Nein, eine Analyse der BKK Provita belegt nicht, dass Impfnebenwirkungen vom PEI untererfasst werden
Eine Krankenkasse behauptete Ende Februar, es gebe eine erhebliche Untererfassung bei den Nebenwirkungen der Covid-19-Impfung. Ihrer Hochrechnung zufolge seien bis zu drei Millionen Menschen deswegen beim Arzt gewesen; das seien mehr als zehnmal so viele wie bislang vom Paul-Ehrlich-Institut erfasst. Doch die BKK Provita nutzte für ihre Analyse Zahlen, die eine solche Aussage nicht belegen.
In Sozialen Netzwerken (hier und hier) und auf Nachrichtenseiten (hier) kursiert seit Ende Februar die Behauptung, Daten der Krankenkasse BKK Provita zeigten, dass es eine „erhebliche Untererfassung“ der Verdachtsfälle von Nebenwirkungen von Covid-19-Impfungen gebe. Rechne man die Daten auf die Bevölkerung in Deutschland hoch, seien vermutlich zweieinhalb bis drei Millionen Menschen in Deutschland wegen Impfnebenwirkungen in ärztlicher Behandlung gewesen, heißt es in einem Brief der Krankenkasse. Diesen hatte der damalige Vorsitzende der BKK Provita am 21. Februar an das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) gerichtet und von „einem heftigen Warnsignal“ geschrieben.
Auf Telegram (hier und hier) wurden Beiträge, die den Brief oder Berichte darüber verbreiteten, bereits rund 560.000 Mal gesehen.
Unser Faktencheck zeigt: Die Aussagen der BKK beruhen auf ärztlichen Abrechnungsdaten, die unspezifisch sind und nicht unbedingt im Zusammenhang mit einer Covid-19-Impfung stehen. Die Daten sind daher nicht mit einer Meldung an das PEI gleichzusetzen. Experten kritisierten zudem die Hochrechnung der Daten.
Wie die Zahlen der BKK Provita zustande kommen
Wir haben uns den Brief der BKK Provita genauer angesehen. Grundlage für die Berechnungen zu den Impfnebenwirkungen seien Abrechnungsdaten von Ärzten für rund 11 Millionen Versicherte gewesen, heißt es in dem offenen Brief. Daten lägen für das erste Halbjahr 2021 und für einen Teil des dritten Quartals 2021 hervor. Anhand der vorliegenden Daten gehe man von 216.695 „behandelten Fällen von Impfnebenwirkungen“ nach Corona-Impfungen aus. Wenn man diese Zahlen auf das Gesamtjahr und die Gesamtbevölkerung hochrechne, seien „vermutlich 2,5 bis 3 Millionen Menschen in Deutschland“ wegen Impfnebenwirkungen in Behandlung gewesen.
Das stehe im Widerspruch zu den Zahlen des PEI. Das Institut hatte für das Jahr 2021 deutschlandweit 244.576 Meldungen über Verdachtsfälle von Impfnebenwirkungen erhalten. Daraus wird in dem Brief geschlossen, dass es eine erhebliche Untererfassung beim PEI gebe.
Wie kommen die Zahlen von BKK Provita zustande? Rechnen Ärzte medizinische Leistungen ab, vergeben sie sogenannte ICD-Codes. Die Abkürzung ICD steht für die internationale Klassifikation von Krankheiten und die damit zusammenhängenden Gesundheitsproblemen (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems). Diese Codes fanden in der Auswertung der BKK Verwendung. Welche Codes genau ausgewertet wurden, geht aus einer mittlerweile gelöschten Pressemitteilung der BKK vom 25. Februar hervor. Es waren die Codes T88.0, T88.1, Y59.9 und U12.9.
Diese Codes signalisieren, dass es nach einer Impfung zu Komplikationen kam. Wie wir im Folgenden zeigen, haben sie aber gar nicht alle etwas mit Impfungen gegen Covid-19 zu tun, sondern werden auch dann vergeben, wenn gegen andere Krankheiten geimpft wird. Zum Teil werden mit den Codes zudem lediglich erwartbare Impfreaktionen wie Fieber oder Schmerzen an der Einstichstelle erfasst, um schwerwiegende Nebenwirkungen geht es nur bedingt.
Verwendete ICD-Codes erfassen auch erwartbare Impfreaktionen
Wofür die ICD-Codes stehen, lässt sich auf einer Seite des Bundesgesundheitsministeriums nachschlagen. T88.0 bezeichnet eine Infektion nach einer Impfung, dabei muss es sich nicht um eine Impfung gegen Covid-19 handeln. In der Beschreibung des Codes heißt es: „Nach der Impfung treten bei vielen Menschen leichte Beschwerden auf. Dabei kann die Einstichstelle rot oder geschwollen sein. Es können auch Schmerzen auftreten. Sie haben nach der Impfung eine Entzündung. Das kann eine Entzündung durch Erreger sein. Das muss nicht der Erreger sein, gegen den Sie geimpft wurden. Über die Einstichstelle können auch andere Erreger in den Körper gelangen.“
Ein ähnlicher Hinweis findet sich bei T88.1, dem ICD-Code für „sonstige Komplikationen nach Impfung, anderenorts nicht klassifiziert“. Die nähere Beschreibung lautet: „Bei Ihnen gibt es besondere Probleme. Es kann zum Beispiel sein, dass Sie einen Hautausschlag haben.“
U12.9 ist ein neuer Code in der Klassifikation, der speziell für die Impfung gegen Covid-19 eingeführt wurde. Er erfasst nicht beabsichtigte Wirkungen der Impfung. Laut Beschreibung gehören dazu Beschwerden wie Schmerzen und Rötung an der Impfstelle, aber auch Fieber, Ausschlag, Durchfall, Müdigkeit, Gliederschmerzen oder geschwollene Lymphknoten. Aber auch schwere, jedoch sehr seltene Nebenwirkungen wie Herzmuskelentzündungen werden mit U12.9 codiert. Y59.9 erfasst nicht nur Komplikationen durch Impfstoffe, sondern auch durch biologisch aktive Substanzen.
Die Codes erfassen also zum Teil erwartbare Reaktionen auf die Impfung wie Fieber, Hautausschläge und Entzündungen. Zudem können sich drei der vier Codes, U12.9 ausgenommen, auch auf andere als die Corona-Impfstoffe beziehen.
Beschwerden hinter ICD-Codes nicht zwingend Anlass für Meldung an das PEI
Die Meldungen an das PEI, mit denen die BKK Provita ihre Zahlen vergleicht, sind etwas anderes. Während Ärzte verpflichtet sind, bei jeder Abrechnung und jeder Krankschreibung einen ICD-Code anzugeben, sollen dem PEI nur solche Komplikationen gemeldet werden, die über das „übliche Ausmaß“ einer zu erwartenden Impfreaktion hinausgehen. Das schreibt das Infektionsschutzgesetz vor. „Namentlich ist zu melden: der Verdacht einer über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung“, heißt es im 6. Paragraph des IfSG.
Das Robert Koch-Institut (RKI) definiert unter anderem Schwellungen und Rötungen an der Impfstelle, Fieber, Kopf- und Gliederschmerzen als typische Beschwerden nach der Impfung. „Diese Reaktionen sind Ausdruck der erwünschten Auseinandersetzung des Immunsystems mit dem Impfstoff und klingen in der Regel nach wenigen Tagen komplett ab“, heißt es beim RKI. Die mit den Codes zusammenhängenden Beschwerden sind also nicht zwingend Anlass für eine ärztliche PEI-Meldung.
In den Sicherheitsberichten des PEI werden aber auch weitere Verdachtsfallmeldungen erfasst. Im Sicherheitsbericht des PEI vom 23. Dezember 2021 ist zum Beispiel im Zusammenhang mit einer Impfung mit dem Impfstoff von Biontech/Pfizer zu lesen, dass Schmerzen an der Einstichstelle, Ermüdung und Kopfschmerzen mit Abstand am häufigsten als mutmaßliche Impfreaktion gemeldet wurden.
Quellen dafür sind laut dem aktuellen Sicherheitsbericht des Instituts vom 7. Februar zum Beispiel die Arzneimittelkommissionen der Apotheker und der Ärzte, medizinische Fachkreise sowie Geimpfte oder deren Angehörige. Über den Meldeweg möglicher Nebenwirkungen von Covid-19-Impfstoffen von Ärzten über die Gesundheitsämter zum PEI haben wir bereits im Juni 2021 in diesem Hintergrundartikel ausführlich berichtet.
PEI nennt Daten „allgemein und unspezifisch“
Die Deutsche Presse-Agentur (DPA) hat das PEI um eine Stellungnahme zu dem Brief gebeten. Das Institut schrieb, die Angaben seien „allgemein und unspezifisch“. Weder habe man Zugang zu den Originaldaten, noch zur Auswertungsmethode, zudem seien Abrechnungsdaten nicht mit Nebenwirkungen gleichzusetzen.
Deutliche Kritik an der Analyse äußerte der Virchowbund, der Verband der niedergelassenen Ärzte Deutschlands. Die Schlussfolgerungen aus der Datenlage seien „kompletter Unfug“, schreibt der Verband in einer Pressemitteilung am 24. Februar. Ein Sprecher des Bundesministeriums für Gesundheit sagte bei der Regierungspressekonferenz am 28. Februar, dass die BKK Provita alle Krankmeldungen erfasst habe, „also auch den Fall, dass sich jemand schlapp gefühlt hat und nicht zur Arbeit gegangen ist“. Das entspreche aber nicht der Definition von Impfreaktionen.
Der BKK-Dachverband distanzierte sich in einer eigenen Mitteilung von „einem Blogbeitrag im Internet“ und bezog sich dabei offenbar auf das Blog Tkp, welches den Brief verbreitete. Tkp schreibt, der BKK-Verband habe die Zahlen ausgewertet. Doch der Dachverband erklärt: „Die dort genannten Daten stammen nicht aus unserem Hause“. Inhaltlich nehme man dazu keine Stellung.
Andreas Schöfbeck, der den Brief als Vorstand unterzeichnet hatte, verlor wenige Tage danach seinen Job. Der Verwaltungsrat gab am 1. März bekannt, dass er sich „mit sofortiger Wirkung“ von ihm trenne.
Redigatur: Matthias Bau, Uschi Jonas
Update, 23. März 2022: Wir haben im Text ergänzt, dass auch solche Nebenwirkungen vom PEI erfasst werden, die nicht über das „übliche Ausmaß“ einer Impfreaktion hinausgehen, auch wenn Ärztinnen und Ärzte in diesen Fällen nicht zu einer Meldung an das Institut verpflichtet sind. Weitere Quellen für die Verdachtsmeldungen sind etwa auch Geimpfte und die Arzneimittelkommissionen.
Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Faktencheck:
- ICD- und OPS-Code-Suche, Bundesministerium für Gesundheit: Link
- Sicherheitsbericht des Paul-Ehrlich-Instituts, 7. Februar 2022: Link
- Sicherheitsbericht des Paul-Ehrlich-Instituts, 23. Dezember 2021: Link
- Infektionsschutzgesetz, Gesetze im Internet, Bundesamt für Justiz: Link
- Nebenwirkungen und Komplikationen von Impfungen, RKI: Link