Fotos von Russland belegen nicht, dass die Ukraine eine „schmutzige Bombe“ herstellt
Seit Beginn des Angriffskriegs streut Russland Behauptungen, die Ukraine würde eine „schmutzige Bombe“ herstellen. Seit Oktober mehren sich unbelegte Aussagen russischer Politiker dazu. Fotos, die das russische Außenministerium in dem Zusammenhang auf Twitter veröffentlichte, führen in vielen Fällen nach Russland selbst.
Anfang März zitierte die russische Nachrichtenagentur Tass den Leiter der russischen Delegation für Rüstungskontrolle in Wien, Konstantin Gavrilov: Die Gefahr einer „schmutzigen“ Atombombe sei eines der Motive für Russlands Krieg gegen die Ukraine. Seit Oktober streut Russland verstärkt das Narrativ über die angebliche Herstellung einer solchen Bombe. Am 23. Oktober sprach der russische Verteidigungsminister Sergey Shoigu von einer angeblichen „Provokation der Ukraine durch eine schmutzige Bombe“. Am 25. Oktober wiederholte der russische Politiker Dmitry Polyanskiy vor dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen (UN) die Behauptung.
In einem Tweet vom 24. Oktober wird das russische Außenministerium konkreter. Dem Ministerium vorliegende Informationen zeigten, dass zwei ukrainische Organisationen dazu beauftragt worden seien, eine „schmutzige Bombe“ [Englisch: dirty bomb] herzustellen. „Die Arbeiten sind in der finalen Phase.“ Dazu teilte das Außenministerium eine Grafik mit verschiedenen Bildern, die radioaktive Substanzen und die Herstellung der Bombe illustrieren sollen. In einem zweiten Twitter-Beitrag, eine knappe Stunde später veröffentlichte das Ministerium weitere Bilder.
Die Bilder stützen jedoch nicht, was Russland behauptet. Frankreich, Großbritannien und die USA weisen zudem die Anschuldigungen Russlands zurück. Der Internationalen Atomenergiebehörde liegen laut eigener Aussage keine Angaben über irreguläre Aktivitäten der Ukraine vor. Ein Faktencheck.
Was ist eine sogenannte schmutzige Bombe?
„Schmutzige Bomben“ sind laut Bundesamt für Strahlenschutz „Vorrichtungen mit konventionellem Sprengstoff, denen radioaktive Stoffe beigemischt oder beigefügt sind“. Der konventionelle Sprengstoff diene dazu, die radioaktiven Stoffe in der Umwelt zu verteilen.
Eine „schmutzige“ Bombe kann großen Schaden anrichten, allerdings gibt es im Vergleich zu einer Atombombe Unterschiede. „Eine Atombombe erzeugt eine Explosion, die tausend bis Millionen Mal stärker ist als jeder herkömmliche Sprengstoff, der in einer schmutzigen Bombe verwendet werden könnte“, heißt es vom US-Heimatschutzministerium. Die resultierende Atompilzwolke könne große Flächen (zehn bis hundert Quadratmeilen) mit „Staub“ bedecken; radioaktive Partikel einer schmutzigen Bombe dagegen nur einige Kilometer.
Was die Fotos des russischen Außenministeriums wirklich zeigen
Wir haben uns die Bilder angesehen, die in den russischen Tweets geteilt wurden – sie sind einzeln beschriftet. Die Fotos belegen die Behauptung nicht: Zwei Bilder zeigen ein Kernkraftwerk in der Ukraine, ein Bild führt zu einer ukrainischen Bergbauanlage. Ein Foto zeigt Tüten mit Rauchmeldern aus Slowenien. Die anderen Fotos zeigen ein Kernkraftwerk und ein Chemiewerk in Russland. Zwei Aufnahmen, die angeblich Lagerstätten für radioaktive Abfälle zeigen sollen, konnten wir nicht eindeutig zuordnen.
Hier lässt sich unsere Recherche zu den jeweiligen Bildern per Mausklick öffnen:
Bild 1 zeigt Rauchmelder aus Slowenien
Das größte Bild im ersten Tweet des russischen Außenministeriums ist mit den Worten „Herstellung einer schmutzigen Bombe“ betitelt. Zu sehen sind darauf in Plastiktüten verpackte Teile, gekennzeichnet mit dem Warnsymbol für Radioaktivität.
Einen ersten Hinweis, dass das Foto nicht aus der Ukraine stammt, liefert das auf den Tüten lesbare Wort „Radioaktivno“. Es ist mit lateinischen und nicht wie in der Ukraine üblich mit kyrillischen Buchstaben geschrieben. Doch woher kommt das Bild?
Die slowenische Regierung teilte kurze Zeit später per Twitter mit, dass das Foto von Arao stamme. Das ist eine slowenische staatseigene Agentur, die sich auf die Entsorgung radioaktiver Abfälle spezialisiert. Das Foto sei für Fachvorträge für die breite Öffentlichkeit als Erklärungsmaterial verwendet worden und zeige allgemein verwendbare Rauchmelder. Arao bestätigt das in einer Pressemeldung.
Bestimmte Rauchmelder können geringe Mengen radioaktiver Stoffe enthalten, wie Americium oder Radium. In der Tabelle unter dem Foto werden jedoch Stoffe wie Uranium und Plutonium aufgeführt, die laut Arao nicht in diesen Rauchmeldern enthalten waren. Das Foto sei zudem schon 2010 aufgenommen worden und sei ohne das Wissen der Organisation auf dem Twitter-Kanal des russischen Ministeriums veröffentlicht worden.
Wie die Deutsche Welle berichtete, findet sich das Foto online in einer Arao-Präsentation von 2014 (auf Seite 3) und auf einer slowenischen Projektseite für Energiethemen.
Bild 2 zeigt den Kernreaktor Belojarsk in Russland
Das Bild links unten im ersten Tweet des russischen Außenministeriums soll laut Beschriftung „wissenschaftliche Forschungsreaktoren“ zeigen. Es hat aber keinen Bezug zur Ukraine. Über eine Bilder-Rückwärtssuche finden wir es in einem russischen Blogartikel vom 23. April 2022. Es handelt sich demnach um das russische Kernkraftwerk Belojarsk in der Nähe von Jekaterinburg. Der Blogartikel verweist auf einen Artikel der russischen Nachrichtenagentur Tass, der neben dem abgebildeten Bild weitere Fotos der Anlage aus unterschiedlichen Perspektiven zeigt. Die russische Suchmaschine Yandex führt zu einem weiteren Bild derselben Anlage in der Fotodatenbank Diomedia – ebenfalls aus anderer Perspektive.
Bild 3 zeigt Person in weißem Schutzanzug in Russland
Auch dieses Bild steht in einem der russischen Tweets unter der Überschrift „wissenschaftliche Forschungsreaktoren“: Doch was hat es mit der Person im weißen Schutzanzug auf sich? Eine Bilder-Rückwärtssuche führt zu einem russischen Blogartikel von 2012, wonach es sich um eine Anlage in Nowosibirsk, das Nowosibirsker Chemiekonzentratwerk in Russland handelt. Dieses produziert Kernbrennstoff und Brennelemente aus Uran.
Auf dem Foto in dem Blog-Artikel ist der Zusatz „ngs.ru“ vermerkt – die Adresse einer russischen Nachrichtenseite, die über Nowosibirsk berichtet. Dort fanden wir den ursprünglichen Artikel über das Chemiekonzentratwerk, der am 6. Februar 2012 veröffentlicht wurde.
Bilder 4 und 5 zeigen das Kernkraftwerk Riwne in der Ukraine
Das Bild oben links im ersten Twitter-Beitrag (Bild 4) und links im zweiten Beitrag (Bild 5) zeigen das ukrainische Kernkraftwerk Riwne. Über eine Bilder-Rückwärtssuche finden wir das erste Foto in einem russischen Artikel von 2019 und einem Nachrichtenartikel über die kurzzeitige Notabschaltung eines Triebwerks im Mai 2020.
Das zweite Foto taucht in mehreren ukrainischen Artikeln auf, in einem davon schon 2018.
Ein Beleg dafür, dass dort an einer „schmutzigen Bombe“ gebaut wird, sind die beiden Bilder nicht – es handelt sich um Archivfotos. Rund die Hälfte aller EU-Mitgliedstaaten betreiben laut dem österreichischen Bundesministerium für Klimaschutz, Umwelt und Energie derzeit Kernkraftwerke.
Bild 6 zeigt Bergbauanlage in der Ukraine
Beim mittleren Foto des zweiten Twitter-Beitrags ist unten der Verweis auf eine „Eastern Mining and Processing Plant“ zu finden – das russische Außenministerium veröffentlichte es mit der Überschrift „Industrial Enterprises“. Eine Bilder-Rückwärtssuche führt zu Ergebnissen mit dem Namen, es handelt sich um ein Uranbergbauzentrum in der Ukraine. Das Foto findet sich in einem Eintrag auf Wikipedia, einem Artikel über den Abbau von Uran sowie einem Bericht der Internationalen Atomenergiebehörde (PDF-Download).
Bild 7 stammt aus Russland
Rechts im zweiten Twitter-Beitrag des russischen Außenministeriums findet sich ein Bild, das angeblich das „Kharkhov Institute of Physics and Technology“ zeigt. Tatsächlich führt eine Bilder-Rückwärtssuche aber nach Russland, genauer gesagt zum B.P. Konstantinov Institut für Kernphysik nahe St. Petersburg in Russland.
Das Bild ist unter anderem in einem russischen Nachrichtenartikel vom 10. Februar 2021 zu sehen. Darin hieß es, am 8. Februar habe Präsident Putin den Startschuss für einen neuen Neutronenreaktor gegeben. Die russische Nachrichtenagentur Tass berichtete ebenfalls darüber und verwendete das Bild in einer Fotogalerie.
Atomenergiebehörde fand bei Untersuchungen in der Ukraine keine Hinweise auf eine „schmutzige Bombe“
In einer gemeinsamen Mitteilung von Frankreich, Großbritannien und den USA am 23. Oktober hieß es: „Unsere Länder haben deutlich gemacht, dass wir alle die offenkundig falschen Behauptungen Russlands zurückweisen, die Ukraine bereite den Einsatz einer schmutzigen Bombe auf ihrem eigenen Territorium vor.“
In Folge der Anschuldigungen Russlands bat die Ukraine die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) darum, Aktivitäten an zwei Atomstandorten zu überprüfen. Der Generaldirektor der IAEA, Rafael Mariano Grossi, bestätigte in einer Pressemitteilung am 24. Oktober, dass beide Standorte unter IAEA-Sicherheitsvorkehrungen stehen und regelmäßig von Inspektoren besucht worden seien: „Die IAEO hat vor einem Monat einen dieser Standorte inspiziert, und alle unsere Ergebnisse stimmten mit den Sicherheitserklärungen der Ukraine überein.“
Am 11. November schrieb die IAEA, bei einem Besuch des Kernkraftwerks „Kharkiv Institute of Technology“ seien keine nicht deklarierten nuklearen Aktivitäten oder Materialien gefunden worden. Diese Anlage war nicht auf den Bildern des russischen Außenministeriums zu sehen.
Offiziell verfügen neun Länder über Atomwaffen, wie das Bündnis zur Abschaffung nuklearer Waffen ICAN schreibt: die USA, Russland, Frankreich, Großbritannien, Israel, Indien, Pakistan, Nordkorea und China. Die Ukraine trat 1994 dem Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen bei. Wie ICAN weiter schreibt, gab es nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, wie in anderen ehemaligen Landesteilen, auch in der Ukraine zahlreiche zurückgelassene Atomwaffen. Laut ICAN wurden bis 2001 alle Atomwaffen aus der Ukraine an Russland zurückgegeben.
Behauptungen über angebliche nukleare und chemische Aktivitäten der Ukraine sind nicht neu. Seit Beginn des Angriffskrieges streut Russland irreführende Behauptungen über ein angebliches Biowaffenprogramm der Ukraine. Wie wir mehrfach berichteten, gibt es dafür keine Belege.
Redigatur: Viktor Marinov, Sarah Thust