilnahme bezahlt. „Unterstützenswerte Projekte“ wie dieses bedenke er gerne und Martin Sellners Ideen seien „interessant“. All das und mehr war am Abend online und am nächsten Morgen im Print zu lesen, mit Hintergründen und Kommentar auf einer ganzen Seite.

Das CORRECTIV-Team vernetzte uns noch mit einem Kollegen der Hannoversche Allgemeine, der tags darauf auch berichtete und uns im Gegenzug die landespolitische Stellungnahme der AfD zulieferte – eine von mehreren lokalen Folgegeschichten, die wir brachten. NDR, Spiegel und Hamburger Abendblatt zitierten uns.

In eine journalistische Recherche eingebunden zu sein, die ganz Deutschland erschüttert, hat uns als Lokalmedium viel Respekt eingebracht. Bewegend war auch die Demo mit 2.500 Teilnehmern eine Woche später in Buxtehude, als die Redner auf der Bühne unsere Recherchen thematisierten.

Bayern: Wie sich Rechtsextremisten in Schwaben vernetzen

von Maria-Mercedes Hering (Augsburger Allgemeine)

Seit der Geheimplan-Veröffentlichung von CORRECTIV hat sich die Augsburger Allgemeine intensiv mit der Frage beschäftigt, welche Verbindungen es ins Berichtsgebiet gibt und wie stark Rechtsexremist:innen dort vernetzt und verwurzelt sind.

Ein Schwerpunkt unserer Berichterstattung ist ein Treffen von Rechtsextremist:innen in Dasing im Landkreis Aichach-Friedberg. Auch dort sprachen, wie eine Recherche zeigt, Rechtsextreme über „Remigration“. Meine Kollegen Christian Lichtenstern und Holger Sabinsky-Wolf haben wiederholt über die Zusammenkunft berichtet. Sie sind der Frage nachgegangen, wie nah sich AfD und Identitäre Bewegung sind und wie das rechtsextremistische Netzwerk in Schwaben agiert. Lichtensterns Fazit in seinem Kommentar: „Rechtsextremisten sind in der Herzkammer der Kommunalpolitik angekommen.“

Die Recherchen zeigen nicht nur, wie ernst die Lage auch in Schwaben ist. Sie machen die Lesenden auch sensibel dafür, dass solche Umtriebe nicht nur im weit entfernten Potsdam geschehen, sondern auch vor der Haustür rechte Hotspots sind, wie meine Kolleginnen Sarah Ritschel und Sonja Dürr darlegen.

Ebenfalls vor der Haustür: Demonstrationen gegen rechts. Seit der Geheimplan-Veröffentlichung hat es dutzende Veranstaltungen in Augsburg und der Region gegeben, bei denen sich teilweise tausende Menschen für die Demokratie stark machen. Sie wollen auch nachhaltig ein Zeichen setzen und organisieren sich dafür.

Thüringen: Das Ende der Machtlosigkeit in Gera

von Jacob Queißner (freier Journalist)

In Gera waren die Entwicklungen nach den Veröffentlichungen durchwachsen. Es dauerte knapp drei Wochen, bis es am 27. Januar die erste Kundgebung stattfand, an der zwischen 700 und 1.000 Menschen teilnahmen. Das ist für Gera in Ostthüringen viel, aber unterdurchschnittlich im Vergleich zu anderen Städten.

Allerdings muss erwähnt werden, dass zeitgleich wenige Hundert Meter eine extrem rechte Veranstaltung stattfand, zu der auch Martin Sellner angekündigt worden war. Sellner wusste von der Einladung anscheinend nichts, aber die thüringischen Behörden waren trotzdem alarmiert und erwirkten ein Einreiseverbot. Die Lokalzeitung in Gera hat das Thema nicht mehr weiterverfolgt und die CORRECTIV-Recherche nur in den Mantelnachrichten gehabt – ohne eigene Recherchen vor Ort.

Dennoch ist es zu beobachten, dass sich mehr Menschen engagieren wollen, vor allem gegen die rechten Montagsdemos, die seit über zwei Jahren wöchentlich durch die Stadt ziehen. Bei den Menschen der Stadt herrschte bisher eine Machtlosigkeit und das Gefühl, dass die Demos und insbesondere der Organisator, ein vorbestrafter Neonazi, Narrenfreiheit haben.

Ich glaube, dass die Menschen wieder mehr Mut und Motivation haben, etwas dagegen zu tun. So gibt es jetzt eine neue Veranstaltungsreihe der Stadtkirchgemeinde, bei der man etwas abseits von den Montagsdemos ins Gespräch kommen möchte, Ängste nehmen will und die schönen Seiten der Stadt hervorheben will. Auch bei Gegenprotesten zu rechten Veranstaltungen sind mehr Teilnehmende zu beobachten. Das gibt Hoffnung für die anstehenden Kommunalwahlen Ende Mai und die Landtagswahlen im September in Thüringen.

Sachsen-Anhalt: Ein weiterer Teilnehmer des Geheimtreffens wird identifiziert

von Marc Rath (Volksstimme und Mitteldeutscher Zeitung)

In Sachsen-Anhalt haben die Recherchen hohe Wellen geschlagen: Wir konnten einen weiteren Teilnehmer des Treffens identifizieren, der bislang unerkannt geblieben war. Es war eine journalistische Puzzlearbeit. Der Unternehmer mit Berliner Wurzeln ist in der Region bislang politisch nicht in Erscheinung getreten. Die Spuren im Internet deuten jedoch darauf hin, dass er in seiner Heimatstadt zu den Mitbegründern der AfD gehörte und dem Höcke-Flügel zuzuordnen ist. Unsere Fragen wollte er nicht beantworten, sondern berief sich darauf, dass er über private Aktivitäten keine Rechenschaft schuldig sei.

Der Co-Vorsitzende der AfD-Landtagsfraktion, Ulrich Siegmund, verlor wegen seiner Teilnahme an dem Treffen in Potsdam den Vorsitz des Sozialausschusses im Landtag von Sachsen-Anhalt. Mehr als die Hälfte der Landesparlamentarier hatte einen entsprechenden Antrag für die nächste Landtagssitzung eingebracht.

Weitere Recherchen von Volksstimme und Mitteldeutscher Zeitung förderten jetzt zutage, dass der ehemalige Stendaler CDU-Stadtrat Alexander von Bismarck von seiner Funktion als stellvertretender Vorsitzender des von Bismarck’schen Familienverbandes zurückgetreten ist. Der Verband distanziert sich in einer Erklärung „in aller Deutlichkeit von jedem rechtsradikalen Gedankengut und steht fest zu unserer Demokratie“.

Unterdessen erwägt die Stadt Stendal, Bismarcks Schloss in Döbbelin den Status der Außenstelle des Standesamtes abzuerkennen, bestätigte die Verwaltung auf Anfrage der Volksstimme. Der Altmärkische SPD-Bundestagsabgeordnete Herbert Wollmann geht einen Schritt weiter und fordert „die Gesellschaft, Ämter und Behörden dazu auf, dass nicht noch mit Hinweisschildern an Bundes- und Landesstraßen auf das Schloss in Döbbelin mit öffentlich bereitgestellten Mitteln geworben wird“.

Nordrhein-Westfalen: Empfang von AfD-Spitzen in Bergischen Land und Proteste

von Georg Watzlawek (Bürgerportal Bergisch Gladbach)

Mit Roland Hartwig stammt einer der Protagonisten des Potsdamer Treffens aus Bergisch Gladbach. Hier hatte der Vertraute von Alice Weidel 2017 sein erstes Bundestagsmandat geholt. Also ausreichend lokaler Kontext, um frühzeitig und wiederholt über die CORRECTIV-Recherche und ihre Auswirkungen zu berichten. Wir starteten mit einer Umfrage unter Menschen mit internationalem Hintergrund, die ihre persönlichen Reaktionen auf die Rechercheergebnisse teilten.

Auch in Bergisch Gladbach kam es zu ersten Demonstrationen, ein Bündnis für Demokratie und Vielfalt organisiert sich. Das Bürgerportal berichtet engmaschig und bietet den demokratischen Kräften zusätzlich eine Plattform für Information und Austausch. In einer Sonderausgabe unseres „PolitikClubs“ brachten wir lokale Politiker:innen aus Stadtrat, Landtag und Bundesrat an einen Tisch, um über den Umgang mit der AfD hier vor Ort zu diskutieren. Das Bündnis nutzt unseren „Community Space“ für seine Treffen. Weite Teile der öffentlichen Debatte laufen über unsere Website und Social-Media-Kanäle.

Schub erhielt das Thema, als der AfD-Kreisverband einen „Populistischen Ascherfreitag“ im örtlichen Bürgerhaus ankündigte, mit Maximilian Krah und Beatrix von Storch als Gästen. Die Veranstaltung fand schließlich im Nachbarort Kürten statt. Eigentlich unter Ausschluss der Presse, aber es gelang uns, einen Berichterstatter im Saal zu platzieren und die Inhalte öffentlich zu machen. Die Redaktion deckte gleichzeitig die Gegendemonstrationen an zwei Orten mit einem Livestream ab.

Baden-Württemberg: Wie die gesellschaftliche Reaktion bei der Arbeit motiviert

von Alexander Roth (Zeitungsverlag Waiblingen)

Als jemand, der seit Jahren zu AfD und Rechtsextremismus recherchiert, hatte ich zuletzt das Gefühl: Egal, was enthüllt wird, es schockiert niemanden mehr. Nazi-Sprache, völkische Ideologie, rassistische Hetze, Neonazi-Mitarbeiter, rechtsextreme Verschwörungserzählungen – im Grunde konnte die Partei so verfassungsfeindlich auftreten, wie sie wollte: Einen großen Teil der Menschen schien es einfach nicht zu interessieren. Die Geheimplan-Recherche hat gezeigt: Ich lag komplett daneben. Zum Glück.

Seit der Artikel zum Geheimtreffen in Potsdam erschienen ist, gab es kaum einen Tag, an dem ich mich nicht in irgendeiner Form damit befasst habe. Mit den Massendemos, die daraus resultierten, auch vor unserer Haustür. Mit der Spur nach Stuttgart, die taz und CORRECTIV aufgedeckt haben, als sie über den Bauunternehmer und rechten Publizist Hans-Ulrich Kopp berichteten, der ebenfalls am Geheimtreffen bei Potsdam teilnahm. Oder den mal kopflosen, mal strategischen Versuchen der AfD, die journalistische Arbeit irgendwie in Misskredit zu bringen und Kolleg*innen einzuschüchtern.

Vor allem aber hat mich eines auf Trab gehalten und sorgt weiter für ein volles Überstundenkonto: Eine Gesellschaft, die in allen Lebensbereichen plötzlich die Dringlichkeit des Themas erkannt zu haben scheint, die Antworten und Informationen will. Es gibt noch so viel aufzudecken.

Über CORRECTIV.Lokal

Das Netzwerk CORRECTIV.Lokal stärkt den Lokaljournalismus. Mehr als 1.700 Mitglieder werden bei Recherchen unterstützt und profitieren von vielfältigen Angeboten. Viele von ihnen kommen Ende April zu einer Fachkonferenz in Erfurt zusammen. Im Netzwerk arbeiten wir an national relevanten Themen, die gleichzeitig Menschen vor Ort betreffen. Zusammen glauben wir an die Kraft eines Lokaljournalismus, der positive Veränderungen in der Gesellschaft bewirkt. 

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