Türkei

Der lange Marsch auf Istanbul

Derzeit marschieren tausende Menschen in der Türkei 400 Kilometer von Ankara nach Istanbul. Es ist eine der größten Demonstrationen der türkischen Geschichte. Am Wochenende wird der Demonstrationszug an der Stadtgrenze der türkischen Metropole erwartet – just zu dem Zeitpunkt, an dem Präsident Erdoğan auf dem G20-Gipfel in Hamburg auftritt. Eine Analyse.

von Can Dündar

© Mehmet Erol

Als im Jahr 1960 in der Türkei eine repressive rechte Regierung die größte Oppositionspartei CHP verbieten wollte und alle Demonstrationen untersagte, startete der damalige Parteichef eine großartige Aktion.

Mit den Worten: „Ich gehe jetzt Geld abheben“ ging Ismet Inönü in Ankara aus seinem Haus und machte sich zu Fuß auf ins Stadtzentrum. Binnen kurzem folgten ihm Tausende Menschen. Die Aktion „Ich gehe Geld abheben“ verwandelte sich unter den konsternierten Blicken der türkischen Polizei in eine Demonstration. Wenige Monate darauf stürzte die Regierung.

Heute, 57 Jahre später, geht erneut ein CHP-Chef auf die Straße, weil eine repressive rechte Regierung seine Partei bedrängt. Dieses Mal marschiert er nicht zur Bank, sondern von Ankara nach Istanbul.

Der große Marsch

Der 400-Kilometer-Marsch des 68-jährigen Kemal Kılıçdaroğlu könnte die größte Aktion in der Geschichte seiner Partei werden, eine der größten Aktionen in der Geschichte der Türkei.

Als Kılıçdaroğlu 2010 den Parteivorsitz übernahm, gab man ihm den Beinamen „Gandhi Kemal“. Sein Aussehen erinnert an Mahatma Gandhi – doch seine Führungsqualitäten waren weit entfernt von denen seines indischen Kollegen. Kılıçdaroğlu entstammt der Verwaltung, er trieb eine Mitte-Rechts-Annäherung voran, hielt sich von der Straße fern und sperrte die Opposition im Parlament ein. Seine Partei gewann nie mehr als 25 Prozent der Stimmen. Es war mit sein Verdienst, dass Präsident Recep Tayyip Erdoğan zum alternativlosen Staatschef wurde.

Nach dem der Ausnahmezustand in der Türkei verhängt wurde, geriet die Justiz vollkommen unter Erdoğans Fuchtel. Die beiden Vorsitzenden der HDP und zehn ihrer Abgeordneten wurden verhaftet, es ist die drittgrößte Partei in der Türkei. Auch da schaute Kılıçdaroğlu weg. Er solidarisierte sich nicht mit der HDP. Er blieb auch fern, als Wähler voller Zorn auf die Straße gingen, weil man ihnen beim Volksentscheid ihre Nein-Stimmen gestohlen hatte.

Landesverräter

Martin Niemöller wurde in der Türkei zitiert: „Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Kommunist. Als sie die Sozialdemokraten einsperrten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Sozialdemokrat. Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Gewerkschafter. Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.“

Was nun den Chef der CHP auf die Straße treibt, hängt mit der einem Vorgang zusammen, der auch mich ins Gefängnis brachte. Als wir die geheimen Waffentransporte des türkischen Geheimdienstes nach Syrien enthüllt und mit Videoaufzeichnungen belegt hatten, klagte man mich als Landesverräter an und forderte verschärfte lebenslange Haft. Am Ende verurteilte mich ein Gericht für diese Enthüllung zu fünf Jahre und zehn Monaten Gefängnis. Später behauptete die Polizei, ein CHP-Abgeordneter habe mir das entscheidende Video zugespielt. Einen Tag, bevor wir die Geschichte veröffentlichten, hatte ich tatsächlich mit dem Vize-Vorsitzenden der CHP telefoniert, Enis Berberoğlu. Die Polizei wertete meine Telefonprotokolle aus und leitete ein Verfahren gegen ihn ein. Gegen mich wurde ein neuer Prozess in gleicher Sache aufgenommen – unter Verletzung sämtlicher internationaler Rechtsnormen. Ich wurde gemeinsam mit meinem Vertreter in Ankara, Erdem Gül, angeklagt. Nun zusammen mit dem CHP-Abgeordneten Enis Berberoğlu.

Am 14. Juni 2017 trennte das Gericht unser Verfahren ab und verurteilte Berberoğlu zu 25 Jahren Gefängnis. Der Vorwurf: „Veröffentlichung von geheimzuhaltenden Dokumenten zwecks politischer und militärischer Spionage“. Berberoğlu wurde vom Fleck weg verhaftet und eingesperrt.

Der Protest

Diese Verhaftung war der eine Tropfen, der für Kılıçdaroğlu das Fass zum Überlaufen brachte.

Denn die regierungsnahe Presse fing an zu behaupten, Berberoğlu habe das Video von Parteichef Kılıçdaroğlu erhalten. Ganz offensichtlich sollte er nun der nächste sein, der ins Gefängnis gebracht werden sollte. Wie würde Kılıçdaroğlu reagieren? Einige Menschen erwarteten, er würde wieder nur eine Pressemitteilung mit sachter Kritik veröffentlichen. Andere erwarteten eine Eingabe bei einem übergeordneten Gericht, dem längst niemand mehr vertraut. Oder würde Kılıçdaroğlu diesmal auf seine Parteibasis hören, die forderte: Wir müssen etwas tun?

Tatsächlich sagte Kılıçdaroğlu: „Das ist unerträglich geworden. Es reicht!“ Damit hatte niemand gerechnet. Er sagte, er werde am 15. Juni vom Stadtzentrum in Ankara aus einen Marsch nach Istanbul starten. In der Hand nur ein Plakat, auf dem „Gerechtigkeit“ steht. Er sagte: „Wer will, kommt mit. Wenn sie es verbieten, sieht die ganze Welt den Skandal.“

Am nächsten Tag warteten die Menschen gespannt auf die Reaktion der Erdoğan-Regierung. Nachts errichteten Baumaschinen Barrikaden auf dem zentralen Platz. Als aber eine große Menschenmenge mit Kılıçdaroğlu eintraf, sah sich die Regierung zum Rückzug gezwungen.

Kılıçdaroğlu brach zu seinem 400-Kilometer-Marsch auf. 28 Tage sollte er dauern und in Istanbul enden, und zwar vor dem Gefängnis Maltepe, in dem Berberoğlu einsitzt.

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Zu Fuß von Ankara nach Istanbul: Der lange Marsch für Gerechtigkeit

Diese Aktion von „Gandhi Kemal“, die an den 400 km langen „Salzmarsch“ des indischen Freiheitskämpfers von 1930 erinnert, machte der schweigenden Opposition in der Türkei auf einen Schlag Beine. Die Menge wuchs Tag für Tag und erreichte bald die Zehntausend. Tagtäglich schlossen sich unterschiedliche Kreise der Gesellschaft – Vertreter anderer Parteien, oppositionelle Organisationen, zivilgesellschaftliche Verbände, Künstler, Schriftsteller – dem Marsch an und solidarisierten sich.

Bei der Regierung schrillten die Alarmglocken.

Erdoğans Zwickmühle

Erdoğan erklärte, Gerechtigkeit könne man nicht auf der Straße finden, und sagte: „Wundern Sie sich nicht, wenn die Justiz Sie vorlädt.“ Das war eine offene Drohung. Hinzu kamen die Provokationen von Regierungsanhängern, die vor den Konvoi des Marsches für Gerechtigkeit Mist kippten und Patronen auf die Straße legten. Doch das steigerte die Anzahl der Mitmarschierenden nur.

Die CHP gibt bekannt, am Wochenende würden eine Million Menschen Kılıçdaroğlu in Istanbul begrüßen.

Erdoğan muss eine Entscheidung treffen.

Entweder lässt er die Marschierenden ungehindert ziehen – und ist gezwungen, die größte gegen ihn gerichtete Aktion mitanzusehen; oder er schneidet dem Marsch den Weg ab – und zeigt der ganzen Welt, dass in der Türkei sogar das Gehen verboten ist.

Kılıçdaroğlu wird just zu dem Zeitpunkt in Istanbul erwartet, an dem Erdoğans Deutschland zum G20-Gipfel besucht.

Für Erdoğan eine Zwickmühle. Während der türkische Präsident in seinem eigenen Land die Meinungs- und Demonstrationsfreiheit behindert, fordert er von Deutschland Rede- und Versammlungsfreiheit. Sollte er den Zug stoppen, wird er erneut an Glaubwürdigkeit und Ansehen einbüßen – national und international.

Doch was passiert, wenn er den Marsch nicht aufhält? Seine Autorität würde erschüttert und der Weg für künftige Demonstrationen geebnet. Schon hat Kılıçdaroğlu erklärt, er werde den Marsch nicht nur bis Istanbul fortsetzen, sondern auch danach weiterziehen. Solange, bis Gerechtigkeit in der Türkei hergestellt ist. „Wir werden stets auf der Straße sein“, sagte CHP-Chef Kılıçdaroğlu.

Es geht nicht nur um Kılıçdaroğlus Führungsqualitäten; es geht um eine Machtprobe mit Erdoğan.

Der Sommer in der Türkei ist heiß.

Und er wird noch heißer.


Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe