EU-Lieferkettengesetz auf der Kippe
Kurz vor der Abstimmung im EU-Parlament droht das geplante EU-Lieferkettengesetz zu scheitern. Eine CSU-Abgeordnete fordert wesentliche Änderungen zugunsten von Unternehmen und sammelt Unterstützer in der eigenen EVP-Fraktion. Damit steht der Vorschlag, der zuvor auch mit der EVP-Fraktion im Ausschuss erarbeitet wurde, auf der Kippe.
Update: Das EU-Parlament hat am Donnerstag mit Mehrheit für ein neues EU-Lieferkettengesetz gestimmt. Die Versuche konservativer sowie einiger CDU/CSU-Abgeordneter, den Entwurf zu verwässern, sind damit gescheitert. Beobachter werten dies als wichtigen Schritt hin zu mehr Verantwortung der Wirtschaft für Menschenrechte und Umweltschutz. Die Abstimmung macht den Weg frei für den sogenannten Trilog aus Parlament, EU-Rat und Kommission.
Eine EU-Politikerin mit auffälligen Nebentätigkeiten versucht offenbar, das geplante Lieferkettengesetz der Europäischen Union (EU) zu torpedieren: Die CSU-Politikerin Angelika Niebler hat mit zwei weiteren Abgeordneten eine Liste von Änderungsanträgen vorgelegt, die den Kompromissentwurf drastisch schwächen könnten.
Dass sich Niebler mit den Vorschlägen durchsetzt, halten Beobachter zwar für fraglich. Möglich ist aber, dass weite Teile ihrer Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP) die jetzige Fassung ablehnen. Damit stünde das gesamte EU-Lieferkettengesetz auf der Kippe. Die Plenarabstimmung über den Entwurf ist für den morgigen Donnerstag geplant.
Der Streit über das EU-Lieferkettengesetz spitzt sich aktuell zu, einige Parlamentarier schlagen Alarm: „Die Änderungsanträge sind vor allem eines: der Versuch der CDU/CSU, Chaos zu stiften und aus einem ambitionierten Lieferkettengesetz einen bedeutungslosen Papiertiger zu machen“, sagt der EU-Abgeordnete René Repasi (SPD).
60 Abgeordnete stärken Niebler den Rücken
Die CSU-Abgeordnete Niebler teilt auf Anfrage von CORRECTIV dazu mit, sie habe auch schon zuvor die „Linie vertreten, dass kleine und mittelständische Betriebe durch die Vorgaben des Lieferkettengesetzes nicht überfordert werden dürfen.“ Ihre Haltung sei also „nichts Neues“. Zudem ihr Rückhalt im EU-Parlament erheblich; mehr als 60 EU-Abgeordnete stünden hinter ihr, vor allem aus der konservativen EVP und der liberalen Fraktion Renew. Weiter schreibt Niebler: „Bei meinen Überlegungen habe ich mich am deutschen Lieferkettengesetz orientiert, das ich für ausgewogener und balancierter halte.“
Das geplante EU-Gesetz soll europäische Unternehmen verpflichten, entlang ihrer Lieferketten für den Schutz von Menschenrechten und Umwelt zu sorgen. Bei Verstößen könnten sie für Folgen von Ausbeutung, Kinderarbeit und Umweltschäden zur Verantwortung gezogen werden. So sieht es der Entwurf vor, den der federführende Rechtsausschuss des EU-Parlaments Ende April vorgelegt hatte; auch die EVP hatte der Fassung zugestimmt. In Deutschland ist Anfang des Jahres ein nationales Lieferkettengesetz in Kraft getreten, das Kritiker als schwach und wirkungslos bezeichnen.
Der Entwurf des EU-Rechtsausschusses galt als relativ weitreichend. Trotz massiven Lobbydrucks sieht er zivile Haftungsregeln und eine Geltung für Firmen ab 250 Mitarbeitern vor. Die Änderungsanträge Nieblers, die CORRECTIV vorliegen, spiegeln Kernforderungen der Wirtschaftsverbände: Zuletzt haben Verbände wie die Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) und der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) die EU-Parlamentarier besonders häufig angeschrieben.
Lukrativer Nebenjob für internationale Kanzlei
In einem Schreiben, das CORRECTIV vorliegt, fordern BDA und BDI, Unternehmen mit weniger als 1.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern komplett von dem Gesetz auszunehmen und die zivilen Haftungsregeln zu streichen. Zudem sollen selbstverpflichtende Initiativen und Branchenstandards bei der Erfüllung der Sorgfaltspflichten „anerkannt“ werden.
Niebler und ihre Mitstreiter treten ebenfalls dafür ein, das Gesetz auf Unternehmen mit 1.000 Angestellten zu beschränken. Die zivilen Haftungsregeln sollen nach den Anträgen zwar nicht wegfallen, aber massiv eingeschränkt werden: Demnach müssten Unternehmen nur bei Vorsatz und grober Fahrlässigkeit geradestehen, und wenn sie die Schäden verursacht haben. Fälle, in denen sich alle drei Punkte nachweisen lassen, halten Experten und Kritiker für schwer vorstellbar. „Dieser Vorschlag ist für uns der besorgniserregendste“, sagt Christopher Patz von der Organisation European Coalition for Corporate Justice, „Niebler versucht, den Zugang von Opfern zu Gerechtigkeit drastisch einzuschränken.“ Die Möglichkeit, Unternehmen zu verklagen, würde mit der Regelung praktisch blockiert.
Brisant wirken diese Vorschläge im Hinblick auf Nieblers Nebentätigkeiten: Die CSU-Politikerin ist als Beraterin im Münchner Büro der Anwaltsfirma Gibson, Dunn & Crutcher tätig. Nach eigenen Angaben verdient sie dort monatlich zwischen 1.001 und 5.000 Euro; auf der Website der Kanzlei heißt es: „Frau Niebler berät Unternehmen mit europäischen und globalen Interessen rechtlich und strategisch zu europäischem und internationalem Recht.“ Die Firma gehört zu den umsatzstärksten Kanzleien der Welt und vertritt internationale Großkonzerne wie den Ölgiganten Chevron oder Dole Food.
Widerstand gegen das EU-Lieferkettengesetz wächst
Kritiker sehen darin einen Interessenkonflikt, die Abgeordnete äußert sich zu dem Vorwurf auf Anfrage nicht. Strittig sind auch weitere ihrer Nebentätigkeiten: Die EU-Politikerin ist Präsidentin des Wirtschaftsbeirats Bayern und verdient zwischen 1.001 und 5.000 Euro als Mitglied im Kuratorium der TÜV Süd Stiftung. Auch dies ist mit Blick auf das EU-Lieferkettengesetz pikant: Der TÜV Süd geriet wegen seiner Rolle bei dem Dammbruch im Eisenerzbergwerk Brumadinho 2019 in die Kritik, bei dem 270 Menschen starben. Eine TÜV-Tochter hatte den Damm kurz zuvor als sicher zertifiziert.
Kurz vor der Abstimmung im Europaparlament wächst auch in der Wirtschaft der Widerstand gegen das geplante EU-Lieferkettengesetz: Thilo Brodtmann, Geschäftsführer vom Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbauer, appellierte an die EU-Parlamentarier, der aktuellen Fassung des Gesetzes nicht zuzustimmen: Es sei Zeit, die „Notbremse“ zu ziehen. Die IG Metall dagegen warb für den Entwurf und sprach sich dafür aus, den Kompromisstext „ohne weitere Abschwächung“ zu verabschieden.