Faktencheck

Eine Erkrankung namens V-Aids ist in der Wissenschaft nicht bekannt

Eine Anwaltskanzlei behauptet, mRNA-Impfungen könnten eine Erkrankung namens V-Aids auslösen. Dabei soll es sich um eine Schädigung des Immunsystems handeln. Expertinnen und Experten sagen jedoch, dass es eine solche Erkrankung gar nicht gibt.

von Matthias Bau

Faktencheck V-Aids
Anders als online behauptet, gibt es keine wissenschaftlichen Belege für die Behauptung, dass Impfungen eine Erkrankung namens V-Aids verursachen (Symbolbild: Jens Krick / Flashpic / Picture Alliance)
Behauptung
mRNA-Impfungen gegen Covid-19 verursachten eine Erkrankung des Immunsystems namens V-Aids. Sie zerstöre die eigene Immunabwehr, oder schwäche sie erheblich.
Bewertung
Falsch. Expertinnen und Experten zufolge gibt es keine Erkrankung mit dem Namen V-Aids. Angebliche Belege für eine Schwächung des Immunsystems in einem Fachartikel stützen die Behauptung nicht, sondern beziehen sich auf etwas völlig anderes.

Über das Presseportal der Deutschen Presse-Agentur (DPA) verbreitet die Anwaltskanzlei Rogert und Ulbrich eine Pressemitteilung, in der behauptet wird, es gebe Belege für eine Erkrankung namens V-Aids. Diese Abkürzung stehe für „Vaccine-Acquired Immune Deficiency Syndrom“ und sei eine durch mRNA-Impfungen herbeigeführte Schwäche des Immunsystems. Angeblich träten nach Covid-19-Impfungen vermehrt Autoimmunerkrankungen auf, also Erkrankungen, bei denen sich der Körper gegen das eigene Immunsystem wendet. Zu finden war die Meldung unter anderem beim Focus und dem Presseportal der Süddeutschen Zeitung, beide haben sie inzwischen von ihren Seiten entfernt. 

Die Behauptung ist nicht neu. Immer wieder hieß es in den vergangenen Monaten, Impfungen gegen Covid-19 würden das Immunsystem zerstören, erschöpfen oder in gefährlicher Weise umprogrammieren. Wir haben zahlreiche Faktenchecks dazu veröffentlicht (hier, hier, hier und hier). Haltbar sind solche Aussagen nicht. 

In der Pressemitteilung schreibt die Anwaltskanzlei, Experten stimmten darin überein, dass es dieses Phänomen gebe. Man habe „unzählige“ medizinische Fachzeitschriften“ gelesen, auch in Blutbildern sei V-Aids nachweisbar. Wir haben diese Behauptungen dem Paul-Ehrlich-Institut (PEI), der Deutschen Gesellschaft für Infektiologie (DGI) und einem Immunologen der Berliner Charité vorgelegt. Die Rückmeldung: Die Behauptungen sind unseriös. Eine Erkrankung namens V-Aids gibt es nicht. Die Immunabwehr kann laut Bernd Salzberger, Virologe und Präsident der DGI, in den ersten Wochen nach einer Impfung zwar etwas „nachlassen“, wissenschaftliche Belege für eine Häufung von Infektionen oder eine langfristige Schwächung gebe es aber nicht. 

Angeführter Fachartikel ist kein Beleg für angebliches V-Aids

Belege für ihre These vom zerstörten Immunsystem glaubt die Kanzlei in einem Artikel der Zeitschrift Cell Discovery, erschienen im Verlag Springer Nature, gefunden zu haben, der am 26. Oktober 2021 veröffentlicht wurde: „Die Anwälte verstehen den Artikel so, dass das Immunsystem durch die Impfung irreparabel zerstört werde“, heißt es in der Pressemitteilung. 

Bei einem Blick in den wissenschaftlichen Artikel stellt sich jedoch schnell heraus, dass er die These in keiner Weise belegt. Bei dem Impfstoff, dessen Auswirkungen auf „gesunde Freiwillige“ untersucht wurde, handelt es sich um den von einem chinesischen Unternehmen entwickelten Impfstoff Vero Cell, der in der EU nicht zugelassen ist und auch kein mRNA-Impfstoff, sondern ein Ganzvirus-Impfstoff ist. Das bedeutet, dass in dem Impfstoff das abgetötete und daher nicht mehr infektiöse Coronavirus verabreicht wird, damit der Körper Abwehrstoffe dagegen bilden kann. 

Das schrieb uns auch der Immunologe Arne Sattler von der Berliner Charité. Er erklärte darüber hinaus, die Studie sei lediglich mit elf Probanden durchgeführt worden und habe daher wenig Aussagewert.

Auch um eine irreparable Schädigung des Immunsystems gehe es in dem Artikel nicht, erklärte uns Virologe Bernd Salzberger. Der Artikel beschreibe „Veränderungen von Laborparametern, die bis zu 90 Tagen nach einer Impfung bestehen. Gemessen wurden Veränderungen mehrer Teile des Immunsystems, es wurden aber keine Häufungen von Infektionen oder Entzündungsprozessen beschrieben.“

Arne Sattler schrieb uns darüber hinaus, „der Schluss, dass das Immunsystem durch die Impfung zerstört wird“ sei durch die Studie nicht zu ziehen und werde in der Studie selbst auch gar nicht gezogen.

Bernd Salzberger: „Schwächungen des Immunsystems kann man nicht einfach durch Laboruntersuchungen feststellen“

Das Immunsystem schützt den Körper vor schädlichen und körperfremden Organismen und besteht aus zwei Komponenten: Der angeboren Immunität und der erworbenen oder adaptiven Immunität. Die angeborene Immunität ist unspezifisch und erkennt „Fremdkörper“, während das erworbene Immunsystem die spezifische Antwort des Körpers auf einen bestimmten Erreger ist (zum Beispiel Viren, Bakterien oder Pilze). Solche spezifischen Reaktionen lernt das Immunsystem im Laufe des Lebens, unter anderem durch Impfungen oder Infektionen.

Die Anwaltskanzlei will mit Blutbildern nachgewiesen haben, dass die Impfung das Immunsystem schädige. Bernd Salzberger schrieb uns jedoch, es gebe keine spezifische Untersuchung, mit der der Status des Immunsystems festgestellt werden könne: „Eine Schwächung des Immunsystems kann ich nur feststellen, wenn es zu vermehrten Infektionen oder Tumoren kommt.“ 

Arne Sattler erklärte, man könne zwar Untersuchungen des Blutes vornehmen, wie sie in dem Artikel gefordert würden, aus solchen Untersuchungen lasse sich aber nichts ableiten, was die Diagnose V-Aids rechtfertige. 

Schwächung des Immunsystems unmittelbar nach Impfungen ist möglich, aber kurzfristig

Im Falle von mRNA-Impfungen gegen Covid-19, wie dem Impfstoff von Biontech/Pfizer, schrieb uns Bernd Salzberger, gebe es Ausbrüche von Zoster-Viren. Das sind Viren, die Windpocken auslösen, danach dauerhaft im Körper bleiben und bei einer Schwächung des Immunsystems auch viele Jahre später noch eine Gürtelrose (schmerzhafter Ausschlag) verursachen können. Dies deute darauf hin, „dass kurzfristig nach der Impfung die Immunabwehr ’nachlässt’“, so Salzberger. Das sei jedoch nur ein kurzfristiger Effekt, der in den ersten Wochen nach einer Impfung auffalle. Ansonsten seien bisher keine Häufungen von Infektionen nach Covid-Impfungen beschrieben worden. 

Es seien bislang einige wenige Fälle bekannt, bei denen Menschen nach der Impfung eine Gürtelrose bekommen hätten, sagte uns die Virologin Monika Redlberger-Fritz von der Universität Wien für einen Faktencheck Ende Juni. „Aber, man muss auch dazu sagen: Es sind wesentlich mehr Fälle bekannt, bei denen die Infektion mit Covid-19 die Gürtelrose verursacht hat.“ 

Zur Einordnung: Von den fünf in Deutschland zugelassen Impfstoffen handelt es sich bei zweien (Moderna und Biontech/Pfizer) um mRNA-Impfstoffe, auf die die überwiegende Mehrheit der bislang verabreichten Impfungen entfallen. Für den Zeitraum zwischen dem 27. Dezember 2020 und dem 31 März 2022 berichtet das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) in seinem aktuellen Sicherheitsbericht, dass bei der Gabe aller Impfstoffe pro 100.000 Impfungen 1,42 Fälle einer Herpes Zoster Erkrankung (Gürtelrose) gemeldet wurden. Bisher wurden in Deutschland 182,5 Millionen Impfungen verabreicht (Stand 22. Juni). 

PEI: „Die Bezeichnung V-Aids ist in der Wissenschaft weder gebräuchlich noch etabliert“

Wir wollten vom PEI und den Forschenden wissen, ob der Ausdruck V-Aids in der Wissenschaft benutzt wird, um eine Schädigung des Immunsystems nach Covid-19-Impfungen zu bezeichnen. 

Susanne Stöcker, Pressesprecherin des PEI, antwortete uns, die Bezeichnung V-Aids sei „in der Wissenschaft weder gebräuchlich noch etabliert“. Das könne man auch daran sehen, dass es zu dem Thema keine Veröffentlichungen in einschlägigen Literaturdatenbanken für Fachartikel gebe. 

Als Beispiel führt Stöcker die Datenbank Pubmed an. Sie wird von der amerikanischen „National Library of Medicine“ betrieben, der weltweit größten medizinischen Bibliothek. Sucht man dort nach den Schlagworten V-Aids, Impfung und Covid-19, gibt es keine Treffer. Sucht man nur nach V-Aids, wird lediglich ein Artikel angezeigt. Dieser, so Stöcker, beschäftige sich jedoch „mit einem völlig anderen Thema“ und werde offenbar nur durch einen Schreibfehler in der Suche angezeigt. 

In dem Artikel geht es eigentlich darum, welche Faktoren Jugendliche für die Autoimmunerkrankung Aids anfällig machen. Diese wird durch Humane Immundefizienz-Viren (HIV) verursacht. Infizierte entwickeln eine Immunschwäche, die sie anfällig für Erkrankungen macht, beispielsweise Lungenentzündungen und Pilzerkrankungen. In dem wissenschaftlichen Artikel findet sich folgende Formulierung, die von der Suche in der Bibliothek offenbar fälschlicherweise als Übereinstimmung mit dem Suchwort „V-Aids“ erkannt wird: „the knowledge on HI V/AIDS“. 

Weiter schrieb uns Stöcker, dass sich weder in der Datenbank des PEI noch in der Datenbank der Europäischen Arzneimittelbehörde Verdachtsfälle von Impfnebenwirkungen fänden, die etwas mit der angeblichen Erkrankung V-Aids zu tun hätten. Eine solche Erkrankung sei „in der Wissenschaft nicht bekannt“. 

V-Aids hat nichts mit durch HIV verursachtem Aids zu tun

Auch der Immunologe Arne Sattler sagte uns: „Die Bezeichnung kennt in der Wissenschaft niemand – weder im deutschen, noch im internationalen Kontext.“

Ähnlich äußerte sich auch der Virologe Bernd Salzberger. Der Begriff V-Aids sei nicht etabliert und „erst recht nicht gebräuchlich“, schrieb er uns. „Ich finde die Wahl des Begriffs sogar etwas erschreckend: Ich bin als junger Arzt mit der HIV- und Aids-Epidemie konfrontiert gewesen und habe viele Patienten mit dem Vollbild und den Vorformen des sehr schweren Immundefektsyndroms Aids behandelt. Die Bezeichnung V-Aids ist gerade im Hinblick auf die Assoziation mit dem wirklichen Aids in meinen Augen eine etwas leichtfertige Bezeichnung.“ 

In Deutschland sind seit den 1970er Jahren laut dem Robert-Koch-Institut (RKI) rund 30.000 Menschen an den Folgen einer HIV-Infektion gestorben. Weltweit lebten laut den Vereinten Nationen im Jahr 2020 37,7 Millionen Menschen mit HIV, 680.000 starben im gleichen Jahr an den Folgen der Infektion. Als häufigste Ursache der Übertragung von HIV gilt ungeschützter Sex. Vor einer Infektion bieten Kondome und Femidome einen zuverlässigen Schutz, wenn sie richtig verwendet werden. Es existieren zudem Behandlungsmethoden, um eine Infektion einzudämmen.

Redigatur: Viktor Marinov, Alice Echtermann

Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Faktencheck:

  • Artikel der Max-Planck-Gesellschaft über das Immunsystem: Link
  • Sicherheitsbericht des Paul-Ehrlich-Instituts vom 4. Mai 2022: Link
  • Ratgeber des Robert-Koch-Instituts zu HIV-Infektionen: Link
  • Webseite der Deutschen Aidshilfe: Link