Sicherheit und Verteidigung

Im Schatten von Sapad: Wie Belarus zur Startrampe russischer Raketen wird

Ein russisch-belarussisches Militärmanöver im September macht Beobachter nervös. Die Truppen könnten dabei mit einem berüchtigten Raketensystem üben, das potenziell über Polen bis nach Ostdeutschland reicht. Was hat Putin vor?

von Till Eckert

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Was ist vom kommenden Sapad-Manöver in Belarus zu erwarten?(Collage: Ivo Mayr/CORRECTIV / Fotos:picture alliance)

Vor den Toren einer Lagerhalle in Asipovichy, im Zentrum von Belarus, stehen meterlange Raketenwerfer dicht nebeneinander aufgereiht. Es sind keine gewöhnlichen Artilleriesysteme, sondern Iskander-M, fahrzeuggestützte russische Raketenwerfer – mit nuklearer Kapazität. 

Offiziell dienen die Waffen der „Abschreckung und Verteidigung“. Doch mit Blick auf das anstehende russisch-belarussische Großmanöver Sapad 2025 wirken sie wie ein Signal: Die militärische Grenze zwischen Russland und Belarus ist längst verwischt – und mit ihr rücken die Systeme, die seit 2018 auch dauerhaft in Kaliningrad an der polnisch-russischen Grenze stehen sollen, noch dichter an das NATO-Gebiet heran.

Experten werten die gemeinsame Übung im September als mögliches Vorspiel für weitere Aggression durch Russland: Denn der letzte russisch-belarussische Truppenaufmarsch diente rückblickend zur Vorbereitung auf die Invasion in die Ukraine im Februar 2022. Wahrscheinlich ist, dass dabei auch mit dem berüchtigten Iskander-System geübt wird. 

Im Kontext der angespannten Sicherheitslage kaum beleuchtet: die Reichweite der Waffen. Denn bei entsprechender Stationierung der Systeme ganz im Westen von Belarus wäre theoretisch auch Ostdeutschland erreichbar. Und so blickt man nicht nur in der Ukraine und den direkten Anrainern Polen und Litauen nervös auf das diesjährige Sapad-Manöver. Die im April neu stationierten Bundeswehrsoldaten in Litauen sind nach CORRECTIV-Informationen längst in Hab-Acht-Stellung.

Im Raum stehen heikle Fragen: Was hat das russische Regime unter Wladimir Putin mit den Iskander-Systemen außerhalb seiner Landesgrenzen vor? Und verschmelzen die russischen und belarussischen Armeen endgültig zu einer gemeinsamen Streitmacht?

Russland und Belarus wachsen militärisch seit Jahren zusammen

Die militärische Kooperation zwischen Russland und Belarus vertieft sich immer weiter. Beide Länder führen seit rund fünf Jahren nicht nur regelmäßig gemeinsame Großmanöver wie die Sapad-Übungsreihe durch, sondern entwickeln auch eine gemeinsame militärische Infrastruktur. 

2021 errichteten Russland und Belarus ein gemeinsames Luftverteidigungszentrum in Grodno, nahe der polnischen Grenze. Russische Truppen üben permanent auf belarussischem Boden.

Die Integration beider Armeen wurde 2022 weiter vorangetrieben, als Belarus seine sogenannte Militärdoktrin in enger Abstimmung mit Moskau überarbeitete. Im Zuge des Krieges in der Ukraine wurden russische Streitkräfte dauerhaft in Belarus stationiert.

Die gemeinsame Stationierung russischer Waffen in Belarus – darunter auch die taktisch nuklearfähigen Iskander-Raketensysteme – ist der vorläufige Höhepunkt der militärischen Verschmelzung. 2023 wurden taktische Atomwaffen aus Russland nach Belarus verlegt. Sie sollen russischem Kommando unterstehen, jedoch auf belarussischem Territorium lagern. 

Es ist ein Quasi-Stützpunkt Russlands auf belarussischem Boden. 

Iskander-System wird längst offensiv eingesetzt – Reichweite je nach Stationierung bis nach Deutschland

Bilder aus den vergangenen Jahren zeigten tatsächlich immer wieder Iskander-M-Systeme auf belarussischen Kasernengeländen und Übungsplätzen wie beispielsweise Asipovichy. Wie viele und wo diese sich derzeit in Belarus befinden, lässt sich nicht abschließend verifizieren.

Das längliche Fahrzeug kann sowohl Kurzstreckenraketen als auch solche mit nuklearen Sprengköpfen abfeuern. Unklar bleibt jedoch, ob in Belarus auch tatsächlich die nötigen Kapazitäten für die Lagerung nuklearer Waffen aufgebaut wurden. Analysen von Satellitenbildern aus 2024 legen das zumindest nahe.

Russische Streitkräfte üben die Bewaffnung eines Iskander-M-Systems. (Symbolbild: Yevgeny Yepanchintsev / dpa)

Im Sommer 2024 übten russische Truppen in Belarus die Bewaffnung und den Einsatz von Iskander-Raketen, später trainierten sie laut des russischen Verteidigungsministeriums auch „für den Kampfeinsatz von nicht-strategischen Kernwaffen“. 

Bisher sprach das belarussische Staatsoberhaupt Alexander Lukaschenko davon, dass die Iskander-Systeme sich nur zur Abschreckung und Verteidigung in Belarus befinden würden. Durch die Kontrolle der russischen Streitkräfte über die Waffen darf das bezweifelt werden.

Eingesetzt wird das System längst offensiv. Soldaten feuern damit seit Monaten Kurzstreckenraketen aus Russland auf zivile und militärische Infrastruktur in der Ukraine ab. Die Waffe ist dabei offenbar sogar in der Lage, ausgeklügelte Patriot-Auffangsysteme zu überrumpeln.

Bisher waren Iskander außerhalb Russlands vor allem in Kaliningrad stationiert. Es handelt sich dabei um eine russische Exklave und liegt genau zwischen Litauen und Polen. In den vergangenen Jahren rückten die Systeme auch ins Zentrum von Belarus ein. Die Reichweite der Waffe beträgt bis zu 500 Kilometer, bei Modifizierung möglicherweise sogar doppelt so weit.

(Grafik: Sebastian Haupt / CORRECTIV)

Auch ohne eine Verlegung der Iskander-Systeme in westliche Teile von Belarus – also dorthin, wo auch Manöver wie Sapad regelmäßig stattfinden – ergibt sich damit längst eine reale Bedrohung für Ostdeutschland. Frankfurt an der Oder oder Greifswald liegen am Rand oder innerhalb der potenziellen Reichweite der russischen Iskander-Raketen. Ein sicherheitspolitisch brisanter Umstand, der bisher selten thematisiert wird.

Grünen-Verteidigungsexpertin: Übung Teil der psychologischen Kriegsführung Putins gegen den Westen

„Wenn Minister und Militärs davon reden, dass es bald zu einem Test der NATO kommen kann, dann haben sie diese Übung im Blick“, sagt Sara Nanni, Grünen-Bundestagsabgeordnete und Obfrau im Verteidigungsausschuss. „2021 gab es eine ähnliche Übung, danach dauerte es nicht mehr lange bis zur Vollinvasion gegen die Ukraine. Trotzdem: Niemand hat eine Glaskugel.“

Nanni geht davon aus, dass Putin und Lukaschenko „mit nuklearer Erpressung spielen, wie Putin das schon seit Jahren tut“. Auch die Stationierung der Iskander-Systeme sieht sie als Teil „der psychologischen Kriegsführung Putins gegen den Westen“. 

Die Verteidigungsexpertin rät der NATO, sich diesem Druck nicht zu beugen. Gleichzeitig dürfe die Gefahr eines konventionellen Angriffs unter atomaren Drohungen Russlands nicht unterschätzt werden. „Die NATO trifft hoffentlich alle notwendigen Maßnahmen, um schnell reagieren zu können, sollte es zu einem Test oder einem Angriff kommen“, sagt Nanni.

„Bereit, dem entgegenzutreten“: Bundeswehr in Litauen beobachtet Manöver

Die neue deutsche Panzerbrigade 45, stationiert nahe der litauischen Hauptstadt Vilnius, beobachte nach Aussagen eines Insiders gegenüber CORRECTIV zumindest genau, was in Belarus passiert und sei „bereit, dem entgegenzutreten“. 

Belarus gelte neben Estland in den Augen der Truppe schon lange als eines der zwei möglichen Einfallstore ins Baltikum. So verlaufe die militärische Infrastruktur dort entlang der Hauptverkehrsadern, um „eine sehr schnelle Verlegung von Truppen und Material zu ermöglichen“. 

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Eine Sprecherin des Verteidigungsministeriums wollte sich dazu gegenüber CORRECTIV nicht äußern. Die Informationen würden der „militärischen Sicherheit“ unterliegen und seien eingestuft.

Was genau beim kommenden Sapad-Manöver geprobt wird, bleibt – wie so oft – im Nebel russischer und belarussischer Intransparenz. Doch die Erfahrungen der vergangenen Jahrezeigen: Immer wieder standen nuklearfähige Systeme wie die Iskander im Zentrum von Übungen, begleitet von Szenarien, die Angriffe auf NATO-Gebiet simulierten. 

Belarus spielt dabei längst nicht mehr die Rolle eines bloßen Gastgebers, sondern ist militärisch tief in die russischen Strukturen eingebunden. Auch wenn offizielle Stellen in Minsk und Moskau immer wieder von „Verteidigung“ sprechen – die Reichweite und Mobilität der eingesetzten Waffen sprechen eine andere Sprache.