Plötzliche Todesfälle in Russland: Wenn das System das Leben nimmt
Fensterstürze, Herzversagen und Schusswunden: Seit der Invasion in die Ukraine sind mehr als ein Dutzend russischer Top-Manager unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen. Der angebliche Suizid des Ex-Verkehrsministers Roman Starowoit vor zwei Wochen ist nur der vorläufige Schlusspunkt einer Serie. CORRECTIV liefert einen Überblick mit Zeitleiste.

Nur wenige Stunden sind vergangen, seit der Kreml die Entlassung von Roman Starowoit aus dem Amt des Verkehrsministers bekannt gegeben hat, da bricht sich am 7. Juli eine weitere Meldung Bahn: Die Leiche Starowoits wurde mit Schussverletzungen neben seinem Auto in der Nähe von Moskau leblos aufgefunden.
Schnell konzentrierten sich die Ermittler auf einen Suizid als Hauptversion. Doch was kann man den Behörden in Russland heute glauben – vor allem, wenn es um den Tod eines so ranghohen Politikers geht? Der Fall reiht sich ein in eine Serie mysteriöser Todesfälle von russischen Geschäftsleuten aus dem Umfeld von Putins. Nun könnte es sogar einen Minister getroffen haben. CORRECTIV hat die 20 prominentesten Todesfälle von Politikern und Top-Managern recherchiert und in einer Zeitleiste zusammengetragen.
Der Tod Starowoits ist Symptom des Systems Putin, für das in Zeiten des Krieges viel auf dem Spiel steht. Bei einer Niederlage könnte es schnell zerfallen. Alte Loyalitäten werden neu getestet, Gefahren beseitigt. Starowoit und die anderen Personen aus diesem Text waren Teil dieses Systems – bis zu ihrem Tod.
Ein möglicher Grund für die Version eines Suizids sind Ermittlungen gegen Starowoit und sein Umfeld. Vor seiner Zeit als Verkehrsminister war Starowoits Gouverneur in der Region Kursk, die an die Ukraine grenzt. Im vergangenen Jahr waren ukrainische Truppen bis dorthin vorgedrungen. Rund um den damaligen Gouverneur Starowoits sollen Gelder unterschlagen worden sein, mit denen eigentlich der Grenzschutz gebaut werden sollte. Auch Starowoit soll belastet worden sein, berichteten russische Medien.
Es ist eine Serie seltsamer Todesfälle
Es gibt allerdings zwei Momente, die zu denken geben. Zum einen gehört zu den Regeln des Systems Putin, dass loyale Politiker dieses Ranges vor Korruptionsverfahren geschützt werden oder im schlimmsten Fall mit vergleichsweise milden Strafen davonkommen. Das haben Fälle aus Putins Amtszeiten gezeigt. Wollte jemand, der in dem Korruptionsschema weiter oben steht, verhindern, dass Starowoit ihn wiederum belastet?
Zum anderen ist Starowoit nur der aktuellste Fall in einer ganzen Reihe mysteriöser Tode hochrangiger Entscheidungsträger seit Russlands vollumfänglicher Invasion in die Ukraine im Februar 2022. Vor allem in den ersten Monaten kam es zu einer Häufung von Todesfällen von Top-Managern von Energiekonzernen wie Gazprom, Lukoil oder Bashneft. In englischsprachigen Medien festigte sich der Begriff „Sudden Russian Death Syndrome“, das Syndrom plötzlicher Tode in Russland.
Auffallend häufig wiederholten sich dabei die Todesursachen: Einige Manager wie Rawil Maganow vom Ölkonzern Lukoil und Andrej Badalow von dem Pipeline-Betreiber Transneft starben durch Fensterstürze. Witalij Robertus und Oleg Satsepin, die beide ebenfalls für Lukoil und eine Lukoil-Tochter gearbeitet haben, sollen direkt in ihrem Büro Suizid begangen haben. Andere starben laut offizieller Version durch Herzversagen oder Schüsse.
Auch in Berlin gab es einen mysteriösen Fenstersturz
Die Vorfälle beschränken sich nicht auf russisches Territorium. Sergej Protosenja vom Energieunternehmen Novatek wurde in Spanien leblos aufgefunden. Der Unternehmer Pawel Antow starb durch einen Sturz aus dem Fenster eines Hotels in Indien.
Und auch in Deutschland kam es bereits zu einem mysteriösen Todesfall: Am 19. Oktober 2021 wurde der Körper des Diplomaten Kirill Schalo vor einem Botschaftsgebäude in Berlin leblos aufgefunden. Eine Obduktion in Deutschland fand nicht statt. The Insider stellte eine Verbindung von Schalo zu einer FSB-Einheit fest, die hinter dem sogenannten Tiergarten-Mord in Berlin stehen soll.
Im Tiergarten erschoss im Herbst 2019 der russische Agent Wadim Krasikow den Georgier Selimchan Changoschwili, der einst im Tschetschenienkrieg gegen Russland gekämpft hatte. Der Mörder wurde gefasst und verurteilt, später jedoch in einem Austausch gegen russische Oppositionelle nach Russland überstellt und auf dem roten Teppich von Putin empfangen, der ihn wie ein Mafiapate küsste.
Zweifel an der offiziellen Version
Die meisten mysteriösen Todesfälle der russischen Entscheidungsträger werden von den Behörden schnell als Selbstmord eingeordnet. Deswegen wird selten in Richtung eines Fremdverschuldens ermittelt. Doch im heutigen Russland, im Krieg, muss die Meinung der Behörden angezweifelt werden. In Russland gib es keinen Rechtsstaat, nicht im Kleinen, nicht im Großen. Vielleicht wusste der eine oder andere zu viel über korrupte Machenschaften und wollte auspacken?
Solange Putins System in Russland herrscht, wird es darüber keine Klarheit geben. Es bleibt eine Häufung auffälliger Todesfälle mit vielen Fragezeichen. Das ist der Preis eines autoritären Regimes: Der Bürger verliert die Gleichheit vor dem Gesetz und den unabhängigen Richter. Ohne Rechtsstaat wird der Mensch zum Spielball der Mächtigen und ist der Willkür ausgeliefert.
Wenn Sie Depressionen oder suizidale Gedanken haben, bekommen Sie Hilfe zum Beispiel bei der Telefonseelsorge (unter 0800/111 0 111 oder 0800/111 0 222) oder anderen Beratungsstellen.
Redaktion: Elena Kolb, Justus von Daniels
Faktencheck: Elena Kolb
Grafik: Alexej Hock, Mohamed Anwar