Video von Sahra Wagenknecht: Intensivbetten-Statistik erneut falsch interpretiert
Werden in der Corona-Pandemie Intensivbetten abgebaut, um den Lockdown oder die Corona-Maßnahmen zu begründen? Das unterstellen einige Beiträge in Sozialen Netzwerken. Als Beleg dient ein Video der Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht, die über eine Grafik aus dem DIVI-Intensivregister spricht. Doch den Behauptungen fehlt Kontext.
Die Behauptung, dass Intensivbetten in Deutschland abgebaut werden, taucht in Sozialen Netzwerken immer wieder auf. Aktuell heißt es unter anderem auf der Facebook-Seite Horizonworld: Es seien tausende Intensivbetten aus der Statistik „verschwunden“, um eine Pandemie zu „erschaffen“ und den „Lockdown“ zu begründen. Als Beleg führt Horizonworld ein Video der Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht an. Ein weiterer Beitrag bezieht sich auf einen Bericht von Bild von April 2021. Sowohl Bild als auch Wagenknecht beziehen sich auf Daten aus dem DIVI-Intensivregister. Dieselbe oder ähnliche Behauptungen werden auch hier und hier geteilt.
CORRECTIV.Faktencheck berichtete bereits im Dezember darüber, dass die Daten aus dem Intensivregister nicht die Anzahl aller vorhandenen Intensivbetten darstellen. Sie zeigen stattdessen die Zahl der betreibbaren Intensivbetten, die je nach verfügbarem Personal oder beispielsweise medizinischen Geräten schwanken kann. Zudem verändert sich auch die Zählweise der Deutsche Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI). Die Behauptung, die Pandemie sei konstruiert, ist folglich irreführend.
Intensivbetten in Deutschland: Zahlen werden irreführend dargestellt
Zunächst haben wir uns die in den Beiträgen von Horizonworld genannten Quellen angesehen. Beide Original-Beiträge – der von Sahra Wagenknecht und der von Bild – beziehen sich auf das DIVI-Intensivregister. Der Bericht von Bild trägt die Überschrift: „Sind 9000 Intensiv-Betten einfach ‘verschwunden’?“ Die Antwort bleibt jedoch zahlenden Abonnenten vorbehalten. Erklärt wird darin, dass es weniger Intensivbetten gibt, unter anderem weil es an Personal fehlt.
Das Video von Sahra Wagenknecht wurde ursprünglich am 25. März auf Youtube veröffentlicht. Wagenknecht sagt darin ab Minute 12.10: „Also im zweiten Halbjahr 2020 sind irgendwie 6.000 Intensivbetten aus der Statistik verschwunden, keiner weiß warum“. Dazu müsse man wissen, dass in der Hochphase der zweiten Welle in Deutschland 6.000 Menschen wegen Covid-19 intensivmedizinisch behandelt werden mussten. „6.000, das ist genau die Zahl der Intensivbetten, die man aber eben elegant abgebaut hat und dann erzählen sie uns, man würde alles tun damit Intensivbetten nicht überlastet sind. Und klar, braucht man nicht nur die Betten, sondern auch das Personal.“
Genau das ist aber der Punkt: Im DIVI-Intensivregister wird täglich der gemeldete Ist-Zustand der tatsächlich betreibbaren Intensivbetten veröffentlicht. Es enthält Daten, die Krankenhäuser selbst melden. Dafür spielt es beispielsweise eine Rolle, ob ausreichend Personal und Ressourcen zum Betrieb eines Intensivbetts vorliegen.
Darüber hinaus spielen auch andere Regelungen eine Rolle: Zum Beispiel regelt die Pflegepersonaluntergrenzen-Verordnung, wie viele Patientinnen und Patienten eine Pflegekraft in der Intensivmedizin maximal versorgen darf. Vom 1. März bis 31. Juli 2020 wurde die Verordnung aufgrund der Pandemie zeitweise ausgesetzt.
Die Grafik stellt also nicht die Zahl der theoretisch verfügbaren Intensivbetten dar. Fallen beispielsweise Mitarbeiter wegen Krankheit aus oder ist nicht genug Pflegepersonal verfügbar, wird das Bett demnach nicht in der Statistik aufgeführt.
In einem Leitfaden weist die DIVI zudem darauf hin, dass Zahlen aus unterschiedlichen Zeiträumen nicht direkt vergleichbar seien. Gründe seien jeweils andere Datengrundlagen und unregelmäßiges Meldeverhalten. Die Daten sollen lediglich einen Überblick über die Situation geben, wie beispielsweise die Faktenchecker vom BR hier ausführlich berichteten.
Im August 2020 wurde die Erfassungsmethode geändert – ein Teil der Betten wird als „Notfallreserve“ gemeldet
Auf ihrer Internetseite weist die DIVI darauf hin, dass am 4. August eine neue ICU-Kapazitätserfassung eingeführt wurde. (Die Abkürzung ICU steht für „Intensive Care Unit“, Englisch für Intensivstation.) Seit Anfang August wird im Intensivregister zusätzlich zu den betreibbaren Intensivbetten eine „Notfallreserve“ angegeben. Das sind laut DIVI Intensivbetten, die „zusätzlich geschaffen wurden, aktuell inaktiv gehalten werden und nicht Gegenstand der täglichen Bettenplanung sind“. (Nachzulesen unter „Welche Daten werden im Intensivregister erhoben?“)
Auf der Erklärungsseite zum Register heißt es: „Die Angaben zur Anzahl der freien betreibbaren Bettenkapazitäten haben sich in den folgenden Meldungen reduziert. Die Daten legen nahe, dass ein Teil der vorher gemeldeten freien Bettenkapazitäten nun als Notfallreservekapazität gemeldet wird.“ (Nachzulesen unter „Worauf ist bei der Interpretation und beim Vergleich von Zahlen zu achten?“)
Bezieht man die Notfallreserve in die Rechnung mit ein, ist die Zahl der Intensivbetten im August 2020 sogar gestiegen.
Darum sinkt die Zahl der Intensivbetten in Deutschland
Grund für die Verringerung der Betten ist vor allem die Personalsituation. Insgesamt hat ein Covid-19-Patient einen höheren Personalbedarf als ein durchschnittlicher Intensivpatient. Statistisch gesehen verbrauche er „deutlich mehr als ein Bett“, sagte uns ein Sprecher der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) bereits im Dezember 2020. Auch er betonte: Die Gesamtzahl der Intensivbetten könne stark schwanken, abhängig zum Beispiel vom Krankenstand des Personals, vor allem aber vom Anteil der Patienten mit besonders hohem Personalbedarf.
Ein Sprecher der DIVI schrieb uns zu den aktuellen Daten am 20. April: „Zu 100% belegbar haben wir die Gründe leider nicht bei uns in der Erfassung. Wir können also selbst die Verläufe der Kurve auch nur interpretieren. Rein statistisch ist das aber natürlich logisch: Eine Verschärfung des Pflegeschlüssels muss sich auch auf die Anzahl der betreibbaren Betten auswirken. Denn diese dürfen ja nur als betreibbar im Intensivregister gemeldet werden, wenn das notwendige Personal nach diesem Schlüssel tatsächlich vorhanden ist.“
Im Rahmen des Intensivregisters werde die Einschätzung der Meldenden abgefragt, weshalb sich Einschränkungen der Betriebssituation ergeben. Eine interne Grafik zeige demnach: „Der am stärksten limitierende Faktor ist nach Einschätzung der Meldenden tatsächlich die Personalsituation, vor allem auch jetzt in der dritten Welle wieder.“
Fazit: Die Daten aus dem DIVI-Intensivregister belegen nicht, dass bundesweit tausende Intensivbetten „abgebaut“ wurden oder „verschwunden“ sind. Die Daten stellen lediglich ein Bild der aktuellen Lage dar. Belege, dass ein Rückgang der Intensivbetten-Zahlen, absichtlich herbeigeführt wurde, gibt es nicht.
Redigatur: Tania Röttger, Matthias Bau
Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Faktencheck: