Faktencheck

Irreführende Behauptungen über angebliche Gehaltserhöhung ukrainischer Abgeordneter um 70 Prozent

Auf verschiedenen Webseiten wird behauptet, Abgeordnete des ukrainischen Parlaments hätten im Juli eine 70-prozentige Erhöhung ihrer Gehälter beschlossen. Das ist falsch. Für die Behauptung, zusätzliche Ausgaben würden durch die internationalen Finanzhilfen gedeckt, gibt es zudem keine Belege. Das ukrainische Parlament widerspricht.

von Sophie Timmermann

Ukrainian President Volodymyr Zelenskyy Celebrates Ukrainian Statehood Day at the Verkhovna Rada
Blick in den ukrainischen Parlamentssaal am 28. Juli 2022 (Quelle: Picture Alliance / Zumapress.com / Ukrainian Presidential Press Off)
Behauptung
Im Juli hätten die Abgeordneten des ukrainischen Parlaments eine 70-prozentige Erhöhung ihrer Gehälter beschlossen. Es wird suggeriert, die Erhöhung werde aus den internationalen Hilfen für die Ukraine finanziert.
Bewertung
Größtenteils falsch
Über diese Bewertung
Größtenteils falsch. Die Basisgehälter der ukrainischen Abgeordneten haben sich durch den Beschluss nicht erhöht. Schwankungen ergeben sich aus den Zulagen. Die Abgeordneten können zum Beispiel eine Zulage für Arbeitsintensität von maximal 100 Prozent ihres Grundgehalts erhalten; dies ist nicht neu und kam zum Beispiel in Januar 2021 schon vor. Im Juni und August 2022 wurde erneut der maximale Wert pro Monat ausgezahlt. Der Beschluss im Juli ermöglicht, dass die höheren Zulagen über Mittel aus dem Staatshaushalt gedeckt werden können. Die Kosten werden laut Parlament jedoch nicht durch internationale Finanzhilfen gedeckt, sondern durch eine Kürzung von Geldern eines anderen Programms.

„Ukraine: Die Rada-Abgeordneten haben ihre Einkünfte um 70 Prozent erhöht“, titelte die Webseite Overton am 22. August. Abgeordnete erhielten nun 49.600 statt 28.800 Hrywnja (UAH), finanziert werde das angeblich „aus den erhaltenen Geldern von ausländischen Partnern”. Das entspricht mit dem aktuellen Währungskurs etwa 1.374 Euro statt 798 Euro. Am selben Tag und mit Verweis auf Overton berichtete auch der russische Sender RT DE, die ukrainischen Abgeordneten hätten eine „70-prozentige Erhöhung ihrer Gehälter“ beschlossen. Beide Beiträge suggerieren – direkt oder indirekt – das Geld dafür stamme aus den Finanzhilfen des Westens an die Ukraine.

Offiziell sind Inhalte von RT DE seit dem 2. März durch Sanktionen der EU gegen Russland in Deutschland gesperrt, über eine andere URL sind neue Inhalte des Senders jedoch weiterhin aufrufbar. Auf Facebook verbreiten sich Screenshots des Artikels. Der AfD-Politiker Jörg Urban teilte den Bericht von Overton am 24. August auf Facebook. Die für Desinformation bekannte Webseite Report24 griff das Thema am 26. August auf. 

Wir haben uns die Behauptungen mit Hilfe einer ukrainischen Journalistin angeschaut und das ukrainische Parlament nach Details zu den Gehältern angefragt. Unsere Recherche mit einem konkreten Vergleich der Zahlungen an zwei Abgeordnete zeigt: Der Beschluss im Juli führte nicht zu einer Erhöhung des Basisgehalts, die Berichte über die angeblich 70-prozentige Gehaltserhöhung sind irreführend. 

Ein Screenshot des Artikels von RT DE verbreitet sich auf Facebook
Ein Screenshot des Artikels von RT DE verbreitet sich auf Facebook (Quelle: Facebook; Screenshot und Schwärzung: CORRECTIV.Faktencheck)

Ukrainisches Parlament: Bezahlung der Abgeordneten wird nicht durch internationale Hilfeleistungen gedeckt 

Die Behauptungen von Overton und RT DE beziehen sich auf einen Beschluss des ukrainischen Parlaments vom 19. Juli. Der Beschluss ändert das Gesetz „über die finanzielle Unterstützung der Aktivitäten der Abgeordneten der Ukraine“. Er besagt, dass Zulagen der Abgeordneten durch Mittel aus dem Staatshaushalt gedeckt werden können. (Punkt 3). Dass die Formulierung auf Zulagen abzielt, erschließt sich aus dem Hinweis auf „Ziffer 2“ – im Gesetz wird dort festgelegt, dass Abgeordnete Zulagen zu ihrem Basisgehalt erhalten können. 

Beschluss des ukrainischen Parlaments
Ausschnitt aus dem Beschluss der Werchowna Rada vom 19. Juli 2022. Darin ist nichts von einer 70-prozentigen Erhöhung des Gehaltes zu lesen, stattdessen wird erklärt, dass Zulagen für Abgeordnete aus dem Staatshaushalt gezahlt werden können. (Quelle: rada.gov.ua; Übersetzung mit Google Translate, Screenshot und Markierung: CORRECTIV.Faktencheck)

Die Tatsache, dass die Zulagen durch Mittel aus dem Staatshaushalt bezahlt werden können, ist wohl der Ursprung der Behauptung, die Ukraine würde dafür Hilfsgelder verwenden. Auch in ukrainischen Medien wurde über die Kostenverteilung spekuliert. Das ukrainische Parlament veröffentlichte daraufhin am 23. Juli eine Pressemitteilung. 

In der Mitteilung heißt es: „Zusätzliche Mittel für die Bezahlung der Volksabgeordneten werden weder aus dem Staatshaushalt 2022 noch auf Kosten der bereitgestellten internationalen Hilfe gedeckt.“ Die Umsetzung des Beschlusses werde keine zusätzlichen Kosten zu Lasten des Staatshaushalts der Ukraine erfordern.

Mehr Details liefert eine offizielle Antwort auf eine Presseanfrage, die von einer ukrainischen Zeitung veröffentlicht wurde. Demzufolge stammen die Mittel aus einer Umverteilung: Einem anderen Programm, das unter anderem für Veranstaltungen und die technische Unterstützung des Parlaments zuständig ist, wurden Gelder gekürzt.

Gehälter der Abgeordneten werden auf Basis des Existenzminimums kalkuliert 

Laut Overton wurden die Gehälter der Abgeordneten durch den Beschluss von 28.800 auf 49.600 UAH erhöht. Wir fanden diese Einschätzung auch in einem Facebook-Beitrag des ukrainischen Abgeordneten Mykola Tomenko vom 22. Juli. Tomenko bezieht sich nach eigener Aussage auf Experten einer ukrainischen Zeitung namens Sudovo-yuridichna Gazeta, die sich mit Themen der Rechtsprechung befasst. In Artikeln auf der Webseite der Zeitung vom 19. Juli und vom 23. Juli zu dem Thema, ist diese Rechnung so nicht zu finden. 

Wie hoch ist also das Gehalt der ukrainischen Abgeordneten? 

Die Gehälter werden auf Basis des existenzsichernden Lohns für „arbeitsfähige Personen“ kalkuliert, wie in einem Beschluss von 2017 zu lesen ist. Das Existenzminimum wurde demnach dieses Jahr im Januar und Juli angepasst und jeweils leicht erhöht. Es beträgt seit dem 1. Juli 2022 2.600 UAH monatlich (Quelle), das sind aktuell umgerechnet rund 72 Euro (Wechselkurs vom 20. Oktober). 

Diese Zahl wird je nach Position im Parlament mit einem Faktor von 10 bis 12 multipliziert, woraus sich das Basisgehalt der Abgeordneten errechnet. Der Präsident des Parlaments erhält zum Beispiel 12 existenzsichernde Löhne, der erste stellvertretende Sprecher 11,5, Mitglieder des Ausschusses 10. 

Um genauere Zahlen zu erhalten, haben wir beim ukrainischen Parlament nachgefragt, wie hoch das Gehalt eines Abgeordneten in den vergangenen Monaten war. Die Werchowna Rada gab uns folgende Angaben

In der ersten Jahreshälfte bis Juni 2022 betrug das Gehalt eines Ausschussmitglieds monatlich 24.810 UAH (etwa 685 Euro). Das entspricht zehn Einheiten des bis Juli gültigen Existenzminimums für arbeitsfähige Personen (2.481 UAH), wie im Staatsbudget aufgeführt. 

Berechnung der Gehälter auf Grundlage des Existenzminimums
Die Gehälter der ukrainischen Abgeordneten werden auf Basis des existenzsichernden Lohns festgelegt (Quelle: rada.gov.ua; Übersetzung mit Google Translate, Screenshot: CORRECTIV.Faktencheck)

Abgeordnete können Zulagen in Höhe von bis zu 100 Prozent des Gehalts erhalten

Das Gesetz gewährt Abgeordneten Zulagen zu diesem Basisgehalt. Neu ist das nicht – der Punkt war schon 2017 bei der Verabschiedung des Gesetzes „über die finanzielle Unterstützung der Aktivitäten der Abgeordneten der Ukraine“ darin zu finden, wie eine archivierte Version des Gesetzestextes zeigt. 

Die Höhe der Abgeordnetenzulage richtet sich nach der Höhe der Zulage, die Mitgliedern des Ministerkabinetts zusteht. Eine maßgebliche Zulage ist für „Arbeitsintensität“. Sie liegt bei bis zu 100 Prozent des offiziellen Gehalts. Auch das ist nicht neu, sondern in einem Kabinettsbeschluss von 2016 nachzulesen. Seit April 2022 erhalten führende Kabinettsmitglieder diese Zulage jedoch nicht mehr. Das gilt also auch für Präsident Wolodymyr Selenskyj und bis mindestens Januar 2024. 

Richtig ist also, dass sich das Gehalt der Abgeordneten durch diese Zulage signifikant erhöhen kann. Diese Zulage gibt es jedoch seit Jahren und sie wird heute nicht anders berechnet als früher. 

Unterschiede bei der monatlichen Höhe der Zulage für Arbeitsintensität im Jahr 2022 

Zur Höhe der Zulagen für Abgeordnete im Jahr 2022 teilte uns das ukrainische Parlament mit: Im April habe der Arbeitsintensitätszuschlag bei 10 Prozent des Gehalts gelegen, im Mai bei 20 Prozent und im Juni und August bei den maximalen 100 Prozent. Wie das Parlament anmerkt, kann es weitere Zuschüsse für Ehren- und wissenschaftliche Titel geben. Wie hoch die Zulage im Juli war, geht aus den Angaben des Parlaments nicht hervor. 

Wir haben das Parlament zum Vergleich auch nach dem Gehalt für Januar 2021 gefragt und fanden so heraus, dass die Höhe der Zulage für Arbeitsintensität damals auch 100 Prozent betrug. Das Basisgehalt lag damals bei 22.700 UAH, also etwa 2.000 UAH (55 Euro) weniger als im Juni 2022. 

Warum die Zulagen im April und Mai 2022 deutlich niedriger waren und dann wieder auf 100 Prozent erhöht wurden, erklärte das Parlament nicht. 

Wie viel verdienen der Parlamentspräsident und ein Abgeordneter in der Ukraine inklusive Zulagen?

Je nach Zuschüssen und der Position innerhalb des Parlaments kann das Gehalt stark variieren. Wir haben deshalb nach dem exakten Gehalt zweier Parlamentsmitglieder gefragt: Dem Ukrainischen Parlamentspräsidenten, Stefanchuk Ruslan Oleksiyovych, und dem Abgeordneten Oleksiy Serhiyovych Zhmerenetsky, der Mitglied im Ausschuss für Antikorruptionspolitik ist. 

Das Parlament schickte uns Daten für die Monate Januar, April, Mai und August 2022. Mit den Angaben kann man die Entwicklung und Höhe der Zulagen nachvollziehen. Wir haben sie in einer Tabelle veranschaulicht: 

Tabelle mit den Gehältern zweier Abgeordneter
Die Gehälter der beiden Parlamentsmitglieder auf Basis der Angaben vom Parlament, in der ukrainischen Währung Hrywnja (UAH) (Quelle der Daten: Werchowna Rada der Ukraine; Tabelle: CORRECTIV.Faktencheck)

Aus den Zahlen lässt sich schließen, dass die Zulage für Arbeitsintensität von 100 Prozent, die laut Parlament schon im Juni 2022 gewährt wurde, zu einer deutlichen Steigerung der Zahlungen im Vergleich zu den Vormonaten geführt hat. Warum das Basisgehalt von Oleksiy Serhiyovych Zhmerenetsky im Mai niedriger war als im April, oder das Basisgehalt von Stefanchuk Oleksiyovych im August im Vergleich zu den Vormonaten etwas sank, ist unklar. 

Fazit: Die Behauptungen über die Gehaltserhöhungen der ukrainischen Abgeordneten sind irreführend

Dass sich die Mitglieder des ukrainischen Parlaments im Juli 2022 eine Gehaltserhöhung von 70 Prozent genehmigt hätten, ist falsch. Das Basisgehalt der Abgeordneten hat sich durch den Beschluss nicht verändert. 

Wie viel Geld die Abgeordneten pro Monat erhalten, hängt von verschiedenen Zulagen zum Basisgehalt ab, insbesondere einer Zulage für Arbeitsintensität. Dass diese Zulage gezahlt wird, ist aber nicht neu, sie existiert seit mehreren Jahren. 

Tatsächlich bekamen die Abgeordneten in den vergangenen Monaten deutlich mehr Geld als vorher – weil die Zulage im Juni und August 2022 auf 100 Prozent erhöht wurde. Eine so hohe Zulage gab es aber auch beispielsweise im Januar 2021, daher lässt sich das nicht auf den Beschluss von Juli 2022 zurückführen.

Neu ist an diesem Beschluss, dass die höheren Zulagen aus Mitteln des Staatshaushaltes finanziert werden können. Das Parlament bestreitet jedoch, dass dafür Hilfsgelder anderer Länder verwendet werden. Stattdessen gab es eine Umverteilung und Kürzung der Mittel an anderer Stelle. 

Einen Überblick mit allen Faktenchecks von uns zum Krieg in der Ukraine finden Sie hier.

Mitarbeit bei der Recherche und Übersetzungen: Iryna Saievych

Redigatur: Steffen Kutzner, Alice Echtermann

Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Faktencheck:

  • Pressemitteilung des ukrainischen Parlaments vom 23. Juli: Link
  • Beschluss des Parlaments vom 19. Juli 2022: Link (archiviert)
  • Antworten des ukrainischen Parlaments auf unsere Presseanfrage: PDF zum Download
  • Kabinettsbeschluss von 2016: Link
  • Änderung des Kabinettsbeschlusses vom 20. April 2022: Link
  • Ukrainisches Staatsbudget für 2022: Link
  • Höhe des Gehalts ukrainischer Abgeordnete, Beschluss von 2017: Link