Kind im Brunnen: 22 Millionen Chancen
Kinder bedeuten Zukunft. Unterstützung und Chancengleichheit für die nächste Generation entscheiden über den Erfolg eines Landes. Wie ist es um die Jugendhilfe in NRW bestellt – mit der Betreuung durchs Jugendamt? Was hat Krafts Prestigeprojekt „Kein Kind zurücklassen!“ erreicht? Und was muss nach fünf Jahren rot-grüner Regierung kommen? Zusammen mit einem erfahrenen Sozialarbeiter haben wir seit Monaten recherchiert. Die Ergebnisse haben den Umfang eines Buches angenommen. „Kind im Brunnen“ – die exklusive Serie zum Buch. Heute: 22 Millionen Chancen (VII)
Alle drei Jahre wird der deutsche Kinder- und Jugendhilfetag veranstaltet. Ende März 2017 versammelt sich die Branche in Düsseldorf zu Kongress und Messe – wenn man das überhaupt so nennen kann. Es treffen sich dort ja fast nur staatliche oder gemeinnützige Organisationen. An den Messeständen des Jugendamtes Neuss, den Stehtischen von Paritätischem, Rotem Kreuz oder der Alevitischen Gemeinde Deutschlands geht es nicht um die neuesten Produktkataloge, Zulieferverträge oder die Unterzeichnung eines „Letter of Intent“ mit einem Investor bei einem Glas Champagner. Um viel Geld geht es trotzdem.
Die Folgen unserer Serie „Kind im Brunnen“
Folgen, die erschienen sind, werden verlinkt. Die ausstehenden Folgen veröffentlichen wir in den kommenden Wochen.
Die Kinder und Jugendhilfe boomt. Die Aufwendungen für Jugendhilfe betrugen im vergangenen Jahr bundesweit mehr als 41 Milliarden Euro. Die Summe hat sich seit dem Jahr 2000 mehr als verdoppelt. Zwei Drittel der Ausgaben werden von den Kommunen aufgebracht, 29 Prozent von den Bundesländern, der erkleckliche Rest kommt vom Bund.
Mehr als die Hälfte wird in Kitas und Kindergärten gesteckt. Immerhin mehr als zehn Milliarden, und damit rund ein Viertel, entfallen auf Erziehungshilfen, also die vom Jugendamt verantworteten Angebote für Kinder und Jugendliche von der Erziehungsberatung bis zur stationären Heimunterbringung. Die Vorsitzende der bundesweiten Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe, die gebürtige Oberhausenerin Karin Böllert, spricht von einem „enormen“ Arbeitsmarkt: „Von der Kita-Erzieherin bis zum Heimerzieher, vom Streetworker bis zum Sozialarbeiter im Jugendklub arbeiten mehr als 760.000 Menschen in der Kinder- und Jugendhilfe – und damit so viele wie in der gesamten deutschen Bauwirtschaft und nahezu so viele wie in der deutschen Automobilindustrie.“ Enorm trifft es.
Markt der Möglichkeiten
Enorm selbstbewußt ist auch das Motto des Jugendhilfetags „22 Millionen Junge Chancen“. Alle in Deutschland lebenden 22 Millionen jungen Menschen unter 27 Jahren sind eine gewaltige Zielgruppe mit Millionen-Chancen für die Jugendhilfemacher. Aber natürlich ist es so nicht gemeint, sondern sozialpädagogischer: Jeder junge Mensch ist eine Chance für die Gesellschaft, jedem einzelnen solle eine Chance gegeben werden. Und die Jugendhilfe will dabei sein – von der Schwangerschaft bis zum Berufsleben, vor allem aber in der Phase zwischen drei und sechs. In diesem Alter besuchen mehr als 90 Prozent der Kinder in Deutschland einen Kindergarten oder eine Kita.
Der Jugendhilfetag ist eine Messe ohne Dresscode, Aktenrollkoffer und After-Shave-Wolken. Ein Markt der Möglichkeiten. Am Stand einer Initiative der Flüchtlingsarbeit werden gemeinsam afrikanische Armbänder geknüpft. Jugendämter – aus Nordrhein-Westfalen stellen sich allein mehr als 20 vor – zeigen einen Medienparcours oder veranstalten Kopfhörerdiskos mit Infoclips. Der Bundesverband für individual- und Erlebnispädagogik wirbt mit dem Satz „wir be-rühren“ für seine intensiven Hilfsmaßnahmen für besonders schwierige Jugendliche im In- und Ausland.
Sarah Wieners Stiftung stellt das Präventionsprojekt „Ich kann kochen“ vor mit einem jungen vollbärtigen Koch-Erzieher. Überall bei den Ausstellern steht ein Teller mit Gummibärchen und Lollis. Die Jüdische Wohlfahrtsorganisation verteilt koschere Erdnussflips aus Israel. Doch der meiste Betrieb herrscht, wo Kaffee ausgeschenkt wird, noch mehr, wo eine italienische Kaffeemaschine zum Einsatz kommt. Es ist eine Jugendmesse für Erwachsene.
Krafts Grundsatzrede
„gemeinsam gesellschaft gerecht gestalten“ lautet die Unterzeile des Branchentreffs, ein Motto zum Unterhaken wie auf dem Kirchentag. In der Düsseldorfer Stadthalle sind es zur feierlichen Eröffnung des Jugendhilfetages lange Wege für die drei Redner entlang einer endlosen Bühne. Aber es wird kein Spießrutenlauf für den Oberbürgermeister, nicht für Hannelore Kraft und erst recht nicht für Familienministerin Manuela Schwesig, alle SPD. Fröhlich wird Thomas Geisel empfangen, als Vater von fünf Töchtern. Sehr laut wird geklatscht für eine Gesetzgebungsinitiative von Nordrhein-Westfalen, die Rechte von Kindern ins Grundgesetz schreiben zu lassen – nach 25 Jahren Diskussion.
Am lautesten fällt der Applaus für Bundesministerin Schwesig aus und ihre „Grundsatzrede“ zu den Perspektiven von Kinderschutz und Jugendhilfe und zur Novelle des Jugendhilfegesetzes: Der Schutz der Kinder wird gestärkt, Kinderärzte sollen mehr mitarbeiten. Bei akuter Kindeswohlgefährdung ist ihnen seit 2012 erlaubt, die Schweigepflicht auszusetzen und das Jugendamt zu informieren. Nun sollen sie erfahren, wie es weitergegangen ist mit dem betroffenen Kind.
Die „rechtlich unsichere Situation“ von Kindern in Pflegefamilien soll verbessert werden durch die Stärkung der Rechte von Pflegeeltern. Schwesig setzt auf „dauerhafte Perspektiven“, damit die Kinder „nicht wieder zurück in das gleiche Martyrium müssen“. Schließlich, und da steigert sich der Beifall, werde auch im neuen Jugendhilfegesetz, das noch in dieser Legislaturperiode verabschiedet werden soll, an den „Hilfen zur Erziehung“ nichts geändert.
Die Geschäftsgrundlage der gesamten Branche bleibt unangetastet, Erleichterung.
Die 106 Paragraphen des achten Sozialgesetzbuches, allen voran die Paragraphen 27 folgende sind so etwas wie eine Parallelwährung für Ämter und gemeinnützige Sozialunternehmen, die so genannten freien Träger. Es sind Dickfische darunter wie der Paritätische, AWO und Caritas. Aber allein in NRW gibt es auch viele hundert kleinere Firmen, die sich auf die Umsetzung von „Hilfen zur Erziehung“, etwa die sozialpädagogische Familienhilfe spezialisiert haben. In den letzten Jahren waren sie alle auf Wachstumskurs. Reden wollen sie über die Arbeit nicht so gern. Das hat gute Gründe. Vor allem die kleineren Marktteilnehmer sind das letzte Glied der Kette, der Präventionskette.
Die Jugendämter brauchen und buchen Dienstleistungen. Aber noch mehr sind diese Sozial-Start-Ups auf die Beauftragungen angewiesen, auf einen guten Draht zu Sozialarbeitern und Entscheidern des Allgemeinen Sozialen Dienstes. Die Kinder- und Jugendhilfe, in den Worten der Vorsitzenden des Jugendhilfetags „die Zukunftsbranche“, ist eine Branche aus vielen Abhängigkeiten und Hierarchien.