Die Alte Apotheke – Das Ende des Schweigens
Als der Apotheker Peter S. Ende November 2016 in Bottrop festgenommen wurde, konnte sich niemand vorstellen, dass die Vorwürfe stimmen könnten. Peter S. soll über Jahre Krebsmedikamente zu niedrig dosiert oder gar ohne Wirkstoff abgegeben haben. Tausende schwerkranke Menschen könnten betroffen sein. Ein Schock. Bis dahin kannten die Bottroper den Apotheker der Alten Apotheke als karitativen Sponsor, als treibende Kraft im Förderverein des Hospizes. Recherchen von CORRECTIV mit dem ARD-Magazin Panorama zeigen nun, dass sich der Skandal zu einem der größten Medizinskandale der Nachrkriegszeit entwickelt. Jetzt reden die Zeugen.
Bisher haben sich die beiden Mitarbeiter der Alten Apotheke nicht öffentlich geäußert, deren Angaben im Herbst 2016 die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Essen ausgelöst haben.
Martin Porwoll begann 2014 als kaufmännischer Leiter in der Alten Apotheke – einem der wichtigsten Arbeitgeber in Bottrop, mit rund 90 Mitarbeitern zahlte die Alte Apotheke fast so viele Gewerbesteuern wie die letzte Zeche der Stadt. Porwoll sagt: „Ich wollte erst sicher sein, dass die Taten im Vordergrund stehen, und nicht ich als Person.“ Der Chef der Alten Apotheke, Peter S., war ein Freund von Porwolls Familie – beide sind zusammen aufgewachsen, beide gingen in das Heinrich-Heine-Gymnasium. „Als ich in der Apotheke anfing, hörte ich immer wieder Gerüchte von Kollegen, dass Peter Infusionen zu niedrig dosiere.“ Anfangs denkt Porwoll, an den Gerüchten könne nichts dran sein – und sucht nach einem Weg, sie zu entkräften. Dann beginnt er langsam zu zweifeln, weil er immer mehr Hinweise darauf entdeckt, dass Peter S. in seiner Apotheke grundlegende Sicherheitsregeln missachtet.
Sendehinweis:
Einen ausführlichen Bericht zum Fall des Bottroper Skandalapothekers sendet das ARD-Magazin Panorama am Donnerstag, 29. Juni 2017, um 23:30 Uhr: „Lebensgefährliche Gier – Chemotherapien ohne Wirkstoff“
Maria-Elisabeth Klein hat im Labor der Alten Apotheke gearbeitet. Sie stellt seit 17 Jahren Krebsmittel-Infusionen her, sie kennt die Regeln: „Mir sind als erstes die krassen Hygiene-Mängel aufgefallen“, sagt sie. „Peter S. ging mit Straßenkleidung ins Reinraumlabor, in Sakko und Hemd.“ Ein Verstoß gegen Sicherheitsmaßnahmen. Normalerweise muss man den Reinraum durch eine Schleuse betreten, zieht sterile Kleidung an und desinfiziert sich. Keimfreiheit ist zwingend, denn während einer Krebstherapie ist das Immunsystem der Patienten so heruntergefahren, dass jede Infektion ein tödliches Risiko darstellt. Eine Krankheit, übertragen durch ein verschmutztes Medikament, kann das Ende bedeuten.
Auch die Sicherheit der Kollegen schien Peter S. nicht zu interessieren. Viele der Wirkstoffe sind selbst krebserregend, andere sind schädlich für die Keimbahn, sie können unfruchtbar machen. Deshalb muss zwingend in einer so genannten Werkbank hantiert werden, hinter einer Glasscheibe, mit einem Abzug – so dass keine Kollegen einem umgeschütteten Wirkstoff ausgesetzt sind, wenn was bei der Zubereitung schief geht.
„S. arbeitete oft freihändig – außerhalb der Werkbank“, sagt Klein. Das Vier-Augen-Prinzip bei der Zubereitung habe er wissentlich gebrochen: „Du gehst jetzt mal raus hier“, sei ein Satz gewesen, der häufig gefallen sei.
Der größte Schock für Porwoll und Klein: Peter S. ging mit seinem Golden Retriever Grace ins Reinraumlabor. Porwoll hat den Hund gesehen, Klein fand regelmäßig große Mengen Hundehaare beim Säubern des Labors.
Alle im Labor hätten gewusst, dass Peter S. in Straßenkleidung Infusionen zubereite, sagt Maria-Elisabeth Klein. „Die Kollegen sagten dann nur: ‚Der Chef geht wieder spielen.’“ Peter S. habe oft am Wochenende gearbeitet oder frühmorgens, bevor die anderen Mitarbeiter zur Arbeit kamen, und Maria-Elisabeth Klein begann sich zu wundern, wie es ihm gelang, ein Vielfaches der Infusionen zuzubereiten, die andere Laborkräfte in derselben Zeit schafften. „Er sagte mir einmal, er sei eben der schnellste Zubereiter in Deutschland, das habe er während seiner Zeit bei der Bundeswehr gelernt.“ Auch dort wurde S. als Apotheker eingesetzt.
Als Mitte 2015 das neues Antikörper-Präparat „Opdivo“ für die Krebsimmuntherapie auf den Markt kommt, mit dem Wirkstoff „Nivolumab“, entscheidet sich Martin Porwoll, den Gerüchten über die Unterdosierung nachzugehen. Entweder er kann sie entkräften – oder beweisen.
Porwoll addiert alle Einkaufsrechnungen für den Wirkstoff, die aus der Alten Apotheke jemals bezahlt wurden, und vergleicht die Summe mit den Mengen, die Ärzte ihren Patienten verordnet hatten. Seit der Zulassung des Medikaments hatte S. genau 16.420 Milligramm davon eingekauft. Bei den Kassen aber habe er mehr als die dreifache Menge abgerechnet, nämlich 52.174 Milligramm. Peter S. muss die Wirkstoffe, die er eingekauft hatte, auf mehr als das dreifache Gewicht gestreckt haben: Bis zu 70 Prozent der Antikörper muss er einfach durch Kochsalzlösung oder Glukose ersetzt haben.
Hätte er die volle Menge „Opdivo“ mit dem Wirkstoff „Nivolumab“ eingekauft, die seine Patienten brauchten, dann hätte er allein mit diesem Wirkstoff in einem Jahr fast 34.000 Euro Gewinn gemacht. So aber, indem er den Kassen – und noch viel schlimmer: den Patienten – eine Kochsalzlösung als Wirkstoff unterjubelte, verachtzehnfachte sich sein Gewinn auf 615.000 Euro.
Dasselbe Ergebnis findet Porwoll bei Xgeva, einem Antikörper, der in Spritzen aufgezogen wird. 1,25 Millionen Euro Gewinnspanne statt 166.000 Euro, die legal gewesen wären. Für manche Wirkstoffe hat er nur ein Drittel der verordneten Menge eingekauft, für manche die Hälfte. Eine Handvoll Wirkstoffe rechnet Porwoll selbst durch, den Rest überlässt er der Staatsanwaltschaft.
Während die Staatsanwaltschaft Essen schon dabei ist, einen Durchsuchungsbeschluss zu erwirken, offenbart sich auch Marie Klein der Polizei – mit dem harten Beleg dafür, dass S. mindestens einzelne Infusionen komplett ohne Wirkstoff ausliefert.
Klein war damals in einer onkologischen Praxis zu einer Besprechung über die Zubereitung von Krebsmedikamenten. Auf dem Rückweg bat sie eine Sprechstundenhilfe, eine Antikörper-Infusion mit zurück in die Apotheke zu nehmen: Der Patientin, für die diese Infusion gedacht war, ging es zu schlecht, ihre Therapiesitzung musste abgesagt werden. „Dieses Präparat hätte schäumen müssen, Antikörper sind große Protein-Moleküle, das müssen Sie sich vorstellen wie mit einem Tropfen Priel im Wasserglas, da lässt die Oberflächenspannung nach“, erklärt Klein. Als sie den Beutel leicht schüttelt, schäumt gar nichts. „Also habe ich unter den Stopfen geschaut, mit dem solche Infusionen geschlossen werden. Das ist die Stelle, wo der Wirkstoff eingespritzt wird. Und dieser Stopfen war unverletzt. Das heißt, da ist nichts zugeführt worden.“
Klein geht mit dem Beutel zur KriPo. Sie will ihren Verdacht bestätigen lassen. Der Beutel wird beschlagnahmt und zu Tests in Paul-Ehrlich-Institut nach Langen geschickt. Das Ergebnis: In dem Beutel war kein Wirkstoff. Nichts. Es war eine reine Kochsalzlösung, die als Krebsmedikament einer schwerkranken Frau verabreicht werden sollte.
Weit mehr Wirkstoffe unterdosiert als bisher bekannt
Selbst betroffene Ärzte, mit denen Panorama und CORRECTIV gesprochen haben, gehen bisher davon aus, worüber sie die Staatsanwaltschaft nach der Verhaftung von Peter S. informiert hat: Dass nur fünf Wirkstoffe betroffen seien – diejenigen Wirkstoffe, die der Whistleblower Martin Porwoll für seine Anzeige beispielhaft durchgerechnet hat. Ein Onkologe, der hauptsächlich Brustkrebspatientinnen behandelt, gab seinen Patientinnen deswegen Entwarnung: Sie erhielten ja andere Medikamente. Sie seien nicht vom Skandal betroffen.
Eine Fehlinformation.
Die Ermittler beschlagnahmten bei einer Hausdurchsuchung am Tag der Festnahme von Peter S. alle Einkaufsrechnungen und die Abrechnungsdaten mit den Krankenkassen und stellten dieselben Vergleiche wie Porwoll auch für weitere Wirkstoffe an. In den meisten Fällen mit demselben Ergebnis: „Wir befassen uns in diesem Verfahren mit ungefähr 50 verschiedenen Medikamenten“, sagt die zuständige Staatsanwältin Annette Milk. Darunter befänden sich Zytostatika, also klassische Chemotherapien, hochpreisige Tumor-Antikörpertherapien, außerdem Begleitmedikationen, welche Nebenwirkungen abmildern sollen. „Bei dieser Vielzahl von Medikamenten taucht immer wieder auf, dass der Apotheker nach unserem bisherigen Erkenntnisstand signifikant weniger Material eingekauft hat als er abgegeben haben will. Wir reden hier über signifikante Unterschiede, das heißt, es geht hier nicht um Unterdosierungen von wenigen Prozent, die sowieso auch schon mal bei der Herstellung anfallen können und die auch gar nicht als bedenklich angesehen werden, sondern es geht hier um Unterschiede von 20 zu 80 Prozent bei einzelnen Medikamenten.“
Das dürfte auch für die Stadt Bottrop überraschend sein. Im Gespräch mit Panorama und CORRECTIV sagte der Gesundheitsdezernent Willie Loeven, dass er keine Informationen über weitere Wirkstoffe habe, neben den fünf anfangs übermittelten. Das sind auch die Medikamente, die das Rathaus damals in einer Hotline als „möglicherweise betroffen“ öffentlich machte.
Bislang gehen alle davon aus, dass Peter S. nur bei fünf Medikamenten geschummelt hat. Tatsächlich sind es Dutzende.
Die Staatsanwaltschaft beteuert, jedem Menschen mit Sachverstand hätte von Beginn an klar sein müssen, dass sich die Zahl der gepanschten Medikamente im Laufe der Ermittlungen ausweiten werde. Die erste Meldung war eine Mindestmeldung.
Peter S. hat sich bislang nicht zu den Vorwürfen eingelassen. Sein Anwalt wollte sich gegenüber CORRECTIV und Panorama nicht äußern.
Sind Sie selbst betroffen, oder haben Informationen für uns, sprechen Sie mit uns und mit anderen Betroffenen in unserer Facebook-Gruppe zur Alten Apotheke Bottrop
Maximale Verunsicherung in Bottrop
„Wir haben im Radio davon erfahren, und meine Tochter hat geweint und gesagt: Mensch, Mama, ich krieg doch auch meine Medikamente von dem.“ Das erzählt Annelie Scholz. Ihre Tochter Nicole Abresche-Drenski bekam Xgeva aus der Alten Apotheke. Sie hatte Brustkrebs, und Metastasen griffen ihr Knochengerüst stark an. Auf den Seiten des Rathauses erfuhren Mutter und Tochter schnell, dass Abresche-Drenskis Medikament möglicherweise auch unterdosiert wurde. Drei Wochen später starb Nicole Abresche-Drenski. Ihre Therapie hatte nicht angeschlagen. Ihr acht Jahre alter Tochter lebt nun bei den Großeltern. Vor einigen Wochen hat sie erstmals ihren Vater kennengelernt. „Mich macht das verrückt bei dem Gedanken, dass er vielleicht daran schuld ist, dass Lara jetzt schon Halbwaise ist und ihre Mama nicht mehr hat“, sagt Annelie Scholz. „Wir wissen das alle nicht – aber es ist eine Möglichkeit.“
Die Rechtsanwältin Sabrina Diehl vertritt etliche Patienten, die Peter S. nach Bekanntwerden der Vorfälle angezeigt und auf Schmerzensgeld verklagt haben. „Bei einer meiner Klientinnen hat man gesehen, dass die Tumormarker unglaublich hoch gestiegen sind, teilweise bis über 12.000 bei einem Normwert von 30“, erzählt Diehl. „Die Therapie ging über Monate, hat aber keinerlei Wirkung gezeigt. Sie hatte noch nicht einmal die Nebenwirkungen, die sie sonst in der Vergangenheit hatte. Und nachdem der Skandal dann aufgedeckt worden ist, wurden die Medikamente über eine andere Apotheke bezogen und schlagartig sind innerhalb von wenigen Wochen die Tumormarker gesunken.“
Bottrop hat etwas mehr als 100.000 Einwohner, mehrere tausend Patienten könnten laut Staatsanwaltschaft von dem Vorgehen von Peter S. betroffen sein. „Nahezu jeder in der Stadt kennt jemanden oder hat Verwandte, die mit Krebsmedikamenten aus der Alten Apotheke behandelt wurden“, sagt Willie Loeven, der Gesundheitsdezernent der Stadt Bottrop. Auch Bekannte von Loeven waren betroffen; Mitarbeiter der Hotline des Rathauses hatten kurz vor dem Bekanntwerden der Vorwürfe ihre Eltern verloren; ein Mitarbeiter im Krisenstab begleitete gerade seine Ehefrau durch die Krebstherapie.
Viele Menschen in Bottrop treibt die Frage nach dem Motiv um? Warum hat Peter S. das getan? Hat er Menschen leiden, vielleicht sogar sterben lassen, um ein Leben in Luxus führen zu können? Seine Zehn-Millionen-Euro-Villa in Kirchhellen wollte er mit einem Themenpark umgeben. Von Atlantis bis zu Grimms Märchen. Er hatte eine Rutsche vom Badezimmer im ersten Stock hinunter in den Swimmingpool im Erdgeschoss. Sein Haus lies er exakt so hoch bauen, dass er von der Dachterasse aus die letzte Zeche sehen konnte. Das ist exzentrisch – aber nicht schlimm. Oder doch Anzeichen seines Wahns?
Peter S. war mit der Stadt eng verbunden. Auf der Hochstraße kaufte er nach und nach Häuser zusammen und formte aus den Immobilien seine „MediCity“. Die Stadt übernahm das Logo, um damit zu werben. Peter S. war im Vorstand des Stadtmarketings. Lies sich zusammen mit dem Oberbürgermeister Bernd Tischler fotografieren. Peter S. liebte den Auftritt als Gönner. Schenkte Geld der Stadt, veranstaltete einen Spendenlauf, bei dem er vor seiner Alten Apotheke auf einem Hochsitz saß, während an ihm vorbei die Menschen liefen. Für jede Runde, die Kinder, Frauen und Männer um die Apotheke drehten, warf er einen Euro in eine Spendentonne. Das Geld gab er später dem Hospiz, für das er sich engagierte, in dem Krebskranke auf einen würdigen Tod vorbereitet wurden. Brauchte Peter S. das Geld, um sein Selbstwertgefühl über die Masse zu heben?
Wir wissen es nicht.
Mehr Taten als juristisch verfolgt werden
Gerade wurde Peter S.’s Untersuchungshaft verlängert. Die Staatsanwälte planen in wenigen Tagen Anklage zu erheben – zunächst wohl nur wegen gewerbsmäßigen Abrechnungsbetruges zum Nachteil der Krankenkassen und wegen des Verstoßes gegen das Arzneimittelgesetz. Die Beweishürden für den Vorwurf der Körperverletzung und möglicher Tötungsdelikte sind womöglich zu hoch. „Wir müssen ganz genau sagen: Dieser eine ganz bestimmte Patient hat zu wenig Medikation bekommen“, erklärt die zuständige Staatsanwältin Annette Milk. „Und in einem zweiten Schritt müssten wir dann auch nachweisen, dass es ihm genau deshalb hinterher schlechter gegangen ist – und nicht etwa, weil es ihm sowieso schlecht geht. Wir haben also zwei Beweisschritte zu vollziehen, und für uns ist schon der erste Schritt extrem schwierig.“ Peter S. könnte die Vorwürfe aufklären, aber er hat bisher nicht ausgesagt.
„Wir wissen nicht, wie der Apotheker seine Gunst oder Ungunst verteilt hat“, sagt die Essener Oberstaatsanwältin Annette Milk. „Hat er zum Beispiel Montags bis Mittwochs immer ordnungsgemäß die Medikamente verteilt und am Rest der Woche nicht? Oder hat er Männer bevorzugt, Frauen benachteiligt? Hat er junge Leute bevorzugt, Alte benachteiligt? All das wissen wir nicht und das aufzuklären, ist extrem schwierig.“
Milk und ihre Kollegen gehen von 50.000 einzelnen Verschreibungen aus, bei denen S. betrogen haben könnte. Allerdings verfolgen sie nur Taten ab 2012, damit keine Einzeltaten während der Prozesse verjähren. Die Alte Apotheke hatte aber seit 2001 ein Reinraumlabor für Krebsmedikamente. Es könnten also noch deutlich mehr Patienten betroffen gewesen sein als bisher angegeben.
Auch klinische Studien könnten betroffen sein
Auch wissenschaftliche Studien könnten verfälscht worden sein, warnte im Dezember 2016 das Bundesinstitut für Arzneimittelsicherheit (BfArM). Bisher seien mindestens 30 klinische Studien identifiziert worden, deren Teilnehmer mit Medikamenten aus der Bottroper Apotheke beliefert wurden, so Maik Pommer, ein Sprecher des BfArM, auf Anfrage von Panorama und CORRECTIV. Betroffen seien Studien mit mindestens 25 Wirkstoffen. Das BfArM wertet derzeit die Angaben der Sponsoren der klinischen Studien aus, in der Regel Pharmakonzerne oder Universitätskliniken. „Wir müssen verhindern, dass solche Daten in Zulassungsverfahren für neue Medikamente eingebracht werden, und werden deshalb nach Auswertung der Antworten alle europäischen Zulassungsbehörden informieren.“
Das BfArM geht bisher nicht davon aus, dass verfälschten Daten Eingang in frühere Zulassungsstudien gefunden haben. Sollte Peter S. auch Prüfsubstanzen falsch dosiert haben, so sind verschiedene Szenarien der Verzerrung der Ergebnisse denkbar – je nach Aufbau der Studie: Hätte er den zu prüfenden Wirkstoff unterdosiert, würde dessen Wirkung unterschätzt, die Nebenwirkungen aber womöglich ebenfalls unterschätzt. Hätte er umgekehrt das Vergleichspräparat unterdosiert, könnte die Wirkung des geprüften Medikaments sowie seine Nebenwirkungen überschätzt worden sein.
Auch das Paul-Ehrlich-Institut (PEI), zuständig für biologische Wirkstoffe wie monoklonale Antikörper, rief die Sponsoren klinischer Studien dazu auf, sich zu melden, sollten einzelne Studienzentren aus der Apotheke von Peter S. versorgt worden sein. Das Ergebnis: Vier klinische Prüfungen im Zuständigkeitsbereich des PEI könnten betroffen sein, mit zwei Antikörpern und einer „chemisch-definierten Prüfsubstanz“. „Wie viele Patienten in Deutschland in diesen klinischen Prüfungen letztendlich tatsächlich eingeschlossen wurden, ist dem Paul-Ehrlich-Institut derzeit noch nicht bekannt.“
Hinweise schon 2014
Die Staatsanwaltschaft Essen hatte bereits 2014 Hinweise auf krasse hygienische Mängel und auf Unterdosierung in der Alten Apotheke vorliegen. Ein früherer Fahrer der Apotheke hatte sich damals bei den Ermittlern gemeldet. Auf Basis seiner Angaben ließ sich aber kein Durchsuchungsbeschluss erwirken – zumal seine Ehefrau, die im Labor arbeitete, seine Angaben nicht bestätigte, als sie ebenfalls vernommen wurde.
Forderungen nach intensiveren Kontrollen – aus allen Lagern
Martin Porwoll hat sich auch bei der Staatsanwaltschaft gemeldet, weil ihm als Mitarbeiter der Alten Apotheke die Kontrollen durch die Amtsapotheker der Stadt wirkungslos vorkamen. Wie alle Aufsichtsbehörden in Deutschland prüften die Bottroper Amtsapotheker das Zytostatika-Labor von Peter S. im Abstand von zwei bis vier Jahren. Immer angekündigt, um die Produktionsprozesse nicht zu stören und die Versorgung der Patienten nicht zu verzögern. „Auf solche Kontrollen wurde das Labor akribisch vorbereitet“, sagt Martin Porwoll. „Dann war natürlich an dem Tag alles so, wie es sein soll.“
„Wir brauchen mindestens vier Kontrollen pro Jahr, und sie müssen unangekündigt sein“, fordert Eugen Brysch, Vorstand der „Deutschen Stiftung Patientenschutz“ in Dortmund, die sich laut eigener Auskunft vor allem für die Belange schwerkranker und sterbender Patienten einsetzt.
Außerdem müsse eine Chargenkontrolle ins Repertoire der Regel-Überprüfungen aufgenommen werden, also der Abgleich der Einkaufsbelege mit den Abrechnungsdaten der Krankenkassen, wie die Staatsanwälte ihn nun für die Alte Apotheke durchgerechnet haben.
Für die kaufmännische Prüfung fehle bisher die Rechtsgrundlage, sagt Willie Loeven, der Gesundheitsdezernent der Stadt Bottrop. Dafür müssten im Land oder im Bund die Grundlagen geschaffen werden. Im Landesgesundheitsministerium von NRW will man zunächst das Ermittlungsverfahren abwarten, prüft aber parallel mögliche Konsequenzen für die Kontrollpraxis. Ein Sprecher erläutert gegenüber Panorama und CORRECTIV die Frage, die man sich bezüglich der kaufmännischen Überwachung stelle: „Gäbe es die Möglichkeit für ein gesetzlich vorgegebenes Verfahren, das bei Herstellung dieser Arzneimittel eine automatisierte digitale Plausibilitätsprüfung zwischen eingekaufter, verarbeiteter und verkaufter Wirkstoffmenge zur Regel macht?“
Panorama und CORRECTIV haben die Aufsichtsbehörden aller Bundesländer angefragt. Die Ergebnisse gleichen sich: Eine kaufmännische Kontrolle gehöre bisher nicht zur Aufgabe der pharmazeutischen Überwachung, dafür fehle die Rechtsgrundlage. Auch werden bisher in keinem Bundesland regelmäßig physische Stichproben der teuren Krebs-Medikamente gezogen. Das Argument: Die Kosten für einzelne Beutel können sich auf mehrere tausend Euro belaufen, und wenn eine Probe genommen wird, steht die betreffende Infusion den Patienten nicht mehr zur Verfügung. Für diese Herausforderungen könnte es eine Lösung geben: Das Landesgesundheitsministerium in NRW (MGEPA) schreibt, es werde darüber nachgedacht, ob nicht künftig von jedem patientenindividuell hergestellten Medikament zur Krebsbehandlung ein Überschuss hergestellt werden müsse, zur Rückstellung für mögliche behördliche Kontrollen.
Diesem Vorschlag entgegnen Apotheker zwar mit Skepsis – nur der volle Beutel könne einer aussagekräftigen Kontrolle unterzogen werden. Ein anderer Vorschlag findet aber mehr Anklang: Wenn Infusionen ohnehin zur Vernichtung aus der Arztpraxis in die Apotheke zurückgeschickt werden, etwa weil Patienten aufgrund schlechter Blutwerte nicht bereit sind für eine Behandlung, könnten diese Rückläufer stattdessen an zentralen Stellen gesammelt werden. Alle Infusionen, die dann noch haltbar sind, stünden für mögliche Stichproben zur Verfügung – ohne prohibitive Zusatzkosten.
Sendehinweis:
Einen ausführlichen Bericht zu dem Fall des Bottroper Skandalapothekers sendet das ARD-Magazin Panorama am Donnerstag, 29. Juni 2017, um 23:30 Uhr: „Lebensgefährliche Gier – Chemotherapien ohne Wirkstoff“