Faktencheck

Ja, dieses Zitat über „Freidenker“ stammt vermutlich von Leo Tolstoi

Der russische Schriftsteller Leo Tolstoi soll angeblich gesagt haben, dass nur wenige Menschen ihren Verstand vorurteilsfrei benutzen und deshalb wahre „Freidenker“ seien. Wir haben die Quelle des Zitates ausfindig gemacht, es steht in einer Biografie von Tolstois Übersetzer.

von Matthias Bau

30391931-fb-event-cover-1920x1080
Das Gemälde „Der Schriftsteller Leo Tolstoj in seinem Schreibzimmer“ von Ilja Repin aus dem Jahr 1891 (Symbolbild: Picture Alliance / akg-images)
Behauptung
Leo Tolstoi habe gesagt: „Freidenker sind diejenigen, die gewillt sind, ihren Verstand zu nutzen, ohne Vorurteile und ohne zu fürchten, etwas zu verstehen, dass mit ihren eigenen Bräuchen, Privilegien oder Überzeugungen kollidiert. Dieser Geisteszustand ist nicht sehr üblich, aber er ist essenziell für richtiges Denken“.
Bewertung
Unbelegt. Das angebliche Tolstoi-Zitat stammt aus der Biografie seines Übersetzers Aylmer Maude. Dieser behauptet, Tolstoi habe sich ihm gegenüber mündlich so geäußert. Überprüfen lässt sich das nicht.

Auf Facebook verbreitet sich ein Zitat, dass dem russischen Schriftsteller Leo Tolstoi zugeschrieben wird. Angeblich soll er gesagt haben: „Freidenker sind jene, die gewillt sind, ihren Verstand zu nutzen, ohne Vorurteile und ohne zu fürchten, etwas zu verstehen, das mit ihren eigenen Bräuchen, Privilegien oder Überzeugungen kollidiert. Dieser Geisteszustand ist nicht sehr üblich, aber er ist essenziell für richtiges Denken.“ Bisher wurde das Zitat mehr als 7.800 Mal geteilt.

Weil Künstlern und Prominenten immer wieder Zitate zugeschrieben werden (hier, hier und hier), die gar nicht von ihnen stammen, haben wir uns das Tolstoi-Zitat angesehen. Es stammt aus einer Tolstoi-Biografie seines damaligen Übersetzers Aylmer Maude, der Tolstois Werke auf Englisch übertrug. Maude schreibt darin, dass Tolstoi zu ihm die Sätze über „Freidenker“ gesagt habe. 

Auf Facebook verbreitet sich ein Zitat des russischen Schriftstellers Leo Tolstoi. Ob es wirklich von ihm selbst stammt, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen.
Auf Facebook verbreitet sich ein Zitat des russischen Schriftstellers Leo Tolstoi. Ob es wirklich von ihm selbst stammt, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. (Quelle: Facebook / Screenshot am 5. November: CORRECTIV.Faktencheck)

Tolstoi-Zitat stammt aus der Biografie seines Übersetzers

Da auf Facebook keine Quelle für das Zitat angegeben wird, suchen wir zunächst bei Google nach dem deutschen Zitat. Unsere Suche führt jedoch nur zu Meme-Seiten, die keine Quelle für das Zitat angeben. Eine Suche nach den Schlagworten „Tolstoi“ und „Freidenker“ führt jedoch zu einem T-Shirt-Shop, wo das Zitat auf Englisch zu lesen ist. 

Unsere Suche nach dem englischsprachigen Zitat führt uns schließlich zu der Seite  „Magicalquote“, diese nennt als Quelle des Zitats Aylmer Maudes Tolstoi-Biografie von 1911: „The Life of Tolstoy: Later years“. 

Alymer Maude (1858 – 1938) und seine Frau Louise Maude (1855 – 1939) übersetzte Werke von Leo Tolstoi (1828 – 1910) ins Englische und schrieb auch eine Biografie über den russischen Schriftsteller, der zum Beispiel für seine Romane „Krieg und Frieden“ und „Anna Karenina“ bekannt ist. 

Die Biografie Tolstois von Aylmer Maude findet sich als vollständiges Buch im Internet-Archiv. Das fragliche Zitat über vorurteilsfreies Denken steht in dem Dokument auf Seite 532. Auf Facebook fehlt jedoch der Nachsatz, eine Art Fazit: „wo [das freie Denken, Anm. d. Red.] fehlt, ist Diskussion mehr als zwecklos“. Einen Satz vor dem Zitat heißt es: „Er [Tolstoi, Anm. d. Red.] hat einmal zu mir gesagt“; es handelte sich also um eine mündliche Äußerung Tolstois. Ob er sich damals wirklich so geäußert hat, lässt sich heute nicht mehr sagen. 

In einer Tolstoi-Biografie des Übersetzer Aylmer Maude findet sich das Zitat, das auf Facebook kursiert
In einer Tolstoi-Biografie des Übersetzer Aylmer Maude findet sich das Zitat, das auf Facebook kursiert (Quelle: The Life of Tolstoy, Aylmer Maude via Internet-Archive / Screenshot: CORRECTIV.Faktencheck)

Allerdings führt Maude im Vorwort der Biografie ein Argument dafür an, dass die Aussagen über Tolstoi in seinem Buch richtig sind. Auf Seite 2 (im Dokument) schreibt er: „Der Leser sollte bitte im Sinne behalten, dass alle, bis auf die letzten zwei Dutzend Seiten dieses Buches, geschrieben und veröffentlicht wurden, als Tolstoi noch am Leben war.“ 

Das ist auch deswegen von Bedeutung, weil Maude und Tolstoi sich offenbar persönlich kannten. Ebenfalls im Vorwort der Biografie zitiert Maude aus Briefen, in denen ihm Tolstoi für seine gute Arbeit dankt. Es ist also durchaus plausibel, dass sich Tolstoi so geäußert hat, wie auf Facebook behauptet, wenn auch nicht in einem seiner eigenen Bücher. 

Redigatur: Sarah Thust, Steffen Kutzner

Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Faktencheck:

  • Tolstoi-Biografie von Aylmer Maude aus dem Jahr 1911: „The Life of Tolstoy: Later years“: Link