Irreführender Leserbrief: Nein, die Impfstoffe erhöhen nicht das Risiko, an Covid-19 zu sterben
Mit einer selbst angestellten Berechnung wird in einem Leserbrief in einer Zeitung die Wirksamkeit von Covid-19-Impfstoffen in Frage gestellt. Die Impfstoffe würden das Risiko, an Covid-19 zu sterben, steigern, wird behauptet. Doch die Rechnung basiert auf nicht vergleichbaren Zahlen. Studien zeigen, dass die Impfungen die Zahl der Erkrankungen und Todesfälle verringern.
Auf Facebook und Whatsapp kursiert ein Foto eines Leserbriefes in einer Zeitung mit dem Titel „Völlig Verantwortungslos“. Darin wird behauptet, dass gegen Covid-19 Geimpfte 30 Mal häufiger an Covid-19 sterben würden als Ungeimpfte.
Die Recherche von CORRECTIV.Faktencheck zeigt: Die Zahlen, die in dem Leserbrief genannt werden, um das Sterberisiko zu berechnen, sind zwar teilweise richtig, doch ihr Vergleich ergibt keinen Sinn.
Zeitungsausschnitt ist ein Leserbrief und gibt die Meinung eines Lesers wieder
Auf Facebook heißt es, der Zeitungsausschnitt mit dem Titel „Völlig verantwortungslos“ stamme aus der Göppinger Tageszeitung. Richtig ist, dass der Beitrag aus dem Lokalteil der Neuen Württembergischen Zeitung (NWZ) vom 28. Mai 2021 stammt (Seite 18), wie sich mit Hilfe einer Google-Suche schnell feststellen lässt. Bereits der zweite Treffer führt zu einer digitalen Ansicht der Zeitung. Die Echtheit des Leserbriefs bestätigte uns auch der Redaktionsleiter der NWZ, Helge Thiel, per E-Mail.
Es handele sich bei dem Text um eine Leserzuschrift, so Thiel, die auf der „Leser-Seite“ abgedruckt worden sei. Der Text sei kein Artikel der Redaktion. Nachdem der Leserbrief erschienen sei, habe man drei weitere Zuschriften veröffentlicht, die sich mit dem ursprünglichen Leserbrief „sehr kritisch“ auseinandergesetzt hätten.
Dass es sich um eine Leserzuschrift handelt, ist auch daran zu erkennen, dass unter dem Text der Name des Verfassers sowie dessen Wohnort angegeben ist.
Leserbrief bezieht sich auf einen Artikel von Boris Reitschuster
In dem Leserbrief wird behauptet, das Bundesgesundheitsministerium (BMG) habe am 13. Mai gegenüber einem Journalisten mitgeteilt, dass „bereits über 57.000 Covid-Fälle von ein- oder zweifach Geimpften“ gemeldet worden seien. Von diesen Fällen seien 4,7 Prozent gestorben.
Bei dem Journalisten handelt es nach unserer Recherche um Boris Reitschuster, der eine entsprechende Antwort des BMG am 13. Mai auf seiner Webseite veröffentlichte.
Die genannten Zahlen vergleicht der Leserbrief-Autor mit Zahlen, die angeblich von der WHO stammen. Im Text heißt es: „Laut WHO (Stanford-Studie vom Oktober 2020) liegt die Sterberate bei Covid-19-Erkrankung Ungeimpfter bei durchschnittlich 0,15%.“ Daraus folgert der Autor, dass „die Sterberate von Geimpften“ bei einer Erkrankung an Covid-19 30 Mal höher sei als die von Ungeimpften.
Zahlen stammen vom Bundesgesundheitsministerium, aber es fehlt Kontext
CORRECTIV.Faktencheck hat zunächst beim Bundesgesundheitsministerium per E-Mail nachgefragt, ob die Zahlen tatsächlich so kommuniziert wurden. Ein Pressesprecher des Ministeriums antwortete uns, dass es sich bei den Zahlen um „Daten des RKI zu Infizierten“ handele, „bei denen gleichzeitig der Impfstatus bekannt“ gewesen sei.
Die 4,7 Prozent sind demnach die Zahl aller ein- und zweimal geimpften Menschen, die Covid-19 bekamen und gestorben sind. Aus der Antwort des Bundesgesundheitsministeriums geht hervor, dass der Leserbrief-Autor die Zahlen zwar richtig wiedergibt, aber gleichzeitig wichtigen Kontext weglässt.
Die meisten Geimpften, die sich mit Covid-19 infizierten, hatten erst eine Impfstoffdosis erhalten
Im Leserbrief fehlt die Information, dass von den insgesamt 57.146 Geimpften, die sich trotzdem infizierten, 44.059 laut dem BMG erst einmal geimpft wurden. Diese Information ist aber wichtig, denn nach einer ersten Impfdosis liegt die Wirksamkeit der Impfstoffe von Biontech/Pfizer, Astrazeneca und Moderna laut RKI (auf Basis verschiedener Studien) lediglich bei 60 bis 70 Prozent. Diese Wirksamkeit tritt zudem erst 10 bis 14 Tage nach der ersten Impfung ein.
Auch schreibt der Leserbrief-Autor nicht, dass bei den 13.087 infizierten Menschen, die zuvor bereits zweimal geimpft wurden, unklar ist, ob sie sich zwei Wochen nach der zweiten Impfdosis infizierten oder davor. Doch auch das ist wichtig, weil ein vollständiger Impfschutz laut dem Robert Koch-Institut bei den aktuell zugelassenen Impfstoffen, die zwei Impfdosen erfordern (Biontech/Pfizer, Astrazeneca, Moderna), erst 14 Tage nach der zweiten Impfdosis besteht und bei dem Impfstoff von Johnson und Johnson, der nur einmal verabreicht wird, 14 Tage nach der einmaligen Impfung. Johnson und Johnson kam allerdings in der RKI-Auswertung auch nicht vor.
Aus den Zahlen des BMG lässt sich also nicht ablesen, wie sich die Impfung auf das Sterberisiko auswirkt.
Infektionssterblichkeit ist kein fest definierter Wert
Weiter behauptet der Leserbrief-Autor, dass die WHO die Sterblichkeit bei Covid-19-Erkrankungen mit 0,15 Prozent angebe. Dafür verweist er auf eine Studie der Universität Stanford. Gemeint ist mutmaßlich eine Arbeit des Forschers John Ioannidis von März 2021. Sie stammt nicht von der WHO.
Zum Hintergrund: Die Infektionssterblichkeitrate (IFR) ist der Anteil aller Infizierten, die an einer Krankheit sterben. Um sie zu berechnen, müssen alle Infizierten bekannt sein – das ist jedoch meist nicht der Fall (Stichwort: Dunkelziffer). Deshalb gibt es zur IFR lediglich Schätzungen.
Ioannidis hat in der erwähnten Arbeit sechs Seroprävalenz-Studien (Seroprävalenz = die Häufigkeit spezifischer Antikörper im Blutserum) ausgewertet, um zu schätzen, wie viele Menschen sich weltweit mit dem Coronavirus infiziert haben. Darauf basierend schrieb er, dass die globale IFR bei schätzungsweise 0,15 Prozent liege. Er weist aber selbst darauf hin, dass diese Zahl mit Vorsicht zu betrachten ist. Die Infektionssterblichkeit hänge von der betrachteten Bevölkerung und den gegebenen Umständen ab.
Ein wesentlicher Faktor für die Infektionssterblichkeitsrate ist zum Beispiel der Altersschnitt der Infizierten und die Qualität des Gesundheitssystems.
Ionannidis hat selbst noch eine andere Meta-Studien veröffentlicht, in der höhere IFR-Werte erwähnt werden. Eine erste Version wurde vor einiger Zeit in einem Bulletin der WHO veröffentlicht. Am 14. Juli 2020 erschien die neueste Version seiner Arbeit (bisher nur als Preprint). Ioannidis wertete wissenschaftliche Arbeiten aus verschiedenen Region aus, die unterschiedliche IFR-Werte zwischen 0 und 1,63 Prozent berechneten. Er kommt zu dem Schluss, dass die IFR im Median je nach Region zwischen 0,1 und 0,9 Prozent liege.
Vergleich im Leserbrief ergibt keinen Sinn
Das zeigt: die Infektionssterblichkeitsrate ist kein fester Wert, den man für solche Vergleiche heranziehen kann. Die IFR kann höher oder niedriger liegen, je nachdem, welche Gruppe von Menschen man betrachtet.
Der Leserbrief-Autor vergleicht einen weltweiten Schätzwert (Infektionssterblichkeit) mit der Zahl der bekannten Covid-19-Todesfälle unter geimpften Menschen (Fallsterblichkeit) in Deutschland. Dieser Vergleich ergibt keinen Sinn.
Impfstoffe gegen Covid-19 sind wirksam
Der irreführende Vergleich wird im Leserbrief genutzt, um die Wirksamkeit von Covid-19-Impfstoffen infrage zu stellen.
Aktuell sind in der EU vier Impfstoffe gegen das Coronavirus zugelassen. Laut dem Paul-Ehrlich-Institut liegt ihre Wirksamkeit gegen Covid-19 zwischen 70 und 95 Prozent. Diese Wirksamkeit bezieht sich nicht auf die Gruppe der Geimpften, sondern auf die Erkrankten, wie das Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung erklärt. Zu 90 Prozent wirksam gegen die Erkrankung bedeutet, dass zum Beispiel von 100 Personen ohne Impfung 20 an Covid-19 erkrankten, und von 100 Personen mit Impfung nur zwei.. Alle Impfstoffe schützen zudem laut RKI vor einem schweren Verlauf der Krankheit – und verringern somit auch das Risiko, daran zu sterben.
Eine Wirksamkeit von etwa 95 Prozent wird laut Paul-Ehrlich-Institut beispielsweise für den mRNA-Impfstoff von Biontech/Pfizer angegeben. Eine Studie im New England Journal of Medicine, die Daten von rund 600.000 geimpften Israelis mit einer ungeimpften Kontrollgruppe verglich, konnte diese Wirksamkeit nachweisen.
Es zeigte sich, dass zwei Dosen der Impfung die symptomatischen Covid-19-Fälle um 94 Prozent reduzierten, die Rate der Krankenhausaufenthalte ging um 87 Prozent und die Anzahl schwerer Covid-19-Fälle um 92 Prozent zurück. Die geschätzte Effektivität, Todesfälle zu verhindern, lag der Studie zufolge bei 72 Prozent im Zeitraum zwischen 14 und 20 Tagen nach der ersten Impfdosis. Von Tag 21 bis 27 lag die Effektivität bei 84 Prozent.
Fazit
Die Berechnung im Leserbrief basiert auf Zahlen, die sich nicht sinnvoll vergleichen lassen. Der Leserbrief-Autor vergleicht einen weltweiten Schätzwert (Infektionssterblichkeit) mit der Zahl der bekannten Covid-19-Todesfälle unter geimpften Menschen (Fallsterblichkeit) in Deutschland, von denen ein Großteil keinen vollständigen Impfschutz besaß. Der irreführende Vergleich wird genutzt, um die Wirksamkeit von Covid-19-Impfstoffen infrage zu stellen. Doch diese erwiesen sich in Studien als wirksam; sie schützen vor schweren Krankheitsverläufen von Covid-19 und verringern Todesfälle.
Redigatur: Alice Echtermann, Uschi Jonas
Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Faktencheck:
- Artikel der WHO zur Berechnung der IFR „Estimating mortality from COVID-19“: Link (Englisch)
- Studie im New England Journal of Medicine über den Einsatz des Covid-19-Impfstoffe von Biontech/Pfizer in Israel: „BNT162b2 mRNA Covid-19 Vaccine in a Nationwide Mass Vaccination Setting“: Link (Englisch)
- Meta-Studie von John Ioannidis zum Thema IFR, Juli 2021 (Preprint): Link (Englisch)