Nein, Selenskyj trägt auf diesem Foto keinen Aufnäher mit SS-Totenkopf
Laut einem Blogartikel trug der ukrainische Präsident Selenskyj beim Besuch in Isjum ein Nazi-Symbol der Waffen-SS. Das stimmt nicht. Selenskyj trug das Abzeichen einer Brigade der ukrainischen Armee.
„Mit Aufnäher der Waffen-SS: Selenskyj besucht Isjum“ titelte der Anti-Spiegel am 15. September. Die Webseite veröffentlichte in der Vergangenheit immer wieder falsche Behauptungen. Dieses Mal ist auf einem Foto im Artikel Selenskyj zu sehen, an seinem Ärmel ein Aufnäher. Dieser soll angeblich das Totenkopfabzeichen der Waffen-SS darstellen. Auf Telegram wurde der Artikel des Anti-Spiegel inzwischen über 93.000 Mal gesehen; auch auf Twitter und Facebook verbreitet sich das Foto mit derselben Behauptung.
Der Anti-Spiegel greift damit ein beliebtes pro-russisches Narrativ auf. Seit Beginn des Angriffskrieges spricht Wladimir Putin von einer angeblichen „Entnazifizierung“ der Ukraine und rechtfertigt damit den Krieg – Propaganda, über die wir in einem Hintergrund berichteten.
Es gibt zwar Fälle, in denen ukrainische Soldaten eine „moderne Interpretation“ des Totenkopf-Symbols trugen, das in der SS-Division „Totenkopf“ üblich war, wie wir jüngst berichteten. Auf dem jetzt kursierenden Foto trägt der ukrainische Präsident Selenskyj aber einen ganz anderen Aufnäher. Er ist das Abzeichen einer Brigade der ukrainischen Armee. Es zeigt zwar ebenfalls einen Totenkopf, hat mit der Waffen-SS aber nichts zu tun.
Selenskyj trägt keinen Totenkopfaufnäher mit SS-Motiv
Das Foto, auf das sich der Anti-Spiegel bezieht, wurde am 14. September in der ukrainischen Stadt Isjum aufgenommen. Selenskyj besuchte Isjum, kurz nachdem die ukrainische Armee die Kontrolle über die Stadt wiedererlangt hatte. Selenskyj selbst veröffentlichte das Foto auf seinem offiziellen Telegram-Kanal und weitere Fotos auf Facebook, auf denen derselbe Aufnäher zu sehen ist.
Wir haben den Historiker Alex Kay nach seiner Einschätzung zum Aufnäher an Selenskyjs Ärmel gefragt. Kay ist wissenschaftlicher Mitarbeiter für Militärgeschichte an der Universität Potsdam. „Der Patch, den Selenskyj trägt, steht meiner Beurteilung nach in keiner Weise in Verbindung mit Motiven der Waffen-SS“, schrieb er uns per E-Mail. Der Totenkopf sei keine Erfindung der Nationalsozialisten und sei vielfach in anderen Zusammenhängen verwendet worden. Bereits im 18. Jahrhundert bedienten sich zum Beispiel die Husaren-Regimenter der preußischen Armee oder das 17. Kavallerieregiment der britischen Armee solcher Motive.
Totenkopfabzeichen einer Brigade der ukrainischen Armee
Doch was zeigt der ukrainische Aufnäher? Laut Anti-Spiegel steht auf dem Aufnäher „Ukraine oder Tod“. Das passt zum ukrainischen Schriftzug „Україна або смерть“, der im Foto oberhalb des Aufnähers zu sehen ist. Eine Google-Suche mit diesen Worten auf Ukrainisch führt zu einem Artikel des ukrainischen Nachrichtenportals Glavcom. In dem Artikel steht, das Abzeichen gehöre der 72. separaten mechanisierten Brigade der ukrainischen Armee.
Eine weitere Google-Suche mit dem Namen der Brigade auf Ukrainisch „72-га окрема механізована бригада“ führt zu einem Artikel des ukrainischen Wochenmagazins Ukrainskyi Tyzhden. Darin heißt es, das Symbol der Brigade sei von der Forscher- und Künstlergruppe „New Army“ entwickelt worden. Im Artikel des Wochenmagazins ist außerdem ein Dokument zu sehen, wonach die neuen Abzeichen der Brigade 2019 vom damaligen Generalstabschef Viktor Muschenko genehmigt wurden. Darüber berichteten auch weitere ukrainische Nachrichtenseiten. Muschenkos Unterschrift ist oben rechts im Dokument zu sehen. Er veröffentlichte das Dokument zudem im März 2019 selbst auf seinem Facebook-Account.
Laut Ukrainskyi Tyzhden und Novynarnia ist der Totenkopf ein Symbol des Todes und ein Symbol des Widerstands gegen den Tod. Es sei zurückzuführen auf die Schwarzen Kosaken, eine Militäreinheit der Armee der Ukrainischen Volksrepublik. Diese wurde als unabhängiger Staat 1917 ausgerufen und bestand bis ins Jahr 1920. Aus den Memoiren von Dmytro Gonta, Kommandeur der 2. Batterie des Regiments der Schwarzen Kosaken, geht hervor, dass „Ukraine oder Tod“ auf der Flagge des Regiments stand. Demnach verwendeten Streitkräfte in der Ukraine schon vor der Zeit des Nationalsozialismus den Schriftzug „Ukraine oder Tod“.
Einen ähnlichen Spruch, „Freiheit oder Tod“, nutzten etwa auch griechische Revolutionäre im Unabhängigkeitskrieg gegen die Osmanen Anfang des 19. Jahrhunderts und weitere Bewegungen. Die Behauptung im Anti-Spiegel, Parole und Totenkopf seien von den Nazis entlehnt, ist also falsch.
Einen Überblick mit allen Faktenchecks von uns zum Krieg in der Ukraine finden Sie hier.
Redigatur: Viktor Marinov, Steffen Kutzner