Covid-19: Nein, Kinder können nicht am Spike-Protein von Geimpften sterben
Kinder könnten durch das Spike-Protein sterben, das sich von geimpften Menschen auf sie übertrage, behaupten zwei Blogs und beziehen sich auf Aussagen des Biologen Hervé Seligmann. Experten widersprechen: Es gibt keine Belege dafür, dass eine solche Übertragung möglich ist – weder bei Kindern, noch bei Erwachsenen.
„Kinder können an Spike-Protein von Geimpften sterben“ – mit dieser Überschrift sind zwei Artikel von Reitschuster.de und Uncut-News betitelt. Sie stützen diese Behauptung auf Berechnungen des Biologen Hervé Seligmann. Die beiden Artikel wurden laut dem Analysetool Crowdtangle bislang mehr als 3.800 Mal auf Facebook geteilt.
Nach Recherchen von CORRECTIV.Faktencheck gibt es für Seligmanns Behauptungen keine Belege; es handelt sich um Spekulationen. Experten betonen, dass weder die Impfstoffe selbst, noch das Spike-Protein bei Covid-19-Impfstoffen von einer geimpften auf eine ungeimpfte Person übertragbar seien. Außerdem gibt es in der Datenbank Euromomo, die Seligmann selbst für seine Berechnungen zitiert, keine Anzeichen für eine erhöhte Sterblichkeit von Kindern und Jugendlichen.
Hervé Seligmann arbeitet nicht am Karlsruher Institut für Technologie
Seligmann ist unserer Recherche zufolge Biologe. Im Artikel von Reitschuster.de stand ursprünglich, er sei am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) tätig. Das gibt Seligmann in der zitierten Arbeit auch so an. Dass er und seine Studie in Verbindung mit dem KIT stünden, ist nach Angaben der Technischen Universität jedoch falsch. Reitschuster.de hat diesen Aspekt im Text inzwischen auch korrigiert.
Gegenüber der Seite Riffreporter teilte das KIT mit: „Herr Seligmann ist kein Mitarbeiter des KIT.“ Im Rahmen eines Gastwissenschaftlerprogramms habe das KIT ihn zu einem Gastaufenthalt zu einem späteren Zeitpunkt eingeladen. Dieser Gastaufenthalt habe bislang nicht stattgefunden und werde auch nach den aktuellen Vorkommnissen nicht mehr umgesetzt. Seligmann sei untersagt worden, unter Nennung des KIT zu veröffentlichen.
Seligmann ist vor kurzem bereits mit falschen Behauptungen über Impfungen in Israel aufgefallen, die wir in einem Faktencheck thematisiert haben.
Spekulationen über Spike-Protein und Sterbefallzahlen
Die Arbeit Seligmanns, auf die sich die Blogs beziehen, ist ein sogenannter Preprint – eine vorveröffentlichte Studie, die noch nicht von anderen Forschenden überprüft wurde. Sie trägt den Titel „Covid-19 vaccination increases mortality of unvaccinated European children“ („Covid-19-Impfung erhöht die Sterblichkeit bei ungeimpften Kindern in Europa“). Sie wurde nicht auf einem der bekannten Preprint-Portale veröffentlicht, sondern kursiert lediglich als PDF im Internet.
In den Blog-Artikeln heißt es, Seligmann habe die Sterblichkeit von ungeimpften Kindern in Europa untersucht. Seligmann hat jedoch keine Untersuchungen an Kindern oder Geimpften vorgenommen, sondern sich die Sterbedaten aus der Datenbank Euromomo für die 0- bis 14-Jährigen angeschaut. Euromomo erfasst für viele europäische Länder, wie viele Menschen dort allgemein gestorben sind, und ob es eine Über- oder Untersterblichkeit gibt. Die genauen Todesursachen werden nicht erfasst.
Seligmann behauptet, man sehe einen Anstieg der Todesfälle in Korrelation zum Anstieg der Impfraten. Seine Analyse liefert jedoch keinen Beweis für einen kausalen Zusammenhang. Er schreibt, die „Muster“ würden nahelegen, dass indirekte Wirkungen der Covid-19-Impfstoffe, mutmaßlich durch „Impfstoff-Shedding von Spike-Proteinen und/oder anderen Molekülen“, die Gesamtsterblichkeit bei den Ungeimpften erhöhten, insbesondere bei Kindern. Mit „Impfstoff-Shedding“ ist die Übertragung eines Impfstoffes oder von Bestandteilen daraus von einer geimpften auf eine ungeimpfte Person gemeint.
Bei den zugelassenen Covid-19-Impfstoffen wurde ein solches Phänomen jedoch nicht beobachtet. Experten halten es nicht für möglich, wie wir bereits für einen Faktencheck vom 14. Mai 2021 recherchiert haben.
Euromomo: Keine Übersterblichkeit bei jungen Menschen erkennbar
Wie in Euromomo zu sehen ist, gibt es außerdem seit Beginn 2021 keine generelle Übersterblichkeit in der Altersgruppe der 0- bis 14-Jährigen.
Israel ist ebenfalls in Euromomo vertreten und ein Land mit einer sehr hohen Impfquote. Im Januar und Februar 2021 wurden pro Tag zehntausende Dosen verabreicht. Auch hier ist bei Euromomo (Woche 0 bis 9) keine Erhöhung der Sterbezahlen junger Menschen zu sehen.
Covid-19-Impfstoffe können nicht auf Ungeimpfte übertragen werden
mRNA-Impfstoffe enthalten – genauso wie DNA- und Vektorimpfstoffe – keine vermehrungsfähigen Viren und sind somit nicht von Mensch zu Mensch übertragbar. Es birgt keine Gesundheitsgefahren, sich in der Nähe einer geimpften Person aufzuhalten – weder für Kinder, noch für Erwachsene.
Friedemann Weber, Virologe und Direktor am Institut für Virologie der Justus-Liebig-Universität in Gießen, erklärte gegenüber CORRECTIV.Faktencheck, dass ihm lediglich ein Impfstoff einfalle, bei dem eine Übertragung beobachtet worden sei: der oral verabreichte Lebendimpfstoff gegen Polio (Kinderlähmung). Er enthält abgeschwächte Viren, die unter Umständen über Schmierinfektionen an Ungeimpfte weitergegeben werden können. Die so infizierten Personen entwickeln aber meistens keine Krankheitssymptome, sondern lediglich Antikörper, erklärt das Robert-Koch-Institut.
Keine Hinweise auf „vaccine shedding“
Das sogenannte „vaccine shedding“ kann bei Covid-19-Impfstoffen nicht auftreten, weil sie keine Viren enthalten. Stattdessen enthalten mRNA- und Vektorimpfstoffe eine genetische Information, die Körperzellen dazu anregt, das sogenannte Spike-Protein des Coronavirus selbst zu produzieren. Das Immunsystem reagiert darauf und bildet Abwehrstoffe, um später gegen das echte Virus SARS-CoV-2 geschützt zu sein.
Auch bei dem so produzierten Spike-Protein gibt es keinerlei Hinweise, dass es ausgeschieden und übertragen werden kann, oder gar eine Gefahr für Ungeimpfte darstellt.
„Ich denke, dass irgendjemand das mit dem ‚shedding‘ bei viralen Proteinen falsch verstanden hat“, sagt Weber. „Es kommt vor, dass virale Hüllproteine (zu denen das Spike-Protein gehört) auch ohne die weiteren Virusbestandteile von der Zelle ausgestoßen werden. Zum einen ist das Spike-Protein des SARS-CoV-2 aber ziemlich schlecht darin, und zum anderen gilt das Phänomen für einzelne Zellen, die das Protein herstellen, aber ganz gewiss nicht für das geimpfte Individuum.“
Behauptungen über Spike-Protein sind nicht neu
In den Blog-Artikeln auf Reitschuster.de und Uncut-News wird auch eine seit Wochen kursierende Falschbehauptung wiederholt: Dass es sich bei dem bei einer mRNA-Impfung vom Körper produzierten Spike-Protein um einen „Giftstoff“ handele, der gesundheitliche Schäden verursache. Diese Behauptung haben bereits in einem Faktencheck untersucht: Es gibt keine wissenschaftlichen Belege dafür.
Die Behauptung, das Spike-Protein sei gefährlich, leitet sich mutmaßlich aus verschiedenen Untersuchungen ab. Diese beziehen sich jedoch auf das Spike-Protein des Virus SARS-CoV-2 und nicht auf das Spike-Protein, das nach einer Impfung im Körper produziert wird.
Immunologe Carsten Watzl: Keine Gefahr durch Spike-Proteine nach Covid-19-Impfungen
Laut Carsten Watzl, Leiter des Forschungsbereichs Immunologie am Leibniz-Institut für Arbeitsforschung der TU Dortmund, gab es zum Beispiel Versuche, in denen Nagetieren das Spike-Protein verabreicht wurde. „Die Dosis macht das Gift“, erklärt er. Wenn man große Mengen injiziere, könne das durchaus Effekte auslösen. In einer wissenschaftlichen Untersuchung sei das Spike-Protein zum Beispiel als lösliches Protein in Mäuse injiziert worden: „Hier zeigten sich Schäden an der Lunge und eine Entzündungsreaktion ähnlich wie bei Covid-19.“
„Aber das ist kein Prozess, der bei den Impfungen in irgendeiner nennenswerten Weise ausgelöst würde“, sagt Watzl. Durch die Impfung könne dahingehend nichts Gefährliches passieren. Denn das Spike-Protein sei an die Zellmembranen gebunden.
Das erklärte auch der Chemiker Derek Lowe gegenüber dem MDR: Das Spike-Protein, das bei einer Impfung entsteht, sei so verändert worden, dass es nicht an die Rezeptoren im Körper binden könne und folglich an den Zellen verbleibe.
Selbst wenn kleine Mengen mRNA oder Spike-Protein ins Blut oder die Organe gelangen, gebe es aus Studien, die vor der Zulassung des Impfstoffes untersucht wurden, keine Hinweise, dass dies schädlich sei, sagte auch Klaus Cichutek, Direktor des PEI, gegenüber dem MDR.
Auch der Virologe Friedemann Weber ergänzt „Jeder Impfstoff-Kandidat muss erst mal strenge Prüfungen in Bezug auf Toxizität durchlaufen, und auch nach der Zulassung wird fortlaufend auf die Sicherheit geachtet.“ Wenn das gezeichnete Szenario zutreffen würde, wären die Impfstoffe nicht zugelassen worden, schreibt Weber. Er ergänzt: „Auch die zahlreichen klinischen Studien haben keine solchen dramatischen Schäden offenbart.“
Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin: Hypothesen und Spekulationen
Wir haben auch bei der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) nachgefragt, ob es wissenschaftliche Belege dafür gibt, dass für Kinder eine Gefahr vom Kontakt mit Geimpften ausgeht. DGKJ-Generalsekretär Burkhard Rodeck erklärt, dass es eine Studie gebe, die sich mit der mRNA-Übertragung nach einer Impfung von Frauen über die Muttermilch an Säuglinge befasse. „Alles andere sind Hypothesen, Schlussfolgerungen aus (vermeintlichen) Korrelationen und Spekulationen“, schreibt Rodeck in einer E-Mail.
Das Ergebnis der wissenschaftlichen Analyse: In keiner der Milchproben der sieben Studienteilnehmerinnen, die mit den Impfstoffen von Biontech/Pfizer oder Moderna geimpft wurden, wurde Impfstoff-mRNA nachgewiesen. Die Untersuchung untermauert dadurch laut der Forschenden, dass die mRNA eines Impfstoffe nicht auf einen Säugling übertragen werde. Zu diesem Ergebnis kommt auch eine zweite vorveröffentlichte Studie, für die jedoch lediglich eine geringe Zahl Probandinnen untersucht wurde.
Redigatur: Steffen Kutzner, Alice Echtermann