Faktencheck

Intensivbehandlungen 2018 und 2020: Diagramm von Bodo Schiffmann führt in die Irre

Ein Diagramm, das im Messengerdienst Telegram verbreitet wird, zeigt einen Vergleich von „Intensivbehandlungen“ in den Jahren 2018 und 2020. Es wirkt, als habe sich die Anzahl der Behandlungen kaum verändert. Aber die Daten aus den beiden Jahren lassen sich nicht sinnvoll vergleichen.

von Sarah Thust

Krankenhaus
Die Zahlen der Intensivbehandlungen 2020 sind mit den Daten des Statistischen Bundesamtes von 2018 nicht vergleichbar. (Symbolbild: Irwan Iwe / Unsplash)
Behauptung
Daten von 2020 und 2018 zeigten, dass die Zahlen der „Intensivbehandlungen und Auslastung“ seien im Vergleich fast unverändert seien.
Bewertung
Falscher Kontext
Über diese Bewertung
Falscher Kontext. Die Zahlen der Intensivbehandlungen 2020 sind mit den Daten von 2018 nicht vergleichbar. Der Vergleich ist daher irreführend.

„Wo ist die Bedrohung?“ Diese Frage stellte der umstrittene Arzt Bodo Schiffmann in einem Beitrag auf Telegram am 3. November. Dazu teilte er einen „Vergleich der Intensivbehandlungen und Auslastung“ im Jahr 2018 und 2020. Das Diagramm zeigt, dass am 1. November 2020 angeblich weniger Intensivbetten belegt waren als im Jahresschnitt 2018. Der Beitrag verbreitete sich auch mehrfach auf Facebook.

Mit der „Bedrohung“ meint Schiffmann offenbar Covid-19 beziehungsweise die Pandemie. 

Unsere Recherchen ergaben: Die Grafik ist aus mehreren Gründen irreführend. So wurde für den Vergleich ein Tageswert vom 1. November 2020 mit einem Jahresdurchschnittswert von 2018 verglichen, was nicht sinnvoll ist. Die Daten von 2018 und 2020 sind auch deshalb nicht miteinander vergleichbar, da sie in völlig unterschiedlichen Kontexten gesammelt wurden.

Die Grafik zeigt Folgendes: Links ist ein Balken beschriftet mit „2018 – Jahresdurchschnitt“, rechts daneben ein Balken mit der Beschriftung „01.11.2020“. Zu sehen sind die belegten „ICU-Betten“ (rot) und freien „ICU-Betten“ (grün). Die Abkürzung ICU steht für „Intensive Care Unit“, Englisch für Intensivstation. Daneben steht noch eine Beschreibung mit mehreren Zahlen, darunter die Auslastung der Intensivbetten in Prozent.

Dieses irreführende Diagramm wird aktuell in den Sozialen Netzwerken geteilt.
Dieses irreführende Diagramm wird aktuell in den Sozialen Netzwerken geteilt. (Quelle: Facebook / Screenshot: CORRECTIV)

Als Quelle für die Daten werden die „Grunddaten der Krankenhäuser“ vom Statistischen Bundesamt von 2018 angegeben. Außerdem wird der Lagebericht des Robert-Koch-Instituts (RKI) vom 1. November 2020 genannt, der sich wiederum auf einen Bericht des DIVI-Intensivregister der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin vom gleichen Tag bezieht. In beiden Statistiken wird unter anderem die Belegung von Intensivbetten erhoben, allerdings mit unterschiedlicher Methodik.

Zahlen zu Intensivbehandlungen und Auslastung stammen aus zwei verschiedenen Statistiken

Daten vom Statistischen Bundesamt von 2018: In der Beschreibung neben der Grafik wird eine Intensivbetten-Auslastung von 77 Prozent angegeben. Berechnet wurde die durchschnittliche Bettenauslastung laut einer Formel des Statistischen Bundesamtes.

„Die in der Grafik genannten Zahlen (7.680.674 Berechnungs- und Belegungstage, 27.321 Intensivbetten und Bettenauslastung 77 Prozent im Jahr 2018) entsprechen den Angaben für Allgemeine Krankenhäuser und sind insoweit korrekt“, schrieb uns ein Sprecher des Statistischen Bundesamtes. Der daraus berechnete Tagesdurchschnitt (21.100 behandelte Patienten pro Tag) sollte allerdings als „Eigenberechnung des Autors“ gekennzeichnet sein, so der Sprecher. Das Statistische Bundesamt liefere solche Tagesdaten nicht. 

Das Diagramm von Bodo Schiffmann ist irreführend.
Das Diagramm von Bodo Schiffmann ist irreführend. (Quelle: Telegram / Screenshot: CORRECTIV)

Auch die genannten Daten aus der Fachabteilung Pneumologie seien korrekt, würden sich allerdings auch auf den nicht-intensivmedizinischen Bereich beziehen.

Wichtig ist: Ein Durchschnittswert wie der in dem Diagramm gibt keine Auskunft über die reale Intensivbett-Kapazität zu einem bestimmten Zeitpunkt, zum Beispiel im November 2018.

Daten aus dem DIVI-Register 2020: Die verfügbaren Intensivbetten waren am 1. November 2020 laut der Grafik zu 72,44 Prozent belegt. Der Wert wurde anhand der Daten aus dem DIVI-Tagesreport selbst berechnet: Von 28.920 Intensivbetten waren 20.950 belegt (und 7.970 Betten waren frei). Bei den DIVI-Daten handelt es sich um Daten, die die Krankenhäuser selbst melden und die ihre realen Kapazitäten pro Tag wiedergeben. 

In der Grafik scheint es, als habe es am 1. November 2020 weniger belegte Intensivbetten gegeben und mehr Intensivbetten insgesamt als im selben Monat 2018. Doch dieser Schluss lässt sich aus mehreren Gründen nicht ziehen. 

Laut DIVI-Intensivregister und Statistischem Bundesamt sind die Daten nicht vergleichbar

Wir haben beim Statistischen Bundesamt nachgefragt, ob die Daten von 2018 mit den aktuellen Daten von 2020 überhaupt vergleichbar sind. Ein Sprecher antwortete uns: „Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass die beiden Datensätze nicht 1:1 miteinander vergleichbar sind.“ Allerdings kenne er die DIVI-Erhebungsmethodik nicht im Detail. Er riet uns, auch dort nachzufragen – eine Antwort haben wir von der DIVI jedoch bisher nicht erhalten (Stand: 1. Dezember 2020). 

Auf der Website des DIVI-Registers heißt es aber: „Das Register wurde erst in diesem Frühjahr gemeinsam mit dem RKI aufgebaut. Deshalb verfügen wir erst über verlässliche Daten seit dem 20.04.2020. Es gibt keine vergleichbaren Daten aus den Jahren davor!“ Eine tägliche Meldung an das Intensivregister ist seit April für alle intensivbettenführenden Krankenhaus-Standorte gesetzlich verpflichtend.

Statistisches Bundesamt: Zahl der Betten wird jeweils am Monatsende ermittelt 

Die Zielsetzung und die Methodik der Statistiken unterscheiden sich wesentlich:

Die „Grunddaten der Krankenhäuser“ vom Statistischen Bundesamt erscheinen einmal pro Jahr als Durchschnittswert, zuletzt am 27. August 2020 für das gesamte Kalenderjahr 2018. Erfasst werden darin die „aufgestellten Betten“, also alle betriebsbereit aufgestellten Intensivbetten des Krankenhauses zur vollstationären Behandlung (Seite 4). 

Wir haben einem Sprecher des Statistischen Bundesamtes das Diagramm mit der Bitte um Einordnung zugeschickt. Er schrieb uns, monatliche oder wöchentliche Daten würden in der Krankenhausstatistik „grundsätzlich nicht“ erhoben. Der Autor des Diagramms habe offensichtlich aus den Ergebnissen für das Gesamtjahr 2018 in einer Eigenberechnung einen Tagesdurchschnitt berechnet. Diese hätte er als solche kennzeichnen sollen.

Die E-Mail eines Sprechers des Statistischen Bundesamts.
Die E-Mail eines Sprechers des Statistischen Bundesamts. (Screenshot: CORRECTIV)

DIVI-Intensivregister: Jeden Tag werden neue Daten veröffentlicht

Das DIVI-Intensivregister bezieht sich im Gegenteil dazu nicht auf das komplette Kalenderjahr, Daten sind erst seit acht Monaten verfügbar (Stand: 1. Dezember 2020). Bisher wurden auf der DIVI-Website nur Tagesberichte veröffentlicht. Einen Jahresdurchschnitt gibt es folglich noch nicht. Die Belegung der Intensivbetten wird im DIVI-Intensivregister also in Echtzeit erfasst und täglich veröffentlicht.

Zudem zeigen die Daten der DIVI nicht die Zahl der „aufgestellten Betten“ (wie beim Statistischen Bundesamt), sondern den gemeldeten Ist-Zustand der tatsächlich betreibbaren Intensivbetten im jeweiligen Meldebereich.

Bis Ende des Jahres werden laut DKG bis zu 5.000 Intensivpatienten mit Covid-19 erwartet

Ein Sprecher der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) erklärte uns, er erwarte bis Ende des Jahres bis zu 5.000 Intensivpatienten mit Covid-19, die gleichzeitig auf Station liegen. „Das ist eine Situation, wie es sie in den vergangenen Jahrzehnten in deutschen Krankenhäusern noch nicht gab. Sie ist sehr angespannt, aber noch beherrschbar.“

Am Stichtag 30. November waren laut DIVI 27.533 Intensivbetten in Deutschland verfügbar („ITS-Betten Gesamt“). Davon waren 5.905 Betten frei, 21.628 waren belegt. 3.926 der Patienten und Patientinnen waren bezüglich Covid-19 in intensivmedizinischer Behandlung. Die Zahl der freien Betten ist im Vergleich zum 1. November um 2.065 Betten gesunken. 

Auszug aus dem DIVI-Intensivregister Tagesreport vom 1. November 2020.
Auszug aus dem DIVI-Intensivregister Tagesreport vom 1. November 2020. (Quelle: DIVI / Screenshot: CORRECTIV)

Deutsche Krankenhausgesellschaft: Intensiv-Kapazitäten sind entscheidend für die Sterberate der Erkrankten

Schon die ersten Wochen der Pandemie hätten gezeigt, dass die Intensiv-Kapazitäten entscheidend für die Sterberate der Erkrankten seien, so der DKG-Sprecher. „In vielen Ländern, z.B. China, Italien und Frankreich, ist die Zahl der Toten zu dem Zeitpunkt stark gestiegen, an dem die Intensivstationen nicht mehr aufnahmefähig waren. In Deutschland konnte das verhindert werden.“ Einer der Wege dafür sei, dass Krankenhäuser nicht notwendige Operationen absagen würden. 

Auszug aus der E-Mail eines Sprechers der Deutschen Krankenhausgesellschaft.
Auszug aus der E-Mail eines Sprechers der Deutschen Krankenhausgesellschaft. (Screenshot: CORRECTIV)

Insgesamt habe ein Covid-19-Patient einen höheren Personalbedarf als ein durchschnittlicher Intensivpatient. Statistisch gesehen verbrauche er „deutlich mehr als ein Bett“, so der Sprecher der DKG. Gemeint sei mit „Intensivbetten“ ein betreibbares Bett mit ausreichend Personal. Daher könne die Gesamtzahl der Intensivbetten stark schwanken, abhängig zum Beispiel vom Krankenstand oder vor allem vom Anteil der Patienten mit besonders hohem Personalbedarf.

Der Anteil von Covid-19-Patienten in den Intensivstationen ist laut der DKG regional sehr verschieden. „In einigen Bundesländern macht er mittlerweile ein Viertel aller Intensivpatienten aus, die Tendenz ist leider weiter stark steigend.“

Fazit: Die Grafik ist irreführend. Daten zur Auslastung der Intensivbetten für 2018 vom Statistischen Bundesamt und des DIVI-Registers für 2020 sind nicht vergleichbar, weil sich die Methodik der Datenerhebung wesentlich unterscheidet. So werden die DIVI-Daten seit März 2020 täglich veröffentlicht, das Statistische Bundesamt publiziert hingegen nur einen Jahresdurchschnitt einmal pro Jahr.  

Redigatur: Till Eckert, Alice Echtermann

Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Faktencheck:

  • „Grunddaten der Krankenhäuser“ vom Statistischen Bundesamt (27. August 2020): Link
  • DIVI-Intensivregister: Link
  • DIVI-Leitfaden „Worauf ist bei der Interpretation und beim Vergleich von Zahlen zu achten?“: Link
  • DIVI-Tagesberichte: 1. November (Link), 30. November (Link)
  • Lagebericht des Robert-Koch-Instituts (RKI) (1. November 2020): Link
  • Verordnung des Bundesgesundheitministeriums zum DIVI-Intensivregister (04. April .2020): Link