Begünstigen Impfungen gefährlichere Corona-Mutationen? Wissenschaftler widersprechen Geert Vanden Bossche
Ein offener Brief an die WHO schlug im März hohe Wellen im Netz: Geert Vanden Bossche, angeblich Impfexperte, behauptet darin, die aktuellen Covid-19-Impfungen würden zu gefährlicheren Mutationen des Coronavirus führen. CORRECTIV.Faktencheck hat mit vier Experten über die These gesprochen.
Die angebliche Meldung klang höchst alarmierend: Corona-Impfstoffe würden ein „unkontrollierbares Monster“ hervorbringen, zur „Immunflucht“ führen und gefährliche Mutationen des Coronavirus begünstigen. Die Behauptung verbreitete sich im März rasant über etliche Blogs und Webseiten, zum Beispiel bei RT Deutsch, Epoch Times, Connectiv Events oder Die Unbestechlichen. Auf Facebook etwa wurde ein Beitrag zum Thema von Michael Spitzbart, der schon mehrfach mit falschen Behauptungen zum Coronavirus aufgefallen ist, mehr als 3.000 Mal geteilt.
Der Urheber der These ist der Belgier Geert Vanden Bossche, der in den Berichten als „Impfexperte“ oder „anerkannter Top-Virologe“ bezeichnet wird.
Vanden Bossche ist nach eigenen Angaben Veterinärmediziner mit einem Abschluss in Virologie. Er hatte sich am 6. März mit einem offenen Brief an die WHO gewandt. Darin warnt er vor den angeblichen Gefahren der aktuellen Corona-Impfstoffe. Vanden Bossches These im Brief zusammengefasst: Je mehr ältere Menschen geimpft und folglich geschützt seien, desto mehr sei das Virus gezwungen, Jüngere zu infizieren. Deshalb würden die Impfstoffe zu weiteren Mutationen führen. Er spricht von der sogenannten Immunflucht („viral immune escape“ oder auch „Immunevasion“ genannt): Die neuen Virusvarianten seien so mutiert, dass das Immunsystem sie mit seinen Antikörpern nicht mehr bekämpfen könne. So werde das Virus angeblich gefährlicher.
Statt der aktuell eingesetzten Impfstoffe, die er als „ungeeignet“ für die Bekämpfung der Pandemie ansieht, schlägt Vanden Bossche vor, eine andere Technologie einzusetzen: sogenannte Natürliche Killerzellen oder „NK-Zellen“. Das sind Zellen, die im Rahmen der Immunabwehr beispielsweise Tumorzellen oder Zellen, die mit einem Virus infiziert sind, abtöten. Dieser Lösungsvorschlag entstand ganz offensichtlich nicht zufällig: Zu „NK-Zellen“ forscht und entwickelt Vanden Bossche laut seines Lebenslaufs (PDF) selbst seit zehn Jahren.
CORRECTIV.Faktencheck hat über die These mit vier Experten gesprochen. Sie alle widersprechen den Behauptungen. Dass Vanden Bossche in einem Atemzug die aktuellen Impfstoffe verunglimpft und für seine eigene Lösung wirbt, lässt außerdem auf einen Interessenkonflikt schließen.
Wie bewerten Wissenschaftler die Thesen von Geert Vanden Bossche?
Ralf Bartenschlager ist Leiter der Abteilung für Molekulare Virologie an der Uniklinik Heidelberg und Präsident der Gesellschaft für Virologie. Er gibt ein ganz grundsätzliches Problem bei den Thesen von Geert Vanden Bossche zu bedenken: „Es wird immer wieder der Eindruck erweckt, das Virus könne denken.“
Das sei aber gerade dann, wenn es um Mutationsvorgänge gehe, eine irreführende Sicht. Denn bei Mutationen handele es sich um Fehler bei der Vermehrung des Virus. Diese Fehler seien „rein zufällige Ereignisse“. Einige davon könnten dem Virus besser dabei helfen, sich zu vermehren, andere könnten ihm aber auch schaden. „Das Virus denkt sich nicht aus, wie es sich besser ausbreiten könnte, das ist ein reines Zufallsereignis als Ergebnis von zufälliger Mutation und entsprechender Selektion“, so Bartenschlager.
Mutationen seien immer dann zu erwarten, „wenn sich das Virus ungehindert verbreiten kann“ es also „eine geringe gesellschaftliche Immunität“ gebe, erklärt Carsten Watzl. Er ist Leiter des Fachbereichs Immunologie am Leibniz-Institut für Arbeitsforschung an der Universität Dortmund und Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Immunologie. Diese Immunität sei aber durch Impfungen zu erreichen, insofern verhinderten die Impfungen sogar die Entstehung von neuen Mutationen. Vanden Bossches These, dass das Impfen zu gefährlicheren Mutationen führe, sei somit falsch.
Diese Sicht vertritt auch Virologe Björn Meyer vom Institut Pasteur in Paris, das zu Infektionskrankheiten forscht. Die Impfungen sorgten dafür, dass Menschen eine starke Immunität entwickelten, so sei dann auch „die Hürde für Viren zu hoch, diese durch Mutationen zu überkommen.“ Mutationen seien dann zu erwarten, wenn die Immunität „eher schwach“ sei und nicht ausreiche, um „das Virus zu neutralisieren“.
Darüber, dass eine zu schwache Immunantwort oder zu schwache Impfstoffe eine Immunflucht begünstigen könnten, berichtete im Januar auch die Deutsche Welle.
Wie wahrscheinlich ist eine Mutation, die zur „Immunflucht“ führt?
Aktuell führt das RKI drei „besorgniserregende SARS-CoV-2-Virusvarianten“ auf, die besonders übertragbar oder ansteckend sind, oder der natürlichen Immunantwort besonders gut entgehen können: die britische Variante (B.1.1.7), die südafrikanische Variante (B.1.351) und die brasilianische Variante (P.1). Diese Varianten sind im September, Oktober und November 2020 erstmals nachgewiesen worden, also vor Beginn der ersten Covid-19-Impfungen.
Von diesen drei Virusvarianten konnte sich die britische bisher am stärksten in Deutschland durchsetzen. Laut eines Berichts des RKI war sie für 88 Prozent der Neuinfektionen in der Woche vom 22. bis 28. März 2021 verantwortlich. Diese Variante ist laut RKI vor allem ansteckender und vermehrungsfähiger, es gebe aber keine Hinweise darauf, dass die Wirksamkeit der bisher zugelassenen Impfstoffe gegen die Variante „substantiell verringert“ sei.
Molekularvirologe Bartenschlager erklärt die starke Verbreitung der britischen Variante mit der Tatsache, dass dass sie wesentlich effizienter übertragen werde. Eine Variante mit Immun-Escape (Immunflucht) habe in Deutschland bisher kaum einen Reproduktionsvorteil, weil in Deutschland bisher nur ein Teil der Menschen geimpft sei bzw. die Infektion durchgemacht habe. Die meisten Menschen in Deutschland hätten also keine Immunität, weshalb sich Varianten, die keine Immunflucht machen, genauso gut ausbreiten wie Varianten, die der Immunantwort entkommen.
Das sieht auch Marco Binder, Leiter der Forschungsgruppe „Dynamik der Virusreplikation und der angeborenen antiviralen Immunantwort“ am Deutschen Krebsforschungszentrum so: „Aktuell dürfte das SARS-CoV-2 keinem extrem starken Selektionsdruck unterliegen, da es sich ja bereits hervorragend verbreitet.“
Wie wahrscheinlich sind noch gefährlichere Mutationen?
Das Auftreten von neuen Varianten von SARS-CoV-2, die der Immunantwort komplett entkommen, hält Virologe Bartenschlager aus mehreren Gründen für eher unwahrscheinlich. Einerseits sei zu beobachten, dass die Antwort des Immunsystems, die durch eine Impfung ausgelöst werde, in aller Regel besser sei, als nach einer natürlichen Infektion. Somit würden „auch die Virusvarianten durch eine Immunisierung nach einer Impfung besser erfasst als nach einer vorher durchgemachten Infektion“.
Andererseits sei die Mutationsfähigkeit des Coronavirus begrenzt. Das könne man zum Beispiel daran erkennen, dass funktionsfähige Mutanten mit bestimmten Schlüsselmutationen, wie sie etwa in der britischen oder südafrikanischen Variante zu finden seien, an verschiedenen Orten auf der Erde unabhängig voneinander entstanden seien. „Bisher sehen wir über die bekannten Varianten hinaus eigentlich keine, die einen noch stärkeren Immun-Escape machen“, sagt Bartenschlager. Seine optimistische Einschätzung sei, dass man bereits viele mögliche Virusmutationen gesehen habe, auch wenn nicht vorhersehbar sei, ob über einen längeren Zeitraum hinweg doch noch stärkere Immun-Escape Varianten entstehen könnten.
Auch Marco Binder erklärt, dass vor allem das Spike-Protein, mit dem das Virus an die Zellen im menschlichen Körper andockt, bereits sehr gut angepasst sei. Eine Studie (hier oder hier) spreche dafür, dass „die aktuellen Varianten schon fast das Optimum“ der Anpassung erreicht hätten. Er glaube nicht, dass sich dieser Bestandteil des Virus „noch deutlich verbessern ließe“. Das Immunsystem greift das Virus außerdem an so unterschiedlichen Stellen an, „dass ein gleichzeitiger Escape all dieser Angriffspunkte unwahrscheinlich“ sei.
Coronavirus kann nur begrenzt mutieren
Die Mutationsfähigkeit von SARS-CoV-2 sei auch deswegen geringer als bei anderen RNA-Viren, erklärt Ralf Bartenschlager, weil das Coronavirus ein großes Genom habe. Das heißt, dass die Erbinformation des Virus in einer großen Sequenz vorliegt. Das habe aber einen Nachteil: „Je größer das Genom ist, desto genauer muss dessen Reproduktion sein.“
Würden bei der Genomvervielfältigung zu viele Fehler gemacht, also zu viele Mutationen entstehen, bestünde die Gefahr, dass dieses Genom nicht mehr funktionsfähig sei. Teilweise seien mehrere Mutationen notwendig, um eine Virusvariante mit neuen Eigenschaften hervorzubringen. Damit sinke aber auch die Wahrscheinlichkeit, dass eine solche Mutante auftrete.
Aktuell sei es vor allem wichtig, mit den Impfungen voranzukommen. Diese seien auch gegen die aktuellen Virusvarianten effektiv und verhinderten entweder die Infektion oder zumindest schwere Krankheitsverläufe. Insbesondere die mRNA-Impfstoffe seien „schnell anpassbar, so dass man auch gegen neue Virusvarianten“ immunisieren könne, betont Ralf Bartenschlager.
Insgesamt ergibt sich aus den Antworten der von uns befragten Experten: Ja, das Coronavirus steht durch die Impfungen unter einem gewissen Selektionsdruck, was die Ausbreitung von Virusvarianten mit Immunflucht begünstigen könnte. Aber das bedeutet nicht, dass die aktuellen Impfstoffe gefährliche Mutationen begünstigen oder unwirksam seien. Einig sind sich die Experten darin, dass die aktuelle Impfkampagne alternativlos sei – selbst wenn Impfstoffe gegen einige Mutationen weniger wirksam sein könnten, verhinderten sie dennoch nach aktuellem Wissensstand schwere Verläufe der Erkrankung.
Wer ist Geert Vanden Bossche?
In den Medienberichten, die die Behauptungen Vanden Bossches aufgreifen, wird immer wieder darauf hingewiesen, dass er bei namhaften Unternehmen und Stiftungen gearbeitet habe und daher ein Experte im Bereich der Impfstoffentwicklung sei.
Auf der Seite Connectiv Events heißt es beispielsweise, Vanden Bossche sei „Entwickler von Impfstoffen“, außerdem „ehemaliger Mitarbeiter bei der globalen Impfvereinigung Gavi“ und beim Unternehmen Novartis. Er habe außerdem für die Bill and Melinda Gates Foundation gearbeitet und sei ein „ausgewiesener Experte“. Alle Angaben finden sich auch im Lebenslauf des Belgiers, den er auf seiner Homepage veröffentlicht hat.
Alle genannten Stiftungen und Unternehmen bestätigten CORRECTIV.Faktencheck, dass Vanden Bossche tatsächlich für sie gearbeitet habe. Einzig das Unternehmen Novartis wies darauf hin, dass man aus datenschutzrechtlichen Gründen keine Auskunft erteilen könne.
Die internationale Impfallianz Gavi schrieb uns, Vanden Bossche habe zwar von März 2015 bis März 2016 für die Allianz gearbeitet, er sei jedoch Koordinator eines Ebola-Impfprogramms gewesen. Mit der Entwicklung von Impfstoffen habe er nichts zu tun gehabt.
Seit Mitte der 1990er Jahre hat Vanden Bossche nach eigenen Angaben keine Artikel mehr veröffentlicht. Zu Thema Impfstoffe findet sich in seinem Lebenslauf lediglich eine Veröffentlichung.
Dieser Artikel von 2017 mit dem Titel „Act universally, think NK cells?“ erschien im Journal of Molecular Immunology. Die Zeitschrift hatte lediglich fünf Ausgaben, die zwischen 2016 und 2018 erschienen. Sie gehört laut eigenen Angaben zur Omics Gruppe, die laut einem Medienbericht als sogenannter „Raubverleger“ gilt. Solche Verlage erwecken mit E-Mails und Webseiten den Eindruck, dass es sich um seriöse Unternehmen handele. Allerdings halten sie wissenschaftliche Veröffentlichungsstandards wie Begutachtungsprozesse nicht ein. In den USA wurde der indische Konzern zu einer Strafe von 50 Millionen Dollar verurteilt, weitere Tätigkeiten in den USA wurden ihm untersagt.
Stellen Impfungen mit „NK-Zellen“ wirklich eine Alternative dar?
Impfstoffe auf Basis von sogenannten natürlichen Killerzellen, wie sie Geert Vanden Bossche in seinem offenen Brief als Alternative zu den bisher eingesetzten Impfstoffen vorschlägt, sind den Experten Ralf Bartenschlager und Marco Binder nach eigenen Angaben „völlig unbekannt“.
Immunologe Carsten Watzl weist darauf hin, dass es aktuell „überhaupt keine NK-Zellen-Impfung gibt und auf absehbare Zeit auch nicht geben“ werde. „Wenn wir darauf warten“, sagt er, „dann ist die Pandemie lange vorbei.“
Redigatur: Uschi Jonas, Alice Echtermann
Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Hintergrundbericht:
- Webseite des RKI „Übersicht und Empfehlungen zu besorgniserregenden SARS-CoV-2-Virusvarianten“: Link
- Bericht des Robert Koch-Institus „Virusvarianten von SARS-CoV-2 in Deutschland, insbesondere zur Variant of Concern (VOC) B.1.1.7“: Link
- Webseite „Global Report Investigating Novel Coronavirus Haplotypes“: Link
Update, 22. April: Wir haben Teaser und Überschrift und den Text an einer Stelle konkretisiert, um herauszustellen, dass es grundsätzlich zu dem von Vanden Bossche angesprochenen Problem neuer Virusvarianten mit Immunflucht kommen kann, diese Mutationen aber nicht auf die Impfungen zurückzuführen sind und auch nicht bedeuten, dass aktuellen Impfstoffe unwirksam sind.