Faktencheck

Nein, eine US-Studie belegt nicht, dass die Covid-19-Impfung das Immunsystem „nachhaltig zerstört“

Eine Studie aus den USA belege angeblich, dass Covid-19-Impfungen das „Immunsystem nachhaltig zerstören“, wird auf mehreren Webseiten behauptet. Die Studie wird jedoch irreführend interpretiert. Sie belegt nichts dergleichen, sondern untersuchte, ob Covid-19-Impfstoff-Testprobanden ausreichend über potenzielle Risiken informiert wurden.

von Steffen Kutzner , Kathrin Wesolowski

COVID-19 Vaccination In Shenyang
Angeblich belegt eine Studie, dass Covid-19-Impfungen das Immunsystem zerstören. Dafür gibt es keine Belege. (Quelle: Picture Alliance / dpa / MAXPPP)
Behauptung
Eine Studie belege, dass der Covid-19-Impfstoff das Immunsystem nachhaltig zerstöre.
Bewertung
Unbelegt. Die Studie wird irreführend interpretiert. Sie belegt keine Schwächung des Immunsystems durch Covid-19-Impfstoffe, sondern untersuchte den Aufbau von Informationen für Studienprobanden.

„Riesen Skandal aufgedeckt: Covid-19-Impfung zerstört unser Immunsystem nachhaltig“, titelte die Seite Anonymous News am 14. November 2020. Auch auf den Webseiten Unsere Natur, Extrem News, Altermed Zentrum und 2020 News erschienen kurz darauf entweder identische oder inhaltlich sehr ähnliche Beiträge. 

Der Text von Anonymous News gibt als Autor Joseph Mercola an, alle anderen Beiträge beziehen sich auf Mercola als Quelle. Mercola ist ein US-amerikanischer Autor und Osteopath, der einen englischen Text mit dem Titel „How Covid-19 Vaccine Can Destroy Your Immune System“ (auf Deutsch: „Wie der Covid-19-Impfstoff dein Immunsystem zerstören kann“) am 11. November 2020 auf seiner Webseite veröffentlicht hatte. 

Studie wird irreführend interpretiert und beweist keine Gefahr für das Immunsystem durch Covid-19-Impfstoffe

Mercola zitiert eine US-amerikanische Studie von Oktober 2020 mit dem Titel „Informed consent disclosure to vaccine trial subjects of risk of Covid‐19 vaccines worsening clinical disease“ (auf Deutsch: „Aufklärung der Studienteilnehmer über das Risiko einer Verschlechterung der klinischen Erkrankung durch den Covid-19-Impfstoff“), die am 28. Oktober 2020 im International Journal of Clinical Practice veröffentlicht worden war. 

Mercola schreibt: „Die Studie […] zeigt, dass ‘Covid-19-Impfstoffe, die neutralisierende Antikörper hervorrufen sollen, Impfstoff-Empfänger für schwerere Krankheiten sensibilisieren könnten, als wenn sie nicht geimpft wären’.“ Dieses Zitat steht tatsächlich in der Studie. Was in den Berichten darüber jedoch nicht deutlich wird: Es handelt sich um eine theoretische Überlegung und keinen Beleg, dass das wirklich zutrifft. 

Die Studie befasste sich nicht unmittelbar mit den Wirkungen und Nebenwirkungen von Covid-19-Impfstoffen, sondern untersuchte Informationszettel, die Studienprobanden vorgelegt wurden.

Nach Recherchen von CORRECTIV.Faktencheck wird die Studie irreführend interpretiert. Sie beweist keine Gefahr für das Immunsystem durch Covid-19-Impfstoffe. Einer der Autoren betonte auf unsere Nachfrage auch, die Studie lasse solche Schlüsse nicht zu. 

Was sind infektionsverstärkende Antikörper?

Ende Oktober, als die Studie veröffentlicht wurde, gab es noch keine zugelassenen Covid-19-Impfstoffe – mehrere Kandidaten befanden noch in der Entwicklung und Erforschung. Bei klinischen Studien wurden die Impfstoffe an Probanden getestet

Die Behauptungen über die angebliche Zerstörung des Immunsystems beziehen sich auf Ausführungen der Studie über sogenannte „vaccine-elicited, antibody-dependant enhancement“ (ADE) beziehungsweise „vaccine associated enhanced disease“ (VAED). Auf Deutsch spricht man von infektionsverstärkenden Antikörpern. Es geht folglich um die Frage, ob Impfungen empfänglicher für schwere Krankheitsverläufe machen könnten.

Dies kann theoretisch durch „infektionsverstärkende Antikörper“ geschehen. Solche Antikörper sind jedoch keine Covid-19-spezifische Erscheinung. Sie können allgemein durch Impfmaßnahmen oder nach einer durchlebten Infektion entstehen. Sie machen den Patienten dann nicht immun, sondern bewirken das Gegenteil: Statt die später potenziell auftretende Viruslast im Körper zu senken, wird die Vermehrung der Viren begünstigt. Die Folge wäre, dass man bei einer zweiten Infektion oder nach einer Impfung eine stärkere Erkrankung hätte. Denn die Antikörper erleichtern es den Viren, sich an bestimmte Immunzellen zu binden und in sie einzudringen. Auf natürlichem Weg, also ohne einen Impfstoff, wurden sie beispielsweise beim Dengue-Fieber beobachtet

Bisher keine Hinweise auf infektionsverstärkende Antikörper durch Covid-19-Impfungen

Das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) erklärt auf seiner Webseite jedoch, dass es bisher bezüglich mRNA-Impfstoffen „keinerlei Hinweise auf eine verstärkte Covid-19-Erkrankung bei geimpften Personen“ gegeben habe. Die inzwischen in der EU zugelassenen Impfstoffe von Biontech und Moderna sind mRNA-Impfstoffe. Hierzu gibt auch die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung Entwarnung: „Bei mRNA- und Vektor-Impfstoffkandidaten gegen andere Infektionskrankheiten wurde ein ADE bisher nicht beobachtet.“

Die Studie aus den USA, auf die sich Joseph Mercola bezog, belegt nicht, dass eine Covid-19-Impfung infektionsverstärkende Antikörper hervorruft. Ihr Ziel war die Untersuchung ethischer Standards bei der Impfstoffforschung. Präziser ging es um die Frage, ob die Probanden ausreichend über das potenzielle Risiko informiert wurden, dass der Impfstoff sie empfänglicher für Covid-19 machen könnte. 

Studie befasste sich mit ethischen Standards von klinischen Studien

Die Studie kam zu dem Ergebnis, dass das Risiko infektionsverstärkender Antikörper gegenüber den Probanden nicht ausreichend dargelegt wurde, obwohl es „signifikant“ sei. Die Einschätzung dieses Risikos basierte jedoch nicht auf konkreten Untersuchungen von Nebenwirkungen von Covid-19-Impfstoffen. Solche Auswertungen enthält die Studie nicht. Sie ist deshalb kein Beleg, dass Covid-19-Impfstoffe das Immunsystem schwächen. 

Die Studienergebnisse könnten so nicht interpretiert werden, betont auch einer der Autoren, Timothy Cardozo, Biophysiker an der NYU Grossman School of Medicine. Wir haben ihn per E-Mail gefragt, ob seine Studie einen Beweis enthalte, dass Covid-19-Impfstoffe das Immunsystem zerstören könnten. Seine Antwort: „Absolut nicht.“ 

Die Gefahr infektionsverstärkender Antikörper durch Covid-19-Impfungen schätzt Cardozo als „unbekannt“ und „sehr unwahrscheinlich“ ein. Dennoch sei das Risiko seiner Ansicht nach hoch genug, dass es in den Informationen für die Studienprobanden deutlicher hätte dargestellt sein müssen.

Ausschnitt aus der E-Mail von Timothy Cardozo (Screenshot und Markierungen: CORRECTIV.Faktencheck)

Laut Paul-Ehrlich-Institut basieren die Sorgen über infektionsverstärkende Antikörper auf Tierversuchen mit anderen Coronaviren. Dabei zeigte sich, dass Tiere, die mit Nicht-mRNA-Impfstoffen gegen SARS- oder MERS-Viren geimpft worden waren, Immunphänomene zeigten, „ ohne dass aber eine Erkrankung der Tiere mit SARS oder MERS festgestellt wurde“. Es gebe aus klinischen Prüfungen mit mRNA-Impfstoffen „keinerlei Hinweise“ auf eine verstärkte Covid-19-Erkrankung bei geimpften Personen.

Fazit

Die Berichte führen in die Irre, weil sie suggerieren, eine Studie habe belegt, dass eine Covid-19-Impfung das Immunsystem zerstöre. Es gibt aktuell aber keine Hinweise darauf, dass das der Fall sein kann oder eine Impfung empfänglich für eine schwerere Erkrankung macht. Die angeführte Studie ist kein Beweis für diese Behauptung. Die Impfstoffe von Biontech und Moderna verringern laut der Europäischen Arzneimittelagentur EMA das Risiko einer Erkrankung mit Covid-19.

Redigatur: Alice Echtermann, Uschi Jonas

Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Faktencheck: 

  • Studie zu medizinisch-ethischen Standards von Studienprotokollen zu Covid-19-Impfstoffkandidaten (28. Oktober 2020): Link (Englisch)
  • Informationsseite des Paul-Ehrlich-Instituts zu infektionsverstärkenden Antikörpern: Link
  • Wissenschaftlicher Artikel über infektionsverstärkende Antikörper bei Dengue-Viren: Link