Faktencheck

Falsch interpretiert: Nein, Karl Lauterbach will nicht alle Herzinfarkt-Toten nach Infektion als Corona-Todesfälle zählen

Ein Beitrag auf dem Blog von Boris Reitschuster interpretiert eine Aussage von Karl Lauterbach irreführend. Anders als behauptet, fordert der Gesundheitsminister nicht, alle Menschen, die nach einer Covid-19-Infektion an einem Herzinfarkt sterben, als „Corona-Tote“ zu zählen.

von Viktor Marinov

Karl-Lauterbach-Bundespressekonferenz-Corona-Impfkampagne
Eine Aussage von Gesundheitsminister Karl Lauterbach in der Bundespressekonferenz vom 14. Oktober wird in einem Blogartikel auf Reitschuster.de falsch interpretiert (Quelle: Picture Alliance / NurPhoto / Christian Marquardt)
Behauptung
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach wolle alle Herzinfarkt-Toten nach Infektion als „Corona-Tote“ zählen.
Bewertung
Fehlender Kontext
Über diese Bewertung
Fehlender Kontext. Lauterbach forderte mit seiner Aussage nicht, dass künftig Herzinfarkt-Tote mit vergangener Covid-19-Infektion in die Corona-Statistik aufgenommen werden. Er führte solche Fälle als Beispiel für die Untererfassung der Corona-Todesfallzahlen an. Ein Sprecher des Gesundheitsministeriums bestätigte uns zudem, dass Lauterbachs Aussage keine Forderung zur Änderung der Statistik sei.

„Lauterbach will jetzt alle Herzinfarkt-Toten nach Infektion als ‚Corona-Tote‘ zählen“: So lautet die Überschrift eines Artikels auf dem Blog Reitschuster.de. Im Artikel heißt es zudem: „Für mich liegt hier zumindest der Verdacht auf der Hand, dass es sich um ein gigantisches Ablenkungs- und Vertuschungsmanöver handelt: Folgen der Impfung sollen als Folgen von Corona-Infektionen abgetan werden.“ Der am 15. Oktober erschienene Artikel bezieht sich auf eine angebliche Aussage des Bundesgesundheitsministers auf einer Pressekonferenz vom Tag zuvor. Er verbreitet sich stark in Sozialen Netzwerken: Allein ein Telegram-Beitrag von Reitschuster.de hat mehr als 260.000 Aufrufe, Screenshots von Teilen des Artikels kursieren auch auf Facebook. 

Doch ein Zitat von Karl Lauterbach wird verzerrend interpretiert, wie Aufnahmen der Pressekonferenz zeigen. Ein Sprecher des Ministeriums sagte uns auf Anfrage: „Mitnichten hat Lauterbach gefordert, man müsse die Corona-Statistik ändern und Herzinfarkt-Fälle erfassen.“

Telegram-Beitrag Karl Lauterbach Reitschuster
Auf Telegram verbreitet sich die falsche Behauptung über Lauterbachs Aussage besonders stark, mehr als 260.000 Menschen haben einen Beitrag dazu gesehen (Quelle: Telegram; Screenshot am 15. November 2022: CORRECTIV.Faktencheck)

Vollständige Aufnahme der Pressekonferenz zeigt: Lauterbachs Zitat wird verzerrend interpretiert

Auf Reitschuster.de heißt es, der Gesundheitsminister wolle alle Tode nach Herzinfarkten automatisch als Corona-Todesfälle in die Statistik eingehen lassen. Der Artikel bezieht sich auf einen Beitrag in der Zeit, in der eine Aussage Lauterbachs in der Bundespressekonferenz vom 14. Oktober zitiert wird. Doch was hat Karl Lauterbach konkret gesagt und in welchem Kontext stand seine Aussage?

In der rund einstündigen Pressekonferenz, die auf Youtube zu finden ist, stellte Lauterbach eine neue Kampagne seines Ministeriums vor, die mehr Menschen motivieren soll, sich zu impfen. Ein Journalist stellt dem Minister die Frage, ob die Infektionszahlen in Deutschland derzeit zuverlässig seien, da aktuell viele Fälle nicht gemeldet würden (ab Minute 33:40). Darauf antwortet Lauterbach: „Ich glaube, dass die Zahlen, die wir haben, zuverlässig sind, aber nicht vollständig.“ Es gebe eine Untererfassung der Fallzahlen.

Danach kommt Karl Lauterbach auf die Statistik der Corona-Toten zu sprechen (ab Minute 37:10). Aussagen, die Statistik überschätze die Zahl der „Coronatoten“, da viele „mit Covid” sterben würden, seien laut Lauterbach in der Regel falsch. Es könne trotzdem sein, dass eine Person ohne die Covid-19-Infektion nicht gestorben wäre. In dem Zusammenhang sagt er (ab Minute 37:50). „Wir unterschätzen auch die Todesfälle, weil wir wissen, dass nach der Corona-Infektion für ein ganzes Jahr die Wahrscheinlichkeit daran zu sterben – an einer Herz-Kreislauf-Erkrankung, Stichwort Herzinfarkt und dergleichen, Schlaganfall – deutlich erhöht ist. Diese Leute kommen aber alle nicht in die Statistik. Derjenige, der jetzt Corona gehabt hat und sechs Monate später an einem Herzinfarkt stirbt, der kommt nie in die Corona-Statistik. Die müssen aber eigentlich auch gezählt werden, weil der Mensch wäre ohne die Infektion nicht gestorben.“ 

Gesundheitsministerium: Karl Lauterbach fordert keine Änderung der statistischen Erfassung

Auf der Website von Boris Reitschuster wird diese Aussage fälschlicherweise als Forderung oder „dubioser Vorstoß“ dargestellt und die Verschwörungserzählung genährt, Folgen der Impfung würden „vertuscht“. Zudem wird der Kontext weggelassen, dass sich Lauterbach so äußerte, um die Untererfassung bei Corona-Fällen zu verdeutlichen: Statistisch würden demnach nicht alle Verstorbenen erfasst, deren Tod in einem Zusammenhang mit einer Corona-Infektion stehen könnte.

Wir haben auch die Pressestelle des Bundesgesundheitsministeriums gefragt, ob Karl Lauterbach eine Erfassung der Herzinfarkt-Toten als Corona-Todesfälle fordere oder plane. Ein Sprecher sagte uns am Telefon: „Der Minister wollte mit einem Beispiel verdeutlichen, wie ungenau die Corona-Statistik ist und dass dabei zu wenig Fälle erfasst werden könnten. Mitnichten hat er gefordert, man müsse die Statistik ändern und Herzinfarkt-Fälle erfassen.“

Covid-19-Todesfälle in Deutschland werden vom Robert Koch-Institut regelmäßig veröffentlicht. In die Statistik gehen laut RKI (Stand 29. August 2022) Todesfälle ein, bei denen ein laborbestätigter Nachweis von SARS-Cov-2 vorliegt und die in Bezug auf diese Infektion verstorben sind. In der Praxis sei es schwierig zu entscheiden, inwieweit die Corona-Infektion direkt zum Tod beigetragen hat, heißt es auf der RKI-Webseite. Daher würden sowohl Menschen erfasst, die unmittelbar an der Erkrankung verstorben seien („gestorben an“) als auch Menschen mit Vorerkrankungen, die mit SARS-Cov-2 infiziert gewesen seien und bei denen sich die Todesursache nicht abschließend nachweisen lasse („gestorben mit“). Generell liege es im Ermessen des Gesundheitsamts, ob ein Fall als „verstorben an Covid-19“ oder „verstorben mit Covid-19“ an das RKI übermittelt werde.

Meldungen über Verdachtsfälle von Nebenwirkungen und Impfkomplikationen im Zusammenhang mit Covid-19-Impfungen werden in Deutschland ebenfalls statistisch erfasst, und zwar im Sicherheitsbericht des Paul-Ehrlich-Instituts (PEI). Das Institut hat laut dem aktuellen Bericht bis zum 30. Juni 2022 insgesamt 323.684 Einzelfallmeldungen über den Verdacht einer Nebenwirkung oder Impfkomplikationen erhalten. Zu diesem Zeitpunkt waren in Deutschland bereits mehr als 182 Millionen Impfungen verabreicht worden. Zu den häufigsten gemeldeten Beschwerden gehören Kopfschmerzen, Ermüdung, Schmerzen an der Einstichstelle und grippeähnliche Symptome. In etwa einem Prozent der Verdachtsmeldungen (3.023 Fälle) ging es um Todesfälle. Einen wahrscheinlichen oder möglichen ursächlichen Zusammenhang mit der Impfung sieht das PEI in 120 Fällen. Wie das Institut bei der Erfassung von Verdachtsfällen in seinen Sicherheitsberichten umgeht, haben wir bereits im Juni 2021 ausführlich geschildert.

Redigatur: Sophie Timmermann, Uschi Jonas

Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Faktencheck:

  • Bundespressekonferenz mit Gesundheitsminister Karl Lauterbach, 14. Oktober 2022: Link
  • Statistik des Robert-Koch-Instituts zu Covid-19-Todesfällen: Link
  • Sicherheitsbericht des Paul-Ehrlich-Instituts, 7. September 2022: Link