Kinder in Syrien: Im Klassenzimmer der Diktatur
Propaganda und Gewalt stehen in syrischen Schulen auf dem Stundenplan. Kinder werden auf Hass und Treue getrimmt – in den Schulen des Assad-Regimes und durch den „Islamischen Staat“. Der Journalist Bassel Alhamdo und die Künstlerin Diala Brisly haben rebelliert. Bis ihr Leben in Gefahr war. Mit der Graphic Novel „Im Klassenzimmer der Diktatur“ erzählen sie nun ihre Geschichte – und die tausender Kinder in Syrien.
Sie drängt sich mit anderen Kindern auf einer viel zu engen Holzbank zusammen, über ihr die allmächtige Präsenz des syrischen Diktators Hafiz al-Assad – das ist die prägende Erinnerung von Diala Brisly an ihre Schulzeit. „Er hat sich selbst zu einer Ikone erhoben. Er war überall“, sagt die syrische Künstlerin. „Es war wirklich beängstigend. Auf der Straße, im Klassenzimmer und den Universitäten – überall war sein Foto.“
Ob in Nordkorea, der Sowjetunion oder dem Iran – totalitäre Regime vereinnahmen Schulen und machen sich die Bildung zu eigen. Denn: Wer die Köpfe der Kinder beherrscht, dem gehört die Zukunft eines Landes. Fahnenappelle, Paraden und Uniformen sind schon seit Jahrzehnten Teil des syrischen Bildungssystems, erst unter dem Diktator Hafiz Assad, jetzt unter seinem Sohn Bashar. Je jünger die Kinder sind, desto verwundbarer sind sie für die Indoktrinierung. Von klein auf verinnerlichen sie Gehorsam und Pflichterfüllung.
In Syrien soll Bildung nicht das Potenzial von Kindern und Jugendlichen fördern. Die Schulen dienen dem Machterhalt des Regimes.
Das Wichtigste in Syrien: Vitamin W
„In der Schule wurde uns immer eingetrichtert, still zu sein, kein Wort zu sagen“, erzählt Diala. „Wir hatten Militärklassen. Jeden Tag mussten wir Militäruniform tragen – egal in welchem Unterricht. Alles war sehr streng. Keine Farben, nicht einmal farbige Socken durften wir tragen. Alles musste schwarz sein.“ In Sommercamps sollte Diala automatische Gewehre zusammensetzen und mit ihnen schießen. Sie weigerte sich und brach die Schule ab.
Diala wollte nicht selbst gebrochen werden, wollte frei bleiben und Künstlerin werden. Doch sie schaffte es nicht, an der Akademie der Künste in Damaskus aufgenommen zu werden. Ihre Arbeiten seien angeblich zu schlecht gewesen, hieß es. Wahrscheinlich fehlten ihr aber die nötigen Beziehungen. Was in Deutschland „Vitamin B“ heißt, ist in Syrien „Vitamin W“ – vom arabischen Wort „Wasta“, Beziehungen – eines der Schmiermittel des Systems. Diala schlug sich in Damaskus als Illustratorin für Zeichentrickfilme durch und begann schließlich, Studierenden der Akademie Nachhilfe zu geben, an der sie selbst nicht aufgenommen worden war.
Im Klassenzimmer der Diktatur
Diala Brisly, Bassel Alhamdo, Frederik Richter 144 Seiten 20,00 € |
Wer Ziele hat, kämpft auch
„Ich glaube, die Idee hinter all dem war“, sagt Diala rückblickend, „dass wir immer im System gehalten werden und an nichts anderes mehr denken sollten. Denn dann können wir auch keine Kritik an dem System üben und erst recht nicht aussteigen. Wir müssen es so akzeptieren, wie es ist.“ Das einfache Prinzip dahinter: Wenn Menschen Ziele haben, kämpfen sie auch auf dem Weg dorthin gegen Widerstände. Also sollten sie keine Ziele haben.
„Die Erziehung durch ISIS ist meiner Meinung nach nicht viel anders“, sagt Diala. „Beide ermutigen zur Gewalt im Sinne von Aufopferung und Pflicht. Beide haben eine schreckliche Uniform. Beide sind schwarz. Es gibt eine Menge Ähnlichkeiten. Sie haben nur eine andere Verpackung gewählt, aber beide Ideologien führen zu demselben Horror, demselben Trauma.“
Diesen Horror erlebte auch Bassel Alhamdo in seiner Heimat, dem Norden Syriens. Er wollte ihn dokumentieren und wagte sich dafür als Journalist undercover in die Schulen des Islamischen Staats.
Der Arabische Frühling änderte in Syrien alles
Bassel Alhamdo war schon als Junge fußballverrückt. Schon immer war ihm klar: Er wollte Sportreporter werden. Allerdings haben Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene in der arabischen Welt mehr Hindernisse zu überwinden, wenn sie ihre eigenen Träume leben wollen. Soziale Normen und vor allem die Eltern schreiben ihnen oft genug vor, was sie studieren und welchen Beruf sie ergreifen sollen. Bassels Vater wollte, dass sein Sohn Ingenieur wird.
Bassel versuchte anfangs den Wünschen seines Vaters zu entsprechen. Er studierte Landwirtschaftstechnik, dann Schiffsbau, schließlich auch Elektrotechnik. Aber kein Fach hielt ihn. Und so begann er heimlich, als Sportreporter zu arbeiten. Da brach der Arabische Frühling aus.
Die Bewegung erreichte Syrien, doch die Hoffnung auf eine friedliche Revolution währte nur kurz. Das Assad-Regime schlug den Aufstand nieder und nutzte die Spaltung der Bevölkerung. Regionale Mächte mischten sich ein, um das Regime zu stürzen oder es zu stützen. Aus der Revolution wurde ein Bürgerkrieg.
Recherchen in Syrien unter Lebensgefahr
Bassel berichtete nicht länger über Fußballspiele, sondern über Demonstrationen. Im Norden des Landes breitete sich der „Islamische Staat“ aus. Die Terror-Gruppe baute eigene staatliche Strukturen auf – inklusive einem eigenem Schulsystem.
Bassel wuchs in Manbij auf, im Norden Syriens nahe Aleppo. Als der Islamische Staat Bassels Heimat unter Kontrolle brachte, beobachtete er, wie sich die Kinder und ihr Spiel veränderten. Wie sie plötzlich Enthauptungen nachstellten. Die Kinder reihten sich ins Publikum von öffentlichen Hinrichtungen, später wurden sie sogar selbst zu Tätern. Die Lehren des IS wurden in ihren Köpfen zur Normalität.
Bassel begann durch das IS-Gebiet zu reisen und recherchierte über die Schulen der Terrororganisation. Er interviewte Lehrer und Eltern, sammelte unter großer Gefahr Informationen über Unterricht und Lehrpläne. Aus einer Druckerei schleuste er undercover sogar die Schulbücher des IS. Statt mit abstrakten Zahlen erklärten sie Mathematik mit Waffen.
Der IS veröffentlichte schließlich Bassels Namen auf einer Todesliste. Er musste fliehen.
„Ich dachte, es würde immer so bleiben“
Als die Revolution Syrien erfasste, verschwendete Diala keinen Gedanken. Sie lebte in Damaskus. Das Wichtigste war für sie, die Verletzten zu versorgen und die Feldlazarette zu unterstützen. „Ich habe sofort angefangen, Geld zu sammeln“, sagt sie. „Ich kaufte so viele Medikamente, wie ich konnte. Vor allem für Operationen.“ Diese schmuggelte sie in ihrem Auto in die umkämpften Regionen. Dass es plötzlich Checkpoints in Syrien gab, vor allem aber auch in und um Damaskus, war für sie völlig neu. Sie musste mit ansehen, wie das Damaskus, das sie kannte, durch Checkpoints und Gewalt in kleinste Teile zersplitterte, wie ein Glas beim Aufprall auf dem Boden.
„Das war wirklich gefährlich“, sagt sie, „weil ich damit in den Augen des Regimes den Terrorismus unterstützt habe.“ Diala hatte viele Male Glück, die Soldaten hielten die zierliche Frau für harmlos. Diala drehte die Musik in ihrem Auto auf lächelte, und die Soldaten an den Checkpoints grüßten sie freundlich. „Ich dachte, es würde immer so bleiben. Aber nach ein paar Monaten gab es immer mehr Kontrollen.“
Gerade in den Vororten von Damaskus wurden die Maschen im Netz der Checkpoints enger gezogen. Das Regime nahm an, die Revolution käme vom Land, von außerhalb. Diala hatte immer größere Probleme, nach Damaskus zurückzukehren. Sie packte nicht mehr nur Medikamente ein, wenn sie losfuhr, sondern auch ihren Pyjama und ihre Zahnbürste.
Die schrecklichste Minute ihres Lebens
„Es wurde immer gefährlicher. Nach jeder Lieferung habe ich mir gesagt: Das ist meine letzte. Trotzdem habe ich jedes Mal, wenn mich jemand gefragt hat, wieder eine gemacht.“ Freunde von Diala verschwanden oder wurden verhaftet. „Meine größte Angst war, verhaftet zu werden“, sagt sie. „Das Furchtbare am syrischen Gefängnis ist, dass man nicht weiß, wie lange man bleibt. Du bleibst einfach dort. Und du stirbst jeden Tag. Das ist ein Albtraum.“
Und dann wurde Diala an einem Checkpoint angehalten.
Es war um zwei Uhr mittags. Eigentlich eine sichere Zeit, um die Kontrollstelle zu passieren. Viel Verkehr, normale Reisende. Der erste Soldat wies Diala an, an den Rand zu fahren, damit ihr Auto durchsucht werden könne. Dialas Herz blieb stehen, alle ihre Ängste wurden in diesem Augenblick real. Doch der zweite Soldat, der übernahm, fing plötzlich an, mit Diala zu flirten.
„Ich weiß nicht, ob er betrunken war, aber er meinte, er wolle mich gar nicht kontrollieren und dass ich gut aussehe. Er lächelte mich an und ließ mich schließlich weiterfahren. Das war die schrecklichste Minute meines Lebens.“
Als ihr Bruder dem Bürgerkrieg zum Opfer fiel, entschloss sich Diala endgültig zur Flucht.
Die Geschichte der Freiheit hat kein Ende
Diala zog nach Paris. Es gelang ihr aber nicht recht, dort anzukommen. Paris ist eine Stadt, die ihre Bewohner stresst. Noch mehr als die Sprache bereitete die französische Bürokratie ihr Mühe. Ein Gutes hatte die französische Hauptstadt aber: Diala traf dort Bassel.
Als Bassels Flucht in Deutschland endete, begann er ein Praktikum in der Berliner Redaktion von CORRECTIV. Abends und nachts lernte er Deutsch, beklebte Alltagsgegenstände mit ihrer Bedeutung in der für ihn fremden Sprache. Er war in Berlin nicht in einem Flüchtlingsheim untergebracht, sondern in einer Unterkunft für arbeitslose Alkoholiker. Nachts lärmten sie herum, sodass er kaum Schlaf fand.
Als er Deutsch konnte, lernte er auch noch Englisch. Er begann BWL zu studieren, während er nebenbei für einen katarischen Fußballsender arbeitete.
Diala war damals Teil eines Fellowships für Graphic-Novel-Journalismus, das CORRECTIV mit Unterstützung der Open Society Foundation ins Leben gerufen hatte. Gemeinsam mit dem Investigativ-Journalisten Frederik Richter begannen sie, ihre Geschichte zu erzählen – sie aufzuschreiben, vor allem aber zu zeichnen.
Im Klassenzimmer der Diktatur
Diala Brisly, Bassel Alhamdo, Frederik Richter 144 Seiten 20,00 € |
„Vorher habe ich nie daran gedacht, Kunst für den Journalismus zu nutzen“, sagt Diala. „Es war wirklich sehr, sehr schwer, aber es gibt Dinge, über die gesprochen werden muss. Kinder mussten bei Hinrichtungen zusehen. Ich bin davon überzeugt, dass diese Hinrichtungen absichtlich öffentlich stattfanden, um den Menschen Angst zu machen und zu zeigen, was es bedeutet, sich gegen das Regime aufzulehnen.“
Die Berichterstattung über die arabische Welt beschränkt sich weitgehend auf die bewaffneten Konflikte der Region. Die wirtschaftliche, kulturelle und vor allem die soziale Entwicklung der Region findet sich darin kaum wieder. „Für mich ist dieses Buch eine große Chance, all diese Geschichten zu erzählen“, sagt Diala. „Ich möchte erzählen, warum wir diese Revolution begonnen haben. Die Menschen sollen erfahren, welche Kindheit wir hatten. Und welche Zukunft wir damals für uns gesehen haben.“
Ihre Graphic Novel schließt mit den Worten: „Wir sind nur ein Tropfen im Meer. Aber mit vielen anderen zusammen. Das ist die Hoffnung.“