Faktencheck

Lauterbach- und Brandt-Zitate über „Ausnahmezustand“ und „Notstand“ ohne Kontext irreführend

In Sozialen Netzwerken wird ein Zitat von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach über die „Normalität eines Ausnahmezustands“ in Bezug zu einer Aussage des Ex-Bundeskanzlers Willy Brandt über die Verabschiedung der Notstandsgesetze 1968 gesetzt. Der Vergleich führt ohne Kontext in die Irre.

von Marc Steinau

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD)
Ein Zitat von Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) wird in Sozialen Netzwerken ohne Kontext wiedergegeben und wirkt dadurch missverständlich (Quelle: Picture Alliance / DPA / Kay Nietfeld)
Behauptung
Karl Lauterbach habe gesagt: „Wir kommen jetzt in eine Phase hinein, wo der Ausnahmezustand die Normalität sein wird. Wir werden ab jetzt immer im Ausnahmezustand sein“. Willy Brandt habe gesagt: „Wer einmal mit dem Notstand spielen sollte, um die Freiheit einzuschränken, wird meine Freunde und mich auf den Barrikaden zur Verteidigung der Demokratie finden, und dies ist ganz wörtlich gemeint.“
Bewertung
Fehlender Kontext
Über diese Bewertung
Fehlender Kontext. Sowohl Lauterbach als auch Brandt haben sich so geäußert, mit dem Gegenüberstellen der Zitate wird jedoch irreführender Weise ein Zusammenhang zwischen beiden Aussagen hergestellt. Lauterbach bezog seine Aussage über einen Ausnahmezustand darauf, dass der Klimawandel künftig immer wieder zu Pandemien und Wirtschaftskrisen führen werde. Brandts Aussage bezog sich hingegen auf einen Notstand per Gesetz bezüglich der sogenannten Notstandsgesetze von 1968, die bis heute nie Anwendung fanden.

Auf Facebook und Instagram kursieren verschiedene Collagen, auf denen links Gesundheitsminister Karl Lauterbach mit einem Zitat zu sehen ist: „​​Wir kommen jetzt in eine Phase hinein, wo der Ausnahmezustand die Normalität sein wird. Wir werden ab jetzt immer im Ausnahmezustand sein.“ Rechts neben Lauterbach ist der ehemalige Bundeskanzler Willy Brandt mit einem Zitat abgebildet, das vermeintlich als sinngemäße Antwort zu verstehen ist: „Wer einmal mit dem Notstand spielen sollte, um die Freiheit einzuschränken, wird meine Freunde und mich auf den Barrikaden zur Verteidigung der Demokratie finden, und dies ist ganz wörtlich gemeint.“ Die Collage verbreitet sich bereits seit März, und wird aktuell wieder viel geteilt.

Worauf sich die beiden Aussagen inhaltlich bezieht, wird dabei ausgelassen. Kommentaren unter den Beiträgen zufolge bringen einige Menschen die Aussage Lauterbachs direkt mit der Corona-Pandemie und den Schutzmaßnahmen in Verbindung. So heißt es zum Beispiel auf Facebook zu der Collage: „Die Proteste gegen die Corona-Maßnahmen halten bundesweit an“ oder „Warum? Weil Lauterbach ohne Corona wieder in der Bedeutungslosigkeit verschwinden wird.“

Das Zitat von Lauterbach ist echt. Der SPD-Politiker bezieht sich mit seiner Aussage vorrangig auf die Klimakrise, in deren Folge man sich auf weitere Krisen wie Wirtschaftskrisen, Kriege und Pandemien einstellen müsse. Das Willy-Brandt-Zitat ist ebenfalls echt, bezieht sich aber auf die 1968 verabschiedeten Notstandsgesetze, die, je nach Krisenfall, Bundestag und Bundesregierung erweiterte Handlungsmöglichkeiten zuschreiben.

In einem Instagram-Beitrag wird das Lauterbach-Zitat mit dem Hashtag #Plandemie geteilt. (Quelle: Instagram; Screenshot und Unkenntlichmachung: CORRECTIV.Faktencheck)

Zitat entstammt einer Diskussion im März – Lauterbach bezog sich auf Aussage der Wirtschaftswissenschaftlerin Kemfert

Über eine Google-Suche fanden wir heraus, dass das Zitat von Lauterbach von einem Gespräch zwischen Karl Lauterbach, dem Radio-Eins-Moderator Volker Wieprecht und der Wirtschaftswissenschaftlerin Claudia Kemfert stammt, das der RBB am 13. März 2022 live übertrug. Lauterbach stellte sein neues Buch „Bevor es zu spät ist. Was uns droht, wenn die Politik nicht mit der Wissenschaft Schritt hält“ vor.

Die Leiterin der Abteilung Energie, Verkehr und Umwelt am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) Claudia Kemfert spricht (ab Minute 56) davon, dass es aktuell verschiedene Krisen gebe: Klima, Pandemie, Artensterben, den russische Angriffskrieg auf die Ukraine, Spritpreise, Verschwendung. „Vor zwei Wochen [Beginn des Angriffskrieges auf die Ukraine, Anm. d. Red.] hat eine andere Welt begonnen, in der sind wir jetzt. Da müssen wir mit leben und wenn es gut geht, bleibt uns das erspart, was wir alle befürchten: Das es schlimmer wird, von der Seite, die uns da bedroht. Das bedeutet, dass wir vielleicht glimpflich rauskommen, aber es gibt kein zurück zur Normalität mehr, das ist unsere neue Normalität.“

Daraufhin (ab Minute 58:20) greift Lauterbach den Begriff „Normalität“ auf: „Ich stimme zu: Wir kommen jetzt in eine Phase hinein, wo der Ausnahmezustand die Normalität sein wird.“ Es folgt das in der Grafik genannte Zitat zum Ausnahmezustand. Im Anschluss führt Lauterbach aus: „Der Klimawandel wird zwangsläufig mehr Pandemien bringen. Mehr Pandemien werden die Wirtschaft belasten, also unterbrechen. Wir kommen in eine Krise des globalen Wassermangels hinein und Kriege für Wasser sind fast unvermeidbar.“ Lauterbachs Zitat bezieht sich also darauf, dass durch den Klimawandel künftig immer weitere Krisen drohen, wie Pandemien, Kriege und Wirtschaftskrisen.

Brandt-Zitat bezieht sich auf Diskussion zu Notstandsgesetzen von 1968 und hat keinen aktuellen Bezug

Diese Form des Ausnahmezustands in Folge des Klimawandels hat jedoch nichts mit dem Zitat rechts daneben von Ex-Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) zu tun, in dem er sinngemäß davor warnt mit dem Notstand „zu spielen, um die Freiheit einzuschränken“.

Diese Aussage ist echt und wurde von Brandt im Kontext der Debatte um die Notstandsgesetze getroffen. Im Archiv des Bundestags gibt es ein Protokoll der Sitzung aus dem Jahr 1968, in dem Brandts Zitat wörtlich vorkommt (Seite 9.628). Brandt, damals Vizekanzler, bezog sich auf geplante Änderungen des Grundgesetzes, der sogenannten Notstandsgesetze. Diese sollten regeln, ob und wie der Staat bei einem inneren Notstand, Verteidigungsfall und Spannungsfall die Grundrechte einschränken dürfe, um in einer Krisensituation wie Krieg, Naturkatastrophen oder Aufstand handlungsfähig zu bleiben. Der Hintergrund ist also kein Ausnahmezustand, der durch den Klimawandel und Folgen daraus hervorgerufen wird, sondern ein Notstand, der per Gesetz von der Regierung ausgerufen wird.

Den Notstandsgesetzen waren zehn Jahre politischen und gesellschaftlichen Streits vorausgegangen. Der Spiegel schrieb 1968, Brandt wollte mit seiner Äußerung vor allem die innerparteiliche Opposition überzeugen und signalisierte, dass die Gesetze nicht für einen autoritären Geist missbraucht würden. Der SPD-Politiker bezeichnete die Gesetze als „erforderliche Vorsorgegesetzgebung“, bei der man nur über das „Wie“, nicht über das „Ob“ streiten könne.

Die Notstandsgesetze wurden am  30. Mai 1968 vom Bundestag beschlossen und wurden seither noch nie angewendet – auch nicht während der Corona-Pandemie, wie uns ein Sprecher des Bundesinnenministeriums, das federführend für die Notstandsgesetze zuständig ist, telefonisch mitteilte. Während der Corona-Pandemie gab es lediglich Änderungen im Infektionsschutzgesetz.

Redigatur: Sophie Timmermann, Uschi Jonas

Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Faktencheck:

  • RBB-Interview mit Karl Lauterbach und Claudia Kemfert vom 13. März 2022: Link
  • Protokoll der Bundestagssitzung vom 30. Mai 1968: Link
  • Artikel des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags zu Notstandsgesetzen: Link