Hunderte Millionen Fördergeld für barrierefreie Bahnhöfe ungenutzt
Jeder fünfte Bahnhof ist nicht barrierefrei. Der Bundesrechnungshof wirft dem Verkehrsministerium Untätigkeit vor. Jetzt soll eine Reform kommen – doch der Plan bleibt vage.

Der Bedarf ist groß. Eigentlich sollte ein 600-Millionen-Euro-Programm gemeinsam mit der Deutschen Bahn dafür sorgen, dass kleinere und mittlere Bahnhöfe von 2019 bis 2026 barrierefrei und moderner werden. In einem Bericht kritisiert der Bundesrechnungshof das Vorgehen des Verkehrsministerium. Denn von der Fördersumme seien bisher nur 84 Millionen Euro abgerufen worden. Weder die Deutsche Bahn noch das Verkehrsministerium können genau sagen, wie und bis wann die restlichen Fördermittel, rund 515 Millionen Euro, verwendet werden.
„Das Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV) darf seine Bahnhofsprogramme nicht weiter auf die lange Bank schieben. Ansonsten leiden Attraktivität und Barrierefreiheit der Bahnhöfe.“, so der Bundesrechnungshof im Bericht.
Jetzt soll alles anders werden: Die Bundesregierung und die Bahn wollen das bisherige Fördermodell grundlegend ändern. Statt vieler kleiner Einzelprojekte soll es künftig ein gemeinsames Programm geben – eine sogenannte Leistungsvereinbarung mit der DB InfraGO, eine Tochtergesellschaft der Deutschen Bahn. Doch wie genau diese Reform aussehen soll und warum das bisherige System nicht funktioniert hat, bleibt unklar. Betroffene und Verbände kritisieren: Barrierefreiheit hat bisher keine echte Priorität.
Aus dem Bericht: Worum geht es?
- 600 Millionen Euro Fördermittel wurden seit 2019 für die Modernisierung und Barrierefreiheit von Bahnhöfen bereitgestellt.
- Nur 84 Millionen Euro wurden davon in sechs Jahren tatsächlich abgerufen – das sind lediglich 14 Prozent.
- Geplantes Ziel bis Ende 2023: Rund 326 Millionen Euro sollten bis dahin investiert worden sein – erreicht wurden aber nur 84 Millionen Euro.
- Rund 515 Millionen Euro blieben bishernoch ungenutzt.
- Die Umsetzung der Maßnahmen erfolgt durch eine Tochtergesellschaft der Deutschen Bahn, die DB InfraGO AG.
Studien zeigen: Rund 20 Prozent der Bahnhöfe sind in Deutschland nicht stufenfrei erreichbar – das bedeutet: Jeder fünfte Bahnhof bleibt für Menschen mit Rollstuhl, Kinderwagen oder eingeschränkter Mobilität unzugänglich.
„Man kommt nicht mehr vom Gleis weg‘ – Wenn Aufzüge ausfallen“
Kay Macquarrie lebt in Kiel. Seit fast 30 Jahren nutzt er einen Rollstuhl. Er ist Mitglied im Beirat der Deutschen Bahn und arbeitet für ISL – Selbstbestimmt Leben e.V., wo er sich für Barrierefreiheit und Inklusion einsetzt. Beruflich muss er oft reisen. Viele Bahnhöfe seien für ihn eine Herausforderung. „Aufzüge sind oft kaputt oder es gibt nur einen – wenn der nicht funktioniert, kommt man nicht mehr vom Gleis weg“, sagt Macquarrie im Gespräch mit CORRECTIV.
Auch andere Barrieren stören: Wege sind schlecht markiert, Boden-Leitlinien für Blinde fehlen, und wer mit Fahrrad, Kinderwagen oder schwerem Gepäck reist, steht oft vor denselben Problemen. Besonders bei viel Betrieb kommt es schnell zu Engpässen. Macquarrie sagt: „Eigentlich müsste Barrierefreiheit selbstverständlich sein. Aber in der Praxis klappt das oft nicht. Es fehlt nicht am Geld – sondern an guten Lösungen.“
Verkehrsministerium: Reform ja – aber ohne klaren Zeitplan
Obwohl Menschen wie Kay Macquarrie täglich mit Barrieren an Bahnhöfen kämpfen, gibt es vom Verkehrsministerium noch immer keinen konkreten Plan, wie genau möglichst alle Bahnhöfe in Deutschland barrierefrei gemacht werden sollen. Zwar spricht das Ministerium von einer Reform des jetzigen Fördermodells – doch wann und wie sie kommt, ist bisher offen.
Der Bundesrechnungshof kritisiert: Das Ministerium wolle die bisherigen Förderprogramme für barrierefreie Bahnhöfe in eine neue Vereinbarung mit der Deutschen Bahn überführen. Doch dringend nötige Verbesserungen würden dabei nicht umgesetzt. Einen genauen Zeitplan für die Gespräche mit der Bahn habe das Ministerium noch nicht vorgelegt.
Auf Nachfrage erklärt das Ministerium, die Fördermittel stünden weiterhin zur Verfügung. Wenn es bei der Umsetzung zu Verzögerungen kommt, könnten einzelne Vereinbarungen auch verlängert werden – aber nur im Einzelfall.
Langfristig plant das Ministerium eine größere Reform: Barrierefreiheit, neue Technik und die Modernisierung ganzer Bahnhofsgebäude sollen künftig in einer gemeinsamen Vereinbarung mit der Bahn (LV InfraGO) geregelt werden. Ziel ist es, das Verfahren zu vereinfachen und die Bahnhöfe umfassender zu modernisieren. Bestehende Förderprojekte sollen – wenn sinnvoll – in das neue System übernommen werden.
Was ist LV InfraGO?
Die Förderinitiative zur Attraktivitätssteigerung und Barrierefreiheit von Bahnhöfen (FABB) wurde von 2019 bis 2026 aufgelegt, konnte jedoch wegen der komplizierten Struktur, der langsamen Umsetzung und weil nur wenige Bahnhöfe davon profitieren, nicht überzeugen.
Die Förderinitiative FABB des Bundes verfolgt seit 2019 das Ziel, kleinere und mittlere Bahnhöfe in Deutschland barrierefreier und attraktiver zu gestalten.
Als Reaktion darauf plant die Bundesregierung keine Verlängerung, sondern die Einführung eines neuen Modells: die Leistungsvereinbarung InfraGO (LV InfraGO). Diese soll gemeinsam mit der DB InfraGO AG umgesetzt werden
Deutsche Bahn: Komplexität, Verzögerungen – und ein Flickenteppich
Die Deutsche Bahn steht seit Jahren in der Kritik – unter anderem wegen langsamer Bauprojekte, fehlender Pünktlichkeit und hoher Kosten. Auch beim Ausbau von barrierefreien Bahnhöfen kommt sie kaum voran. Die zuständige Tochtergesellschaft DB InfraGO AG, seit Anfang 2024 für das gesamte Schienennetz und die Bahnhöfe verantwortlich, habe beim Bund jetzt eine Verlängerung der Fördervereinbarungen beantragt.
Auf Anfrage erklärt eine Bahnsprecherin, der barrierefreie Umbau von Bahnsteigen sei ein besonders komplexes Vorhaben, das oft lange Planungs- und Genehmigungsprozesse erfordere – etwa wegen notwendiger Grundstückskäufe oder Umbauten an der Signaltechnik.
Zur Kritik des Bundesrechnungshofs heißt es: Das FABB-Programm sei nur eines von vielen Förderinstrumenten, die in der föderalen Struktur Deutschlands oft schwer aufeinander abgestimmt seien. Die Bahn spricht von einem „kleinteiligen Flickenteppich“, der die Umsetzung zusätzlich erschwere.
Gleichzeitig betont die Bahn, dass in den letzten Jahren schon viel passiert sei: Bund und Länder hätten bereits Milliarden Euro in den Umbau von Bahnsteigen und Zugängen gesteckt – auch um mehr Barrierefreiheit zu schaffen.
Keine Strategie für die 515 Millionen Euro Fördermittel-Uneinigkeit zwischen Bahn und Bund
Barrierefreiheit bedeute dabei nicht nur stufenlose Bahnsteige, sondern auch bessere Informationen und mehr Service für Reisende. Auch bei den Zügen selbst habe sich etwas verändert: Bis Ende 2025 sollen etwa die Hälfte aller ICE- und IC-Züge mit Einstiegshilfen oder stufenlosen Einstiegen ausgestattet sein – bis 2030 sogar zwei Drittel, wie die Deutsche Bahn auf Anfrage bestätigt. So könnten mobilitätseingeschränkte Fahrgäste selbstständig ein- und aussteigen – ohne Hilfe vom Bahnpersonal.
Trotz dieser Fortschritte haben weder das Verkehrsministerium noch die Bahn bislang eine klare Strategie vorgelegt,wie die verbleibenden 515 Millionen Euro aus dem FABB-Programm verwendet werden sollen.
Wann und ob die Bahn einen Antrag zur neuen Leistungsvereinbarung gestellt hat, bleibt unklar: Die Bahn spricht von einem Antrag, der zum 30. Juni 2025 eingereicht wurde, das Bundesverkehrsministerium dagegen teilt mit, dass bislang kein Antrag vorliegt – die Gespräche zur neuen Leistungsvereinbarung (LV InfraGO) befänden sich weiterhin im Abstimmungsprozess.
Der Linken-Bundestagsabgeordnete Sören Pellmann, der sich seit Jahren für Barrierefreiheit einsetzt, findet deutliche Worte:„Dass trotz Fördergeldern und politischer Zusagen so wenig passiert ist, liegt nicht am Geld, sondern an einem seit Jahren fehlenden politischen Willen. Die Verantwortung tragen nicht nur die Deutsche Bahn und der aktuelle Minister, sondern auch seine Vorgänger.“
Es gibt Geld – aber Steuerung und Struktur fehlen
Dirk Flege, Geschäftsführer des gemeinnützigen Verkehrsbündnisses Allianz pro Schiene hält die Kritik des Bundesrechnungshofs für nachvollziehbar. Seiner Einschätzung nach fehle es beim Bundesverkehrsministerium an klarer Steuerung, und viele der bestehenden Förderprogramme für barrierefreie Bahnhöfe seien in der Praxis schwer umsetzbar.
Zwar stehen Fördermittel zur Verfügung, doch die Förderbedingungen sind komplex: Die DB InfraGO muss bei vielen Programmen einen finanziellen Eigenanteil leisten – ebenso wie die Bundesländer. Ist einer der Beteiligten nicht zahlungsfähig oder zögerlich, kommt das Projekt ins Stocken. Dieses System sei aus Zeiten übernommen, in denen die Bahn auf Wirtschaftlichkeit und Börsengang ausgerichtet war. Heute wirke es wie ein Hemmschuh.
Besonders problematisch ist laut Flege, dass Barrierefreiheit häufig nur baulich gedacht werde. Ein weiteres Problem sieht er in der strategischen Ausrichtung: Viele Programme seien zu kleinteilig und wirkten ungeplant.
Eine Bahnsprecherin weist auf Anfrage von CORRECTIV darauf hin, dass Abstimmungen mit dem Bund oft umfangreich seien, weil die Kosten zwischen Bund und Deutscher Bahn verteilt werden: „Die aktuelle Gesetzeslage verlangt, dass wir bei solchen Projekten einen Eigenanteil leisten. Diese sogenannten Anteilsfinanzierungen sind in der Bundeshaushaltsordnung geregelt und sollen unsere wirtschaftliche Leistungsfähigkeit widerspiegeln.“ Da viele Vorhaben unterschiedlich finanziert seien, brauche es oft umfangreiche Abstimmungen mit dem Bund. Das solle sich in Zukunft ändern.
Kein Zeitplan für LV InfraGO
Der Bundesrechnungshof nimmt zur Kenntnis, dass das Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV) die Bahnhofsprogramme künftig in die LV InfraGO integrieren will. „Das BMDV darf allerdings die erforderlichen Verbesserungen nicht bis zum Abschluss einer LV InfraGO aufschieben. Bis wann es diese mit der DB InfraGO AG ausgehandelt haben will, hat es bisher offengelassen.“, so die Prüfer im Bericht.
Auch Jürgen Dusel, der Bundesbeauftragte für Menschen mit Behinderungen, kritisiert die Situation scharf. Der Jurist macht im Gespräch mit CORRECTIV deutlich: Barrierefreiheit im Bahnverkehr sei kein Luxus oder freiwilliges Extra – sondern ein verbrieftes Recht. „Es geht nicht um irgendeine Charity-Veranstaltung“, sagt er, „sondern um die Umsetzung von geltendem Recht.“
„Typisch deutsche Angst“
Die UN-Behindertenrechtskonvention, die Deutschland ratifiziert hat, garantiert Menschen mit Behinderungen das Recht auf Mobilität. Dieses Recht bestehe zwar auf dem Papier, könne aber in der Realität oft nicht gelebt werden – und das sei extrem frustrierend, so Dusel.
Der Jurist, selbst sehbehindert, kritisiert, dass die Barrierefreiheit an Bahnhöfen nicht konsequent vorangetrieben wird: „Wenn man sich anschaut, wie lange es dauern soll, bis alle Bahnhöfe barrierefrei sind – das ist ein unüberschaubarer Zeitraum. Das finde ich nicht richtig.“
Ein Blick ins Ausland zeige laut Dusel, dass es besser geht: „In Österreich sind auch private Anbieter zur Barrierefreiheit verpflichtet – und das Abendland ist dort nicht untergegangen.“ In Deutschland hingegen verhindere oft die „typisch deutsche Angst“ vor Regulierung den Fortschritt. „Wir sollten weniger ängstlich sein – und mehr Mut zur Veränderung zeigen“, so Dusel.
Redaktion: Justus Von Daniels
Redigat und Faktencheck: Finn Schöneck