Faktencheck

Nein, Extrakt der Zistrose ist keine Alternative zum Covid-19-Impfstoff

In einem Artikel des „Wochenblick“ wird unter Anführung mehrerer vermeintlicher Quellen behauptet, der Extrakt der Zistrose, einer Pflanze, die im Mittelmeerraum wächst, wirke „zu 100 Prozent“ gegen Covid-19-Erkrankungen und sei eine Alternative zur Impfung. Das ist falsch.

von Steffen Kutzner

Graubehaarte Zistrose
Die Zistrose sei angeblich eine Alternative zu Covid-Impfungen, behauptet der Wochenblick. Das stimmt nicht. (Symbolbild: Picture Alliance / imageBROKER / Diez, O.)
Behauptung
Der Extrakt der Zistrose, beziehungsweise das Präparat „Cystus 052“, wirke „zu 100 Prozent“ gegen Covid-19-Infektionen. Es sei eine Alternative zur Impfung.
Bewertung
Größtenteils falsch
Über diese Bewertung
Größtenteils falsch. Der Extrakt der Zistrose hat zwar in einigen Untersuchungen in vergangenen Jahren eine virenhemmende Wirkung gezeigt, aber die Wirksamkeit beim Menschen ist umstritten. Es gibt keine Belege, dass das Präparat vor Covid-19 schützen kann.

„Es muss nicht immer gleich die Impfung sein!“ Mit diesem Satz beginnt ein Artikel auf dem österreichischen Blog Wochenblick, der seit der Veröffentlichung am 10. Mai 2021 mehr als 2.000 Mal auf Facebook geteilt wurde. In dem Artikel wird unter Anführung einer ganzen Reihe von Quellen versucht, den Extrakt der Zistrose als eine sinnvolle Alternative zu Covid-19-Impfungen darzustellen. Auch in anderen Artikeln macht der Wochenblick nach unseren Recherchen regelmäßig Stimmung gegen das Impfen (hier, hier und hier).

Im Wochenblick-Artikel ist stets von „Cystus 052“ die Rede. Das ist der Name des Extraktes einer spezifischen Zistrosen-Art, der unter anderem als Lutschtablette von einem bestimmten Hersteller verkauft wird. Es gibt auch andere Präparate mit Zistrosen-ExtraktWochenblick erwähnt jedoch ausschließlich dieses Produkt und bezeichnet seine Wirkung als „sensationell“ und „phänomenal“, was dem Artikel einen werblichen Charakter verleiht. 

Die Zistrose ist eine Heilpflanze, die im Mittelmeerraum wächst und in Nahrungsergänzungsmitteln verwendet werden darf. Der Extrakt einer bestimmten Zistrosen-Art hat zwar in Untersuchungen virushemmende Wirkung gezeigt, aber die Forschung ist umstritten. 

Ob der Extrakt tatsächlich Menschen vor dem SARS-CoV-2-Virus schützen kann, ist nicht bewiesen. Dass die Pflanze ohne irgendwelche Nebenwirkungen „zu 100 Prozent gegen Corona“ wirke, wie es vom Wochenblick behauptet wird, ist falsch und irreführend.

Wir zeigen Schritt für Schritt, was die im Text des Wochenblicks genannten Personen und Institutionen wirklich untersucht und gesagt haben und legen dar, wie durch die Vermischung von oft richtigen Aussagen bei Lesenden ein falscher Eindruck entstehen kann.

Fraunhofer-Institut: Ergebnisse seien „keinesfalls“ ausreichend für verbindliche Aussagen über Wirksamkeit von Zistrosen-Extrakt gegen SARS-CoV-2

Als erste Quelle wird im Text vom Wochenblick das Fraunhofer-Institut Leipzig genannt. Die Lutschtabletten „Cystus 052“ hätten dort bei Untersuchungen angeblich eine „phänomenale“ Wirkung gegen Viren und Bakterien gezeigt. Dass es eine Laboruntersuchung bezüglich SARS-CoV-2 gab, stimmt auch. Aber nicht zu den besagten Lutschtabletten. Zudem wurde generell keine Wirksamkeit gegen SARS-CoV-2 beim Menschen belegt.

Dem Wochenblick-Text ist nachträglich auch ein Statement des Fraunhofer-Instituts für Zelltherapie und Immunologie in Leipzig beigefügt worden. Darin heißt es: „Es ist korrekt, dass unter Zugabe des Extraktes ein hemmender Effekt auf die Virusvermehrung beobachtet werden konnte.“ Dies sei jedoch nur in Zellkulturen nachgewiesen worden. Das sei „noch lange kein Beleg für eine medizinische oder prophylaktische Wirksamkeit“. 

Ein Sprecher des Instituts bestätigte uns die Aussagen des Statements auch auf Nachfrage per E-Mail. Auf seiner Webseite wies das Institut bereits im Januar 2021 darauf hin, dass die zugehörige Forschung irreführend zitiert werde.

Ob der Extrakt der Zistrose eine Infektion mit SARS-CoV-2 verhindern könne, sei gar nicht Gegenstand der Untersuchung gewesen. Dafür würden klinische Studien betrieben werden müssen, die aber nicht geplant seien. Die bisherigen Erkenntnisse reichten „keinesfalls aus, um irgendwelche Aussagen zur medizinischen Anwendung und Wirksamkeit im Menschen zu treffen“, so das Institut im Statement unter dem Wochenblick-Artikel. Auch Aussagen zu etwaigen Nebenwirkungen ließen sich nicht aus Versuchen mit Zellkulturen ableiten.

Stephan Ludwig untersuchte Influenzaviren in Zellkulturen und bei Mäusen, nicht Coronaviren bei Menschen

Als zweite Quelle wird von Wochenblick der Molekularbiologe Stephan Ludwig von der Universität Münster angeführt. Laut ihm seien die im Zistrosen-Extrakt enthaltenen „Polyphenole und Flavonoide“ verantwortlich für eine „100-fach stärkere Wirkung“ als etwa durch Grippe-Medikamente wie Tamiflu, wird bei Wochenblick behauptet. 

Dazu wurde ein Text vom Deutschen Naturheilbund verlinkt. Darin wird Stephan Ludwig so zitiert: „Der antivirale Effekt der mediterranen Heilpflanze wirkt, je nach Virusart, bis zu 100-mal stärker als Neuraminidasehemmer.“ Der Autor des Artikels ist ein Heilpraktiker und Buchautor namens Horst Boss, dessen Video über Zistrosen-Extrakt auch im Artikel von Wochenblick verlinkt wurde. Auf seiner eigenen Webseite bewirbt Boss aktuell auch das Produkt „Cystus 052“.

Wir haben Stephan Ludwig kontaktiert: Wie auch das Fraunhofer-Institut verweist er darauf, dass er keine Studien bezüglich der Wirksamkeit von „Cystus 052“ gegen SARS-CoV-2 beim Menschen durchgeführt habe. Stattdessen ging es um Influenza-Viren in Zellkulturen und bei Mäusen. Er war an zwei Untersuchungen dazu beteiligt, die 2007 in der Zeitschrift Antiviral Research veröffentlicht wurden (hier und hier).

Von einer „100 prozentigen Wirkung“ zu sprechen, sei eine „viel zu weit gehende Aussage“, schreibt uns Ludwig. Auch dass Polyphenole für die antivirale Wirkung verantwortlich seien, sei lediglich eine Vermutung. Was aus Ludwigs Versuchen hervorging, war die Erkenntnis, dass das Zistrosen-Extrakt in Zellkulturen und bei Versuchsmäusen gegen Grippeviren wirken kann – nicht gegen Coronaviren. 

Auszug aus der E-Mail von Stephan Ludwig
Auszug aus der E-Mail von Stephan Ludwig (Screenshot und Markierungen: CORRECTIV.Faktencheck)

2009 erschien zu der Zistrosen-Forschung ein kritisches Interview in der Deutschen Apotheker-Zeitung. Eine Gruppe von Wissenschaftlern kritisierte darin unter anderem das Design der Studien. In Tierversuchen seien die Tiere zudem mit Aerosol behandelt worden, nicht mit Lutschpastillen, weshalb sich die Erkenntnisse auf diese Darreichungsform nicht übertragen ließen. Insgesamt lehnten die Forschenden den Einsatz der Lutschtabletten als Mittel zur Influenza-Vorbeugung ab. 

Mitautor der Zistrose-Studien: Aussage zu Covid-19 „ergibt in dem Zusammenhang keinen Sinn“ 

Als dritte Quelle werden im Text von Wochenblick Studien der Universitäten Tübingen und Münster und des Helmholtz-Zentrums München genannt. Diese hätten schon 2005 die Wirksamkeit von „Cystus 052“ gegen Viren bestätigt, wird behauptet. Als Quelle wird auf das Haller Kreisblatt verwiesen. 

In dem Kreisblatt-Bericht von Januar 2021, in dem es ebenfalls um die Wirksamkeit des Präparates gegen Covid-19 geht, ist jedoch nur von einer Studie aus dem Jahr 2011 von der Universitätsklinik Münster, dem Friedrich-Löffler-Institut Tübingen und der Charité in Berlin die Rede. Es kommt außerdem der Hersteller von „Cystus 052“ zu Wort. Er habe betont, dass sich die früheren Erfolge „nicht ohne Weiteres auf den neuartigen SARS-CoV-2-Erreger“ übertragen ließen.

Wir haben bei dem Immunologen Oliver Planz nachgefragt, der 2011 am Friedrich-Löffler-Institut in Tübingen arbeitete (und auch 2007 an der Forschung mit Stephan Ludwig beteiligt war). Auf die Frage, ob die Forschungsergebnisse die Behauptung stützen, die Lutschtabletten „Cystus 052“ wirkten „zu 100 Prozent“ gegen das Coronavirus, erklärt Planz per E-Mail, diese Aussage ergebe „in diesem Zusammenhang keinen Sinn“. 

An der Studie von 2011 war laut dem Artikel des Haller Kreisblatts zudem die Berliner Charité beteiligt. Auch dort haben wir nachgefragt. 

Charité Berlin: Positive Wirkung bei Erkrankungen der oberen Atemwege, aber keine Untersuchung zu Covid-19

Ein Sprecher der Charité teilte uns per E-Mail mit, man habe dort die Wirkung von Zistrose-Extrakt auf Menschen mit Atemwegsinfektionen untersucht. Er erläutert uns per E-Mail: „Die Studienverantwortlichen haben ambulante Patientinnen und Patienten mit respiratorischen akuten Infektionen (bakteriell, viral) entweder mit Cistus-Tabletten oder Placebo-Tabletten behandelt und innerhalb einer Woche zweimalig untersucht. […] Bei dieser Doppelblindstudie war Cistus dem Placebo bei der Abnahme der Infektparameter und den klinischen Symptomen überlegen.“ 

Der Sprecher der Berliner Charité betont in seiner E-Mail an uns, dass sich die Erkenntnisse von 2011 nicht auf Covid-19 übertragen lassen: „Es wurden Patientinnen und Patienten mit Infektionen der oberen Atemwege und nicht der tiefen Atemwege, wie bei Covid-19 ebenfalls betroffen, untersucht.“

Helmholtz-Zentrum München: Einordnung als „Alternative zur Impfung“ sei „sehr kritisch“ zu betrachten

Laut Wochenblick führte auch das Helmholtz-Zentrum München angeblich 2005 Studien dieser Art durch. Eine Pressesprecherin teilte uns jedoch auf Anfrage mit, eine Studie von 2005 gebe es nicht. Das Helmholtz-Zentrum bewertet die Behauptung, „Cystus 052“ sei eine Alternative zu Covid-Impfungen, uns gegenüber „sehr kritisch“. Es gebe keine Belege dafür. 

Zistrosen-Extrakt wurde am Helmholtz-Zentrum 2016 hinsichtlich HIV-Infektionen untersucht, schrieb uns die Pressesprecherin weiter. Dabei zeigte sich, dass die Infektion durch Inhaltsstoffe des Präparates gehemmt werden konnte. Studien bezüglich Zistrosen-Extrakten und Covid-19 beim Menschen seien dem Helmholtz-Zentrum nicht bekannt.

Auszug aus der E-Mail einer Pressesprecherin des Helmholtz-Zentrums München
Auszug aus der E-Mail einer Pressesprecherin des Helmholtz-Zentrums München (Screenshot und Markierungen: CORRECTIV.Faktencheck)

Als letzte Quelle nennt der Wochenblick-Text den Mediziner Jens-Martin Träder, der aktuell am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein tätig ist. Träder empfehle, so heißt es im Text, zur vorbeugenden Anwendung dreimal pro Tag zwei Lutschtabletten „Cystus 052“ einzunehmen. 

Träder: Zistrose ist keine Alternative zur Impfung

Auf unsere Anfrage hin schickte Träder uns einen aktuellen Artikel von sich aus der Zeitschrift Erfahrungsheilkunde. Darin schreibt er über die am Anfang dieses Faktenchecks bereits erwähnte Untersuchung am Fraunhofer-Institut für Zelltherapie und Immunologie in Leipzig (von dem die Gegendarstellung am Ende des Wochenblick-Artikels stammt). Dort sei mit Zellkulturen untersucht worden, ob Zistrosen-Extrakt die Vermehrung von SARS-CoV-2 hemmen kann. Träder schlussfolgert: „Aufgrund der hohen In-vitro-Aktivität [in den Laborversuchen, Anm. d. Red.] erscheint es sinnvoll, den Extrakt als Prophylaxe gegen Infektionen mit SARS-CoV-2 einzusetzen.“ 

In seinem Text zitiert Träder auch einen weiteren wissenschaftlichen Artikel aus der Zeitschrift für Phytotherapie von 2020. Darin geht es darum, dass 125 Patienten einer Hausarztpraxis freiwillig über sechs Wochen hinweg dreimal täglich zwei Lutschtabletten des Zistrose-Extraktes einnahmen. „Bis zum Ende der Studie hatte sich keiner der Teilnehmer mit SARS-CoV-2 infiziert“, schreibt Träder in seinem Artikel. 

Träder sagt uns, er sehe „ermutigende Ergebnisse“, dass Zistrosen-Extrakt vor einer Infektion mit dem Coronavirus schützen könnte. Die Aussage, es sei „zu 100 Prozent wirksam“ wolle er so jedoch nicht stehen lassen. „Eine Übertragbarkeit auf In-vivo-Untersuchungen ist nicht gegeben und steht noch aus“, schreibt Träder in seiner E-Mail an uns. Eine Alternative zur Impfung sei der Extrakt der Zistrose nicht. 

Auszug aus der E-Mail von Jens-Martin Träder
Auszug aus der E-Mail von Jens-Martin Träder (Screenshot und Markierungen: CORRECTIV.Faktencheck)

Auch in seinem Artikel in der Zeitschrift Erfahrungsheilkunde über Covid-19 schreibt Träder, dass der Extrakt lediglich eine „Ergänzung zu bevorstehenden Impfungen“ sei.

Fazit: Es gibt Forschende, die die Wirkung von Zistrosen-Extrakt auf Viren untersucht haben und bei anderen Erkältungs- oder Grippeviren eine antivirale Wirkung in Versuchen mit Zellkulturen und Mäusen sehen. Die Übertragbarkeit der Ergebnisse auf Menschen ist jedoch wissenschaftlich umstritten.

Dass der Extrakt oder speziell die Lutschtabletten „Cystus 052“ Menschen tatsächlich vor SARS-CoV-2 schützen können, ist auch laut unserer Quellen nicht belegt. 

In Form von Lutschtabletten ist der Extrakt laut Verbraucherzentrale lediglich ein Nahrungsergänzungsmittel. „Für eine antivirale Wirkungsweise des Lebensmittels / Nahrungsergänzungsmittels Zistrose gibt es keinerlei Belege“, heißt es auf der Webseite der Verbraucherzentrale

Redigatur: Alice Echtermann, Uschi Jonas

Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Faktencheck:

  • Deutsche Apotheker-Zeitung: Kritisches Interview zu Studien bezüglich „Cystus 052“ (2009): Link
  • Artikel zu Zistrose-Extrakt der Verbraucherschutzzentrale (2021): Link
  • Studie des Helmholtz-Zentrums München zu Zistrose-Extrakt und HIV (2016): Link
  • Publikation u.a. von Oliver Planz und Stephan Ludwig, „A polyphenol rich plant extract, CYSTUS052, exerts anti influenza virus activity in cell culture without toxic side effects or the tendency to induce viral resistance“ (2007): Link
  • Publikation u.a. von Oliver Planz und Stephan Ludwig, „CYSTUS052, a polyphenol-rich plant extract, exerts anti-influenza virus activity in mice“ (2007): Link
  • Beobachtung von Patienten, die Lutschtabletten mit Zistrose-Extrakt einnahmen, im Kontext von Covid-19 (2020): Link
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