Kind im Brunnen

Kind im Brunnen: Kommunikationsdesaster mit falschen Zahlen

Kinder bedeuten Zukunft. Unterstützung und Chancengleichheit für die nächste Generation entscheiden über den Erfolg eines Landes. Wie ist es um die Jugendhilfe in NRW bestellt – mit der Betreuung durchs Jugendamt? Was hat Krafts Prestigeprojekt „Kein Kind zurücklassen!“ erreicht? Und was muss nach fünf Jahren rot-grüner Regierung kommen? Zusammen mit einem erfahrenen Sozialarbeiter haben wir seit Monaten recherchiert. Die Ergebnisse haben den Umfang eines Buches angenommen. „Kind im Brunnen“ – die exklusive Serie zum Buch. Heute: Kommunikationsdesaster mit falschen Zahlen (III)

von Christoph Schurian

© Vincent Burmeister

Hannelore Kraft hatte bei der AWO-Konferenz am Ende noch einmal geworben für „KeKiz“, das jetzt in einer zweiten Phase ausgeweitet werde auf 40 Kommunen – und damit auf 60 Prozent der Kinder und Jugendlichen in NRW. Dennoch brauche man den „langen Atem“, bis man die Ergebnisse der vorbeugenden Politik sehen könne. So vorsichtig haben das die Landesspitze und Hannelore Kraft nicht immer formuliert. Der Sozialforscher Peter Strohmeier kann ein Lied davon singen.

Das heißt, er könnte es. Wenn es der Sozialwissenschaftler nach einigem Hin und Her nicht vorgezogen hätte, seine Aussagen aus einem langen Gespräch nicht freizugeben und die Verwendung zu untersagen. Strohmeier schreibt: „Wie ich mich erinnere, sollte ihr Buch ja kurzfristig noch vor der Landtagswahl erscheinen. In diesem Zusammenhang sehe ich die Gefahr, in einer Weise instrumentalisiert zu werden, die mit meinen Einstellungen und Absichten nicht übereinstimmt.“ Es ist also Druck auf dem Kessel vor den Wahlen Mitte Mai.

Die Folgen unserer Serie „Kind im Brunnen“

Folgen, die erschienen sind, werden verlinkt. Die ausstehenden Folgen veröffentlichen wir in den kommenden Wochen.

  1. Der Auftakt

  2. Politik mit dem Rechenschieber

  3. Ein Kommunikationsdesaster

  4. Aufstieg und Fall der Sozialarbeit

  5. Die Akte Jasmin

  6. Späte Hilfen

  7. 22 Millionen Chancen

  8. Unfreie Träger

  9. Flüchtlinge im Jugendamt

  10. Helikopter Staat

  11. Die Guten

  12. Fiedlers Traum

Klaus Peter Strohmeier werden wir aber nicht komplett rauslassen können. Das Gespräch kann er nicht ungeschehen machen. Es hat stattgefunden. Wörtlich zitieren wir den Professor aber aus frei zugänglichen Quellen, seine wiederholt und öffentlich geäußerte Kritik an der Landesregierung kann er ebenfalls nicht ungeschehen machen.

Strohmeier ist der emeritierte Leiter des Zentrums für interdisziplinäre Ruhrgebietsforschung an der Ruhr-Universität Bochum und der Experte für den Sozialraum Ruhrgebiet. Er hat ihn vielleicht sogar erfunden. Seit Anfang der 1990er Jahre forscht er zur Lage der Region, etwa zur Auflösung von klassischen Arbeiterfamilien im Ruhrgebiet, zur Verteilung von Armut und von Reichtum im Revier.

Strukturwandel hat nicht nur gute Seiten

Heute gehört die sozialräumliche Analyse, die Beschäftigung mit Segregation sogar zum Lehrstoff für angehende Immobilienmanager. Strohmeier gibt für sie Lehrveranstaltungen an der privaten EBZ-Business School der deutschen Immobilienwirtschaft in Bochum. Aus dem Besprechungsraum sieht man in eine matschige Baugrube, die Business-School baut ein Hörsaalzentrum – die gute Seite des Strukturwandels.

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Unser Buch zur Serie „Kind im Brunnen“ kann in unserem Shop bestellt werden.

Von der schlechten wollte anfangs kaum jemand etwas wissen. Als Nordrhein-Westfalen 50 Jahre alt wurde, 1996, hat Strohmeier mit einem Kollegen einen Text geschrieben in einem Aufsatzband zum Ruhrgebiet. Es wurde ein Plädoyer zum Hinsehen auf eine Region, die durch den Wegfall von hunderttausenden Arbeitsplätzen in der Schwerindustrie von steigender Armut und steigenden Belastungen für die kommunalen Haushalte geprägt ist, von weniger Kindern, aber mehr armen Kindern. Nach einem Vortrag zum „Sozialraum Ruhrgebiet“ hieß es im Umfeld der damaligen NRW-Familienministerin Ilse Brusis (SPD), der Strohmeier rede den Strukturwandel kaputt.

Dabei stammt Strohmeier selbst aus dem Ruhrgebiet, ist stolzes Kind einer Bergmannsfamilie und seit den 1970er Jahren Mitglied der SPD. Die nicht immer harmonische Beziehung zu seiner Partei wurde in den letzten Monaten erneut auf eine Probe gestellt. Der Anlass: Das Landesprogramm „Kein Kind zurücklassen!“.

Richtige Ziele, schlechte Umsetzung

Strohmeier kennt „KeKiz“ wie wenige andere. Schon lange vorher hat er Themen wie kommunales Familienmanagement oder „Audit – familiengerechte Kommune“ auf den Weg gebracht. Grundlage seines Ansatzes sind Zahlen, Daten, Fakten, evidenzbasiertes Arbeiten.

Er war in der ersten Phase zwischen 2012 und 2016 für die Evaluation verantwortlich. Heute steht er immer noch voll hinter KeKiz, findet den Ansatz richtig, die Arbeit mit den Kommunen, die wissenschaftliche Begleitung. KeKiz solle unbedingt auf das ganze Land ausgeweitet werden, sagt er. Die Ziele seien richtig, die Beispiele aus den Kommunen machten Hoffnung. Weniger Lob hat Strohmeier allerdings für die Arbeit der Landesregierung übrig: „Die Bewegung in den Kommunen hat mich beeindruckt, eine kritische Haltung habe ich jedoch zur weitgehend unveränderten Praxis auf der Landesebene.“

„Kein Kind zurücklassen! Kommunen in NRW beugen vor“ startete 2012 mit 18 Kommunen, 18 Prototypen, florierende Großstädte wie Münster, schrumpfende Städte wie Gelsenkirchen, ländliche Zonen wie der Kreis Warendorf. Anders als es der Infinitivsatz nahelegt, geht es bei „Kein Kind zurücklassen“ nicht darum, mit dem Einsatz von sehr viel Fördergeld keine Kinder mehr zurückzulassen. Die Sache ist pädagogischer, nachhaltiger angelegt. In der ersten Projektphase wurden acht Millionen bereitgestellt – hiervon gelangte nur ein geringerer Teil an die Kommunen, der Löwenanteil ging an ISA Münster und die Bertelsmann-Stiftung. In der zweiten Phase sind es sogar nur noch vier Millionen (aber dafür 40 Kommunen).

Erfolge der Landesregierung?

Die Teilnehmergemeinden bekommen Zuschüsse für Koordinationsarbeit und werden Teil eines „Lernnetzwerks“. Unterstützt von Wissenschaftlern und Landesregierung soll gutes Aufwachsen für alle Kinder stärker in den Fokus rücken: Wie möglichst viele Familien mit frühen Hilfen erreicht werden, wie möglichst viele Kinder, möglichst früh die Kita besuchen, wie mehr die Schulübergänge und Abschlüsse schaffen. So genannte „Präventionsketten“ sollen geschmiedet werden. Und das zuallererst zwischen den kommunalen Einrichtungen, die mit den Belangen von Kindern und Jugendlichen zu tun haben. Denn bisher ziehen Jugendamt, Schulamt, Sozialamt, Sportamt, Kulturdezernat, Grünflächenamt und Gesundheitsamt nur selten an einem Strang. Pardon: einer Präventionskette.

Peter Strohmeier befasst sich seit Jahrzehnten mit sozialen Randlagen, mit Kinderarmut und deren Folgen. Dass die mit „KeKiz“ für Ministerpräsidentin, für Staatskanzlei und die gesamte Landesregierung an zentraler Stelle stehen, freut den Sozialforscher. Endlich ist ganz oben angekommen, dass Kinder das höchste Armutsrisiko haben; dass es immer weniger Kinder gibt, aber immer mehr sozial abgehängte Kinder. Doch die Führungsebene in Düsseldorf hat den Professor nach vier Jahren KeKiz nicht nur Freude gemacht. Damit die kommunalen Akteure enger zusammenarbeiten, brauche es starke Bürgermeister, so Strohmeiers Analyse. Querschnittspolitik sei in vielen Ämtern nicht sehr populär, trotzdem gebe es gute Beispiele, gute Bürgermeister, die sich auf den Weg gemacht hätten. Und die Landesregierung?

„Viele Kommunen sind deutlich weiter als die Landesregierung“, so der Wissenschaftler – bei den Kommunen werde ressortübergreifendes Arbeiten gefördert, die Landesregierung selbst habe aber „erhebliche Kooperationsdefizite zwischen den Ressorts“. Widerstände seien nicht überwunden worden. Die beiden grünen Häuser, das Gesundheitsministerium und das Schulministerium, müssten stärker mitmachen. Doch von den beiden wichtigen Häusern hat das Projekt nur wenig Unterstützung erhalten.

Der Zahlen-Eklat

Ein zweites Hindernis für die erfolgreiche Umsetzung von KeKiz ist nicht nur für Strohmeier die Konkurrenz. In Düsseldorf gibt es Parallelprojekte in der Landesregierung mit ähnlichen Themen und Zielen. Das Gesundheitsministerium betreibt „Gesund aufwachsen“, das Bauministerium „Starke Quartiere, starke Menschen“, das Wissenschaftsministerium fördert „Integrierende Stadtpolitik“ und das Arbeitsministerium verantwortet „Kein Abschluss ohne Anschluss“. Und alle diese Projekte sind vom Finanzvolumen weit besser ausgestattet als KeKiz, das so genannte „Leitprojekt“ von Landesregierung und Hannelore Kraft.

Zum Eklat zwischen dem evaluierenden Professor und der Staatskanzlei kam es bereits im September 2016. Auch da ging es um Zahlen. Im Landtags-Ausschuss wurde der Abschlussbericht der ersten Phase von KeKiz vorgestellt. Einer der Berichterstatter war Strohmeier, der die Erfolge in den Kommunen lobte und für das Projekt als Regeleinrichtung warb. Was Strohmeier und die anderen Berichterstatter den Parlamentariern nicht vorlegten, nicht vorlegen konnten und wollten, waren exakte Summen, wie viel durch die neue, vorbeugende Politik denn schon eingespart worden sei. Für die Opposition nahm Marcel Hafke den Ball auf. Der fiskalische Ansatz von „Kein Kind zurücklassen!“ und vorbeugendem Politikansatz sei von Ministerpräsidentin Hannelore Kraft aber stets betont worden, sie habe damit sogar höhere Schulden im Landeshaushalt begründet.

Der FDP-Abgeordnete zitierte dann aus einer Broschüre zu KeKiz, die 2014 von der Staatskanzlei herausgegeben wurde. Darin wurden genaue Ersparnisse genannt: „Seit fünf Jahren keine Inobhutnahmen mehr von Kindern unter 14 Jahren in Arnsberg-Moosfelde. Einspareffekt: 30.000 Euro“. Auch Bielefeld (2,7 Millionen), Gelsenkirchen (130.000 Euro), Oberhausen (500.000), Hamm (100.000) und dem Kreis Warendorf (430.000) wurden als erfolgreiche Sparkommunen aufgeführt. Strohmeier distanzierte sich im Ausschuss sofort und scharf von der Broschüre aus der Staatskanzlei: „Nichts von den Daten ist Teil der wissenschaftlichen Begleitforschung (…) Ich kenne diese Zahlen nicht.“

Das Kommunikationsdesaster im Landtagsausschuss kann Strohmeier bis heute nicht verstehen: Die Zahlen seien falsch gewesen, schimpft er. Wenn behauptet werde, es würden schon jetzt Millionen eingespart, dann stimme das einfach nicht: „Es gibt genug gute Gründe, in den Nachwuchs und in die Familien im Lande zu investieren, auch wenn sich das erst langfristig rechnen wird und wenn nicht jeder Kämmerer etwas davon merken wird“, so Strohmeier – die Landesregierung müsse sich hier „endlich ‚ehrlich‘ machen“.