Faktencheck

Unwissenheit über Covid-19-Impfstoffe? Älteres Interview mit RKI-Chef Wieler wird irreführend verbreitet

In einem Interviewausschnitt auf Youtube sagt der Chef des Robert-Koch-Instituts, Lothar Wieler, dass er nicht wisse, wie Covid-19-Impfstoffe wirken. Das hat er tatsächlich so gesagt – jedoch nicht Ende November, sondern Mitte Oktober, als es tatsächlich noch keine Erkenntnisse zur Wirksamkeit von Impfstoff-Kandidaten gab.

von Steffen Kutzner

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RKI-Chef Lothar Wieler am 15. Oktober im Interview bei Phoenix. (Quelle: Youtube / Screenshot: CORRECTIV)
Behauptung
Lothar Wieler wisse nicht, wie Covid-19-Impfstoffe wirken.
Bewertung
Fehlender Kontext
Über diese Bewertung
Fehlender Kontext. Das Interview stammt von Mitte Oktober. Zu diesem Zeitpunkt lagen noch keine belastbaren Daten zur Wirksamkeit von Impfstoff-Kandidaten vor.

In einem 17-sekündigen Interviewausschnitt, der auf Youtube kursiert, sagt der Chef des Robert-Koch-Instituts (RKI), Lothar Wieler: „Wir gehen alle davon aus, dass im nächsten Jahr Impfstoffe zugelassen werden. Wir wissen nicht genau, wie die wirken, wie gut die wirken, was die bewirken, aber ich bin sehr optimistisch, dass es Impfstoffe gibt.“ 

Das Video wurde am 13. November auf dem Youtube-Kanal „Tomez“ hochgeladen. Dort wurde es mehr als 15.000 Mal angeklickt. Auch ein Beitrag auf der Webseite KenFM mit der Überschrift „Pferde-Doktor Wieler – Egal welche Impfung, Hauptsache Spritze“ verweist Ende November auf das Video. 

Zum Zeitpunkt, als das Video auf Youtube geteilt wurde (13. November), hatten Impfstoff-Hersteller bereits erste Zahlen zur Wirksamkeit veröffentlicht – Biontech und Pfizer teilten etwa am 9. November mit, ihr Impfstoff sei einer Zwischenanalyse zufolge zu mehr als 90 Prozent wirksam. Daher wirkt die mutmaßliche Unkenntnis Lothar Wielers befremdlich. Das Interview ist jedoch schon älter; es stammt von Mitte Oktober. 

Dieser Kontext ist relevant, denn der Wissensstand über Impfstoffe hat sich in den vergangenen Wochen stets sehr schnell verändert. Als das Interview mit Wieler geführt wurde, gab es nach CORRECTIV-Recherchen noch keine konkreten Erkenntnisse zu potenziellen SARS-Cov-2-Impfstoffen.

Interview wurde laut Phoenix am 15. Oktober aufgezeichnet

Das Video zeigt einen Ausschnitt aus der Sendung Phoenix persönlich. In der Beschreibung des Youtube-Videos sowie in dem Beitrag auf Jebsens Webseite wird suggeriert, Wieler wisse nicht, wie Covid-19-Impfstoffe wirken, weshalb er kein wirklicher „Experte“, beziehungsweise als Leiter des RKI ungeeignet sei. Eine Information darüber, von wann das Interview stammt, fehlt in den Beiträgen. 

Ein Sprecher des Fernsehsenders Phoenix erklärte CORRECTIV gegenüber, dass das Interview am Vormittag des 15. Oktober aufgezeichnet und in den folgenden drei Tagen wiederholt ausgestrahlt wurde. Am 15. Oktober wurde es auch in ganzer Länge auf dem Youtube-Kanal von Phoenix hochgeladen.

Auszug aus der E-Mail eines Pressesprechers von Phoenix. (Screenshot: CORRECTIV)

Mitte Oktober gab es keine belastbaren Daten zur Wirksamkeit von Impfstoffen

Mitte Oktober gab es noch keine belastbaren Forschungsergebnisse zu Covid-19-Impfstoffen. Daher konnte Lothar Wieler damals auch keine konkretere Aussage zu der genauen Wirkungsweise eines potenziellen Impfstoffs treffen. 

Insgesamt hat die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) Daten zum Entwicklungsstand von derzeit 71 Medikamente und Impfstoffen gegen Covid-19 vorliegen (Stand: 8. Dezember). Untersucht werden jedoch bisher nur vier der Impfstoffe genauer. 

Bei zwei davon startete die „rolling review“, die ein Impfstoff-Kandidat vor der beschleunigten Zulassung durch die EMA durchläuft, vor dem Interview mit Wieler: Bei Astra-Zeneca am 1. Oktober und bei Biontech am 6. Oktober. Das bedeutet jedoch nicht, dass zu diesem Zeitpunkt bereits Informationen zur Wirksamkeit bekannt waren. 

„Rolling review“ bedeutet, dass in einem dringenden Fall, wie einer Pandemie, das Zulassungsverfahren nicht erst startet, wenn alle Daten der klinischen Studien vorliegen. Stattdessen können die Daten der Hersteller nach und nach eingereicht und auch parallel von der EMA ausgewertet werden. Dieses Vorgehen beschleunigt den Bewertungsprozess, da gleichzeitig ältere Daten bewertet und neue erhoben werden können. Die Impfstoff-Hersteller können den Zulassungsantrag, den Biontech am 1. Dezember bei der EMA gestellt hatte, jedoch erst einreichen, wenn alle Daten vorliegen.

Schaubild zum zeitlichen Ablauf des beschleunigten (unten) und des normalen (oben) Zulassungsverfahrens der EMA. (Quelle: EMA / Screenshot: CORRECTIV)

Biontech und Pfizer teilten erste Daten im November in Pressemitteilungen mit

Susanne Stöcker, Pressesprecherin des Paul-Ehrlich-Instituts, das in Deutschland für die Sicherheit von Impfstoffen zuständig ist, erklärte uns per E-Mail, dass es vor den Zwischenauswertungen der dritten Phase der klinischen Studien „tatsächlich keine Erkenntnisse zur Wirksamkeit“ gegeben habe. 

Ein Zwischenergebnis meldeten Biontech und Pfizer erstmals am 9. November; abgeschlossen wurde die dritte Phase nach Aussagen des Unternehmens erst Mitte November, einen ganzen Monat nach dem Erscheinen des Interviews mit Wieler. 

Auszug aus der E-Mail von PEI-Pressesprecherin Susanne Stöcker. (Screenshot und Markierungen: CORRECTIV)

Die Daten, die Impfstoff-Hersteller selbst in Pressemitteilungen zur Wirksamkeit der Impfstoffe mitteilen, würden zudem als Datenbasis für die Bewertung der Impfstoffe nicht herangezogen, erklärt uns Susanne Stöcker: „[D]as Paul-Ehrlich-Institut hat immer betont, dass wir, so wie alle anderen Gesundheitsbehörden der Mitgliedstaaten in der EU, die Originaldaten sehen wollen [und uns] nicht auf Pressemitteilungen der Unternehmen verlassen (zu denen diese aus börsentechnischen Gründen verpflichtet sind).“

EMA: Bis zum Ende der dritten Phase werden noch Daten eingereicht

Eine Pressesprecherin der EMA schrieb uns via E-Mail, dass bis zur Zulassung der Impfstoffe noch Daten aus der Evaluation bei der EMA eingereicht würden. Die Daten würden jedoch nicht veröffentlicht und wurden noch am 1. Dezember ausgewertet, wie es auf einer Seite der Europäischen Kommission zum Zulassungsverfahren für Impfstoffe heißt. 

Der Impfstoff von Biontech hat laut des Herstellers als bisher einziger am 2. Dezember eine Notfallzulassung in Großbritannien erhalten. Für eine Zulassung für den europäischen Markt ist nach der Prüfung durch die EMA noch die Zustimmung der europäischen Kommission erforderlich. Wie uns die Pressesprecherin der EMA per E-Mail mitteilte, soll die Prüfung bis spätestens zum 29. Dezember abgeschlossen sein.

Die Daten der EMA würden dem RKI gar nicht übermittelt, sondern nur dem PEI, wie uns Pressesprecherin Susanne Stöcker per E-Mail mitteilte. Im Gegensatz zum RKI ist das PEI bei der Bewertung des Impfstoffes bei der EMA eingebunden

Fazit: RKI-Chef Lothar Wieler konnte Mitte Oktober, sechs Wochen vor der Zulassung des ersten Impfstoffs, die genaue Wirkungsweise und Wirksamkeit von Impfstoffen gegen Covid-19 aus relevanten Gründen noch nicht einschätzen.

Redigaturen: Till Eckert, Alice Echtermann

Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Faktencheck: 

  • Interview mit Lothar Wieler vom 15. Oktober 2020 auf Phoenix (Link)
  • Pressemitteilung der Europäischen Kommission zum Zulassungsverfahren von Impfstoffen vom 1. Dezember 2020 (Link)
  • Informationsseite der EMA zum Zulassungsverfahren von Impfstoffen (Link)
  • Informationsseite der Bundesregierung zu Impfstoffen und dem aktuellen Stand der Forschung zum Covid-19-Impfstoff (Link)
  • Pressemitteilungen von Biontech und Pfizer: 9. November (Link), 18. November (Link) und 1. Dezember (Link)