Kind im Brunnen: Späte Hilfen
Kinder bedeuten Zukunft. Unterstützung und Chancengleichheit für die nächste Generation entscheiden über den Erfolg eines Landes. Wie ist es um die Jugendhilfe in NRW bestellt – mit der Betreuung durchs Jugendamt? Was hat Krafts Prestigeprojekt „Kein Kind zurücklassen!“ erreicht? Und was muss nach fünf Jahren rot-grüner Regierung kommen? Zusammen mit einem erfahrenen Sozialarbeiter haben wir seit Monaten recherchiert. Die Ergebnisse haben den Umfang eines Buches angenommen. „Kind im Brunnen“ – die exklusive Serie zum Buch. Heute: Späte Hilfen (VI)
Es gibt viele Jasmins, viele Familien Schneider. Werner Fiedler hat dutzende Geschichten im Kopf. Sie lassen ihn nicht los.
Nach seiner Zeit im Jugendzentrum in Ellinghorst wechselte er an einen Schreibtisch im Jugendamt. Fünf Jahre arbeitete der gebürtige Bottroper im Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) Gladbeck, dann in der Jugendpflege. Zwischen 1997 und 2005 war er als Abteilungsleiter im Jugendamt der Stadt zuständig für die kommunale Jugendhilfe, außer den Kindergärten. Seit Frühjahr 2017 ist Fiedler Rentner.
Die Folgen unserer Serie „Kind im Brunnen“
Folgen, die erschienen sind, werden verlinkt. Die ausstehenden Folgen veröffentlichen wir in den kommenden Wochen.
Vierzig Berufsjahre haben ihn geprägt, die traurigen Schicksale, aber auch Menschen, die in ein normales Leben gefunden haben. Er kann jetzt die Zeit mit seiner Frau und den Enkeln verbringen, dem Hund, dem Boot in Holland, den lieben Gott einen guten Mann sein lassen. Doch Fiedler bleibt Sozialarbeiter. Der Fall ist nicht erledigt. Zu viel läuft falsch in der Jugendhilfe, nicht nur in Gladbeck. Als Rentner will er nicht mehr Rücksicht nehmen, muss niemanden schonen, sich selbst auch nicht.
Familie Schneider steht für Fiedler exemplarisch für das „Systemversagen der Jugendhilfe“. Das Jugendamt hatte hier eigentlich einen Vorsprung: Die Familie fällt früh auf, der Sohn ist noch ein Kleinkind, die Tochter Jasmin nicht auf der Welt. Auch die Probleme der Familie – Depressionen, Sucht, Verwahrlosung – sind bekannt. Trotzdem wird abgewartet. Ein Familienhelfer kommt nach Jahren hinzu, die Erziehungshilfe startet, als Daniel und Jasmin auf die Schule gehen. Dabei entscheiden die frühen Jahre, über die Fähigkeit zu lernen, sich auszudrücken, sich zu bewegen. Ob Kinder die Regelschule schaffen, eine Ausbildung. Oder ob sie abgehängt werden, geparkt auf einer Förderschule, bis die Schulpflicht abgelaufen ist.
Lehren aus der Hirnforschung
„Wir müssen früh einsteigen, und wir müssen die Familien erhalten und nicht ersetzen“, sagt Fiedler und erinnert an eine Langzeituntersuchung aus England. Neben ihm stapeln sich Aufsätze, Strategiepapiere, Statistiken zu einem Papierturm, einer Gedankenstütze. Frühe Hilfen sind eine Lehre aus der Entwicklungsbiologie, der Hirnforschung – wie und wann sich Kinder einrichten im Leben. Auf der Insel haben sie das dreißig Jahre lang empirisch untersucht. Bis zum sechsten Lebensjahr wirkten Hilfsangebote „außerordentlich gut“ – danach nehme der Einfluss ab, gehe schließlich gegen Null, sagt Fiedler: „Was willst du einem 14-Jährigen noch groß erzählen?!“
Das ist nicht nur in England common sense, auch in Deutschland. Wenn Kinder aus prekären Lebensverhältnissen, aus Elternhäusern mit geringer Schulbildung bereits mit drei Jahren oder jünger in eine Kita gehen, machen sie noch in einem Sportverein mit, sind ihre Entwicklungschancen doppelt so gut. Bei Kindern aus zugewanderten Familien mit geringen Deutschkenntnissen ist der Unterschied noch eindeutiger: Statt 75 Prozent kommen von den frühen Kita-Besuchern nur noch ein Drittel mit mangelhaftem Sprachvermögen auf die Grundschule.
Noch bedenklicher als die späte Hilfe für Jasmin findet Fiedler die Haltung des Fachpersonals. „Die Sozialarbeiter spielen ‚Lieber Gott‘“, sagt er. „Dabei kann es keine Hilfe gegen jemand geben.“ Sie meinen es besser zu wissen als die Betroffenen.
Die Willkür der Ämter
Jasmin soll in der Tagesgruppe bleiben, auch wenn sie nicht will, Jasmin soll fest ins Heim, obwohl die Familie dagegen ist, über ihr Schicksal und die Entmachtung der Eltern wird in einer Sitzung gesprochen, an der das Mädchen nicht teilnimmt. Ein Gutachten zur Überprüfung der Erziehungsfähigkeit der Eltern wird vor Gericht beantragt, ohne Mutter oder Vater darüber vorher zu unterrichten. „Das Ausmaß an Partizipation ist sehr bescheiden“, knurrt Fiedler. Dabei sei Partizipation im Sozialgesetzbuch vorgeschrieben und ein Schlüsselbegriff für die gute Jugendarbeit.
Fiedler spricht offen von „Willkür“ der Jugendämter und Sozialarbeiter des Allgemeinen Sozialen Dienstes (ASD). Diese Willkür ist ein Grund, warum er noch keinen Strich unter sein Arbeitsleben ziehen will, warum seine Bilanz so düster ausfällt.
Fiedler kennt sich in den Niederlanden gut aus. Da stehe das Kind und die Familie wirklich im Vordergrund. Die Gespräche fänden zuhause statt, die Familie entscheide, wer teilnimmt, welche Hilfen sie möchte und welche nicht. Im Zweifelsfall könnten sie die Sozialarbeiter auch außen vor lassen. Fünfzig Jahre nach der Heimkampagne gegen die Fürsorgeknäste wird in Deutschland immer noch nicht auf Augenhöhe mit Menschen umgegangen. Fiedler: „Ich weiß nicht, was das ist? Ein therapeutischer Ansatz? Von einer Stadtverwaltung?“
Es dürften sich dahinter auch die gewachsenen Sorgen um das Wohl von Kindern verbergen. 2008 trat ein neues Bundesgesetz in Kraft, das familiengerichtliche Maßnahmen erleichtert und die Wächterfunktion des Jugendamtes stärkt. Es war eine der vielen Reaktionen nachdem Anfang des Jahrtausends mehrere Kleinkinder trotz Betreuung des Jugendamtes ums Leben kamen, verhungert, zu Tode geprügelt, massiv misshandelt.
Damoklesschwert über Sozialarbeitern
Die tragischen Lebensgeschichten von Jessica oder Kevin führten zu Mordprozessen gegen Elternteile, aber auch zu Fragen an die Jugendämter. Kommunen, Politik und Gesellschaft sind seither in einem Alarmzustand. Im Zweifelsfall kommen alle Maßnahmen der Erziehungshilfe zur Anwendung bis zur Inobhutnahme, zum Entzug des Kindes – um sich im Nachhinein nicht vorwerfen zu lassen, zu wenig getan zu haben. Die Sorge um das Kindeswohl hängt wie ein „Damoklesschwert“ über den handelnden Personen, sagt Fiedler, sagen Kollegen aus anderen Jugendämtern, berichten Sozialarbeiter, die für freie Träger in den Familien arbeiten. Es herrscht eine Mischung aus neuer Achtsamkeit und hastigem Alarmismus.
Welche Auswirkungen die Zunahme von „Hilfen zur Erziehung“ bis zur „Inobhutnahme“ auf die betroffenen Kinder und Familien haben, ist bislang unbekannt. Quantitativ ist das rasante Wachstum in der Jugendhilfe, die Vielzahl von Maßnahmen nicht zu übersehen.
Die auch dadurch zunehmende Ohnmacht von Eltern und Kinder gegenüber den Jugendämtern haben Werner Fiedler „tief erschüttert“. Es ist eine Ohnmacht mit vielen Facetten: Kinder, die bei Adoptiveltern leben, werde trotz Nachfragen vom Jugendamt auf Jahre vorenthalten, wer ihre leiblichen Eltern sind. Sozialarbeiter verhinderten den Kontakt zum leiblichen Elternteil. „Dabei haben Kinder ein Recht auf Eltern, ein Recht auf ihre Wurzeln“, sagt Fiedler. Die Ämter handelten nicht selten nach Gutsherrenart.
Fiedler erinnert sich an einen alleinerziehenden Vater, dem seine Kinder in einer Geheimaktion weggenommen wurden: Das Kleinste wurde um neun Uhr früh in der Kita abgeholt, zeitgleich die anderen Kinder aus der Schule. Lehrer, Kindergärtner seien nicht gefragt worden, es hätte ja durchsickern können. Der Vater sei erst nach dem Zugriff informiert worden, „Gott sei Dank, hat er ruhig reagiert“.
Geht es nur um Selbstschutz?
Natürlich waren es schwierige Lebensumstände, ein Vater, vier Kinder, der „Papa kiffte und soff“, wurde gesehen, als er spät abends angetrunken aus einer Kneipe kam – mit den Kindern. Trotzdem, fragt sich Fiedler, in welcher Maßlosigkeit wird da in Familien hinein regiert?! Geht es wirklich ums Kindeswohl oder um den Selbstschutz von Sozialarbeitern, Jugendamt und Stadtspitzen?
Überforderte Eltern, suchtkranke Eltern, selbst Eltern, die ihre Kinder schlagen, bleiben Eltern, sagt Werner Fiedler. Trotz Vernachlässigung, trotz Gewalterfahrungen würden fast alle den Wunsch haben, ihre Eltern regelmäßig zu sehen, auch wenn sie ihnen Böses angetan haben. „Das zu ermöglichen, ist Partizipation – es muss einen Beteiligungsprozess geben“, meint Fiedler. Familien werden zu wenig befähigt, Entscheidungen über ihre Zukunft selbst zu treffen.
Immer schneller werde das Familiengericht angerufen, ob bei Familie Schneider oder im Fall der „Familie A“. Auch sie haben eine Familiengeschichte mit Problemlagen, Sucht, Gewalt. Auch die Eltern A. wurden ins Rathaus zitiert, wo ihnen erklärt wurde, „dass sie nicht in der Lage sind, ihren Kindern gerecht zu werden“. Vor Gericht bat der Sozialarbeiter vom Allgemeinen Sozialen Dienst um den Entzug der elterlichen Sorge. Der Richter beauftragt – wie bei den Schneiders – einen Gutachter, der die Erziehungsfähigkeit beurteilen soll. Für Fiedler taugt das nur selten etwas.
„Mindestens die Hälfte der Gutachten sind das Papier nicht wert, auf dem sie stehen“, sagt er. Es gebe keine verbindlichen, einheitlichen Kriterien, die Aufträge sind mit bis zu 30.000 Euro pro Prüfung sehr lukrativ und zumeist werden die Entscheidungen des Familiengerichts und des Jugendamtes legitimiert. „Die Erziehungsunfähigkeit wird in der Regel bestätigt“, weiß Fiedler. Das liege auch an oberflächlichen Recherchen.
Die Gutachter bezögen sich vor allem auf die vom Jugendamt geführten Akten, danach führen sie einige Gespräche mit Eltern und Kindern, seltener mit Dritten. Trotzdem werde den Gutachten eine „enorme Bedeutung“ zugesprochen, auch von den Eltern: Die sehen den erfahrenen Psychologen mit Doktortitel und sind eingeschüchtert, sagt Fiedler – „welche Macht das ist, wie hilflos die Eltern dagegen stehen!“