Faktencheck

Keine Belege dafür, dass 90 Prozent aller Operationen während der Corona-Pandemie verschoben wurden

Neun von zehn notwendigen Operationen in Deutschland seien wegen der Corona-Maßnahmen im März und April verschoben worden, wird auf Instagram behauptet. Außerdem seien infolgedessen bis zu 125.000 Menschen gestorben oder würden noch sterben. Dafür gibt es keine Belege.

von Steffen Kutzner

Heiko Schöning behauptet, durch die Corona-Maßnahmen seien im März und April 90 Prozent aller notwendigen Operationen in Deutschland verschoben worden, was zu bis zu 125.000 Toten führen würde.
Heiko Schöning behauptet, durch die Corona-Maßnahmen seien im März und April 90 Prozent aller notwendigen Operationen in Deutschland verschoben worden, was zu bis zu 125.000 Toten führen würde. (Quelle: Youtube, Screenshot: CORRECTIV)
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Unbelegt. Es gibt keine Belege für die Behauptung, dass 90 Prozent aller notwendigen Operationen nicht durchgeführt wurden und deshalb tausende Menschen gestorben seien.

Bis zu 125.000 Menschen: So viele seien gestorben oder würden noch sterben, weil im März und April 90 Prozent aller notwendigen Operationen verschoben worden seien. Das wird in einem auf Instagram und Facebook geteilten Bild behauptet. Als Quelle wird ein Link angegeben, der zu einem Interview mit Heiko Schöning führt, einem der Gründer der „Ärzte für Aufklärung“. Über die Gruppierung hatte CORRECTIV.Faktencheck bereits berichtet.

Schöning leitet die Aussage in dem Interview mit folgenden Worten ein (ab Minute 11:18): „Im Großen und Ganzen standen diese Krankenhäuser leer. Die ganzen Kapazitäten, die man freigeräumt hat, sind nicht genutzt worden und das heißt, dass ganz viele andere Menschen, die ja Behandlungen gebraucht haben, dass die unterversorgt waren und das ist dramatisch. Und so dramatisch auch, dass sich da ein Referat im Bundesinnenministerium, das für Risikovorsorge und Katastrophenabschätzung verantwortlich war, dass sich da der verantwortliche Leiter auch mit hingesetzt hat und diese Zahlen zusammengeholt hat, um ein internes Gutachten zu machen.“ 

Ein solches Referat gibt es nicht, wie Björn Grünewälder, ein Sprecher des Bundesinnenministeriums (BMI), CORRECTIV per E-Mail mitteilte. Es habe lediglich ein Szenarienpapier mit dem Titel „Wie wir COVID-19 unter Kontrolle bekommen“ gegeben, das im März 2020 erstellt wurde. Daran wirkten laut Grünewälder auch „Experten aus den einschlägigen Bereichen (unter anderem Gesundheitswesen, Krisenmanagement, Verwaltung und Wirtschaft) mit“.

Ein Referat für Risikobewertung und Katastrophenabschätzung gibt es im BMI nicht, erklärte ein Sprecher. (Screenshot: CORRECTIV)
Ein Referat für Risikobewertung und Katastrophenabschätzung gibt es im BMI nicht, erklärte ein Sprecher. (Screenshot: CORRECTIV)

In dem Szenarienpapier sind zwar Zielsetzungen für Kapazitäten hinsichtlich Krankenhausbetten und Beatmungsgeräten angegeben. Von Operationen, die verschoben werden sollten, ist darin nicht die Rede.

Deutsche Krankenhausgesellschaft: Zu keinem Zeitpunkt waren Patienten unterversorgt

Dass Menschen, die behandlungsbedürftig waren, dramatisch unterversorgt seien, wie Schöning behauptet, dafür gibt es keine Belege. Eine Sprecherin der Deutschen Krankenhausgesellschaft erklärte CORRECTIV in einer E-Mail: „Die Versorgung hilfsbedürftiger Patienten in unseren Kliniken war und ist zu keinem Zeitpunkt gefährdet.“

Schöning behauptet in dem Interview weiter: „In Deutschland sind 90 Prozent der notwendigen Operationen – und ich zitiere das [Gutachten] wörtlich – 90 Prozent der notwendigen Operationen sind nicht durchgeführt worden in Deutschland. Das hat 2,5 Millionen Menschen betroffen und die Schätzung von Experten – das steht auch noch in dem Gutachten drin – die jetzt wegen der staatlichen Maßnahmen Sterbefälle sind, beträgt unter 5.000 bis 125.000 Menschen, die infolgedessen, dass sie ihre notwendige Operation nicht bekommen haben, früher versterben.“

Zahlen stammen aus einem Dokument, das lediglich die Privatmeinung eines Beamten wiedergab

Diese Zahlen entstammen einem vermeintlichen Bericht des BMI (Seite 6), der Anfang Mai im Netz kursierte. Das Dokument bildete jedoch laut BMI lediglich die Meinung eines inzwischen vom Dienst freigestellten Beamten ab, die er mit dem offiziellen Briefkopf verschickt hatte. Stephan Kohn war Mitarbeiter der Abteilung Krisenmanagement und Bevölkerungsschutz des BMI. 

Das Ministerium distanzierte sich von dem ohne Absprache veröffentlichten Dokument, das laut einer Stellungnahme „unter Verwendung des BMI-Briefkopfes und der dienstlichen Kommunikationskanäle“ verbreitet worden war. „Für diese Zusammenstellung gab es weder einen Auftrag, noch eine Autorisierung. Eine strukturelle Einbindung aller am Krisenstab beteiligten Organisationseinheiten, wie sonst bei seriösen Analysen zwingend erforderlich und üblich, erfolgte hier nicht“, heißt es in der Stellungnahme weiter.

In einer kleinen Anfrage, die die AfD bezüglich des Papiers gestellt hatte, wurde am 23. Juni von der Bundesregierung mitgeteilt, dass das BMI das Dokument schon am Tag der Veröffentlichung als „gegenstandslos“ eingeordnet habe (Seite 3). 

In dem Papier wird konkret behauptet, im März und April seien 90 Prozent aller notwendigen OPs verschoben bzw. nicht durchgeführt worden. 2,5 Millionen Patienten seien nicht operiert worden, „obwohl dies nötig gewesen wäre“.

Es werden keine Belege für die Zahlen genannt

Belege für die konkreten Zahlen werden in dem Papier nicht genannt. In dem Dokument heißt es zudem, dass die Auswahl der zehn Experten zur Einschätzung der Lage „zufällig“ erfolgt sei und „daher nicht repräsentativ“ sein könne (Seite 6). Und weiter: „Die voraussichtliche Sterberate lässt sich nicht seriös einzuschätzen [sic]“.

Diese entscheidende Stelle lassen sowohl Schöning wie auch das auf Facebook und Instagram verbreitete Bild weg und zitieren lediglich die unmittelbar danach formulierte These. Dort heißt es, dass „Experten“ Vermutungen angestellt hätten, dass zwischen weniger als 5.000 und „bis zu 125.000 Patienten“ wegen der verschobenen Operationen gestorben seien oder noch sterben würden.

Das Dokument hatte im Mai ein gewisses Medienecho ausgelöst. So hieß es im Spiegel: „Das Papier widerspricht so ziemlich allem, was die Bundesregierung und das Robert-Koch-Institut zu Covid-19 sagen.“ 

Einige Operationen wurden tatsächlich im Zuge der Corona-Pandemie verschoben

Dass 90 Prozent aller Operationen verschoben wurden, kann das Bundesministerium für Gesundheit nicht bestätigen. Sprecher Sebastian Gülde schrieb CORRECTIV via E-Mail, dass im März 2020 von den Ministerpräsidenten beschlossen worden war, „soweit medizinisch vertretbar, grundsätzlich alle planbaren Aufnahmen, Operationen und Eingriffe in allen Krankenhäusern auf unbestimmte Zeit“ zu verschieben.

Das Bundesministerium für Gesundheit kann 90 Prozent verschobene Operationen nicht bestätigen. (Screenshot: CORRECTIV)
Das Bundesministerium für Gesundheit kann 90 Prozent verschobene Operationen nicht bestätigen. (Screenshot: CORRECTIV)

Das Gesundheitsministerium verweist jedoch auf eine andere kleine Anfrage der AfD, die am 27. Juli beantwortet wurde. Dort heißt es für März und April 2020 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum: „Für einige Krebsdiagnosen (insbesondere Darm- und Lungenkrebs) ging die Zahl der operativen Ersteingriffe um rund 20 Prozent zurück, während für andere Diagnosen keine deutlichen Rückgänge oder sogar Anstiege (z. B. Brust- und Gebärmutterkrebs) zu verzeichnen waren“ (Seite 4). 

In der Antwort der Bundesregierung auf die Anfrage wird unter anderem auf eine Studie des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) verwiesen, auf die uns im Zuge der Recherche auch die Deutsche Krankenhausgesellschaft aufmerksam gemacht hatte.

Gutachten der AOK: Zahl der dringenden Operationen während der Corona-Pandemie teilweise gestiegen

Der am 26. Juni 2020 veröffentlichte Report bezieht sich nicht auf alle Patienten, sondern nur auf die AOK-Versicherten. Da es sich dabei um 27 Millionen Bürger handele, sei die Studie aber dennoch repräsentativ (Seite 5). Verglichen wurden Krankenhausbehandlungen (also nicht nur Operationen) im Zeitraum vom 16. März bis 5. April 2020 mit dem Zeitraum vom 25. März bis 14. April 2019 (Seite 9). 

Insgesamt seien die Behandlungen in Krankenhäusern im Vergleich zum Vorjahreszeitraum stark um 39 Prozent gesunken. Der deutliche Rückgang treffe jedoch nicht auf dringende Operationen zu. Dringliche und lebensbedrohliche Erkrankungen seien in der Phase des Lockdowns meist in konstantem Umfang behandelt worden (Seite 5). 

Bezüglich geplanter und nicht geplanter, also dringlicher Operationen wird der Unterschied deutlich, wenn die Zahlen für Hüftfrakturen (also Knochenbrüche) mit denen der geplanten Operationen an Hüftgelenken verglichen werden. Hier zeigt der Report, dass die geplanten Eingriffe um 79 Prozent gesunken sind. Die Operationen wegen akuter Fälle, also an Menschen, die einen Oberschenkelhalsbruch erlitten haben, seien jedoch nur um zwei Prozent (Seite 22) zurückgegangen. 

Auszug aus dem WIdO-Report der AOK vom Juni 2020 bezüglich der Operationen an Hüftgelenken - links Operationen wegen gebrochener Hüftgelenke, rechts die geplanten Operationen. (Quelle: WIdO-Report der AOK, Screenshot: CORRECTIV)
Auszug aus dem WIdO-Report der AOK vom Juni 2020 bezüglich der Operationen an Hüftgelenken – links Operationen wegen gebrochener Hüftgelenke, rechts die geplanten Operationen. (Quelle: WIdO-Report der AOK, Screenshot: CORRECTIV)

Die Operationszahlen für Blinddarm-Entfernungen seien in akuten Fällen sogar um acht Prozent gestiegen, während die Operationen ohne akutes Erscheinungsbild um 28 Prozent zurückgegangen seien (Seite 23).

Auszug aus dem WIdO-Report der AOK vom Juni 2020 bezüglich Blinddarm-Operationen - links Operationen bei akutem Entzündungsgeschehen, rechts die Operationen ohne akutes Entzündungsgeschehen. (Quelle: WIdO-Report der AOK, Screenshot: CORRECTIV)
Auszug aus dem WIdO-Report der AOK vom Juni 2020 bezüglich Blinddarm-Operationen – links Operationen bei akutem Entzündungsgeschehen, rechts die Operationen ohne akutes Entzündungsgeschehen. (Quelle: WIdO-Report der AOK, Screenshot: CORRECTIV)

Auch die Zahlen für operative Entfernungen der Gebärmutter wegen Krebs seien gestiegen – um 23 Prozent (Seite 24). 

Dafür, dass eine drastische Unterversorgung geherrscht hätte, wie Heiko Schöning behauptet, gibt es bezüglich Operationen in akuten Fällen also keine Belege. 

Richtig ist jedoch, dass die Zahl der Menschen, die sich während des Corona-Lockdowns in Krankenhäusern behandeln ließen, deutlich gesunken ist. Das gilt für jedes Bundesland, aber nicht für jede Form der Erkrankung und auch nicht für jede Art von Operation. Dazu, welche Langzeitfolgen die Verschiebung vieler Behandlungen haben wird, gibt es keine belastbaren Zahlen.