Faktencheck

Rente in Deutschland: Internationaler Vergleich zeigt nicht die „Rentenhöhe“, sondern eine Modellrechnung

Wie der Vergleich von Rentensystemen weltweit ausfällt, hängt von den Faktoren ab, die man dabei berücksichtigt. Aktuell kursiert ein Diagramm, das mehrere EU-Länder vergleicht. Deutschland schneidet anscheinend schlecht ab. Was steckt dahinter?

von Sarah Thust

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Immer wieder kursieren im Netz irreführende Vergleiche von Rentensystemen: Diesmal geht es um die Nettoersatzquote für Renten in Italien, Frankreich, Deutschland, Griechenland und Luxemburg. (Symbolbild: Schoening / Picture Alliance)
Behauptung
Ein Diagramm vergleiche die „Rentenhöhe“ in fünf Ländern: Luxemburg (88,7 Prozent), Griechenland (83,6 Prozent), Italien (81,7 Prozent), Frankreich (74,4 Prozent) und Deutschland (52,4 Prozent).
Bewertung
Falscher Kontext
Über diese Bewertung
Falscher Kontext. Das Diagramm ist falsch beschriftet – es zeigt nicht die Rentenhöhe, sondern die Nettoersatzquote laut Bericht der OECD für das Jahr 2021. Die Angabe der Quelle und des Prozentwerts für Deutschland sind falsch. Laut Fachleuten ist die Vergleichskraft der Nettoersatzquote umstritten, es ist eine Modellrechnung. Für einen sinnvollen Ländervergleich seien weitere Faktoren relevant.

Zahlt Deutschland als „reichstes Land der Welt“ die niedrigsten Renten? Diesen Eindruck soll ein Diagramm vermitteln, das in Sozialen Netzwerken kursiert und die angebliche „Rentenhöhe“ in fünf Ländern vergleicht: Sie liege in Luxemburg, Griechenland und Italien bei mehr als 80 Prozent, in Frankreich bei 74,4 Prozent und in Deutschland bei nur 52,4 Prozent. Das Diagramm wurde mehr als 39.000 Mal auf Facebook geteilt und verbreitete sich auch auf Tiktok

Doch bei genauerem Blick gibt das Diagramm Rätsel auf. Denn es kann nicht um die Rentenhöhe gehen, die wird in der Regel nicht in Prozent angegeben. Die abgebildeten Zahlen zeigen die sogenannte Nettoersatzquote, die die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) veröffentlicht. Sie soll – vereinfacht gesagt – zeigen, was im Ruhestand vom Arbeitseinkommen übrig bleibt. Je höher die Nettoersatzquote, desto besser das Verhältnis von früherem Arbeitseinkommen und Rente – theoretisch.

Wir haben einen Wirtschaftswissenschaftler, das Institut Arbeit und Qualifikation an der Universität Duisburg-Essen und das Max-Planck-Institut für internationales Sozialrecht gebeten, das Diagramm einzuordnen. Alle erklärten uns, dass die Nettoersatzquote keine einfachen Rückschlüsse darauf zulässt, wie viel Geld Rentnerinnen und Rentner im Ruhestand tatsächlich zur Verfügung haben. Im Folgenden erklären wir, wieso.

Diagramm mit der Überschrift „Die Rentenhöhe im reichsten Land der Welt“ – es zeigt Deutschland Italien Frankreich Griechenland und Luxemburg
Dieses Diagramm ist falsch beschriftet: Die Zahlen zeigen nicht die Rentenhöhe, sondern die Nettoersatzquote – und die ist eine Modellrechnung (Quelle: Facebook; Screenshot und Unkenntlichmachung: CORRECTIV.Faktencheck)

Diagramm zeigt falsche Quellenangabe und vergleicht Nettoersatzquoten

Zunächst: Die Prozentzahlen im Diagramm stammen laut Beschreibung von „Correctiv“ – das stimmt so nicht. Die Quelle ist ein Bericht der OECD aus dem Jahr 2021, den wir in einem Faktencheck im Juni 2022 erwähnten. Die Zahlen sind daraus korrekt übernommen, lediglich die Angabe für Deutschland weicht leicht ab – sie wird 0,5 Prozentpunkte niedriger dargestellt. 

Tabelle der OECD Nettoersatzquote aus dem Bericht von 2021
Die Nettoersatzquoten aus dem OECD-Bericht von 2021 – für Frankreich, Deutschland, Griechenland, Italien und Luxemburg. Es handelt sich um eine Modellrechnung. (Quelle: OECD-Bericht „Pensions at a Glance 2021“, Seite 145; Screenshot und Markierungen: CORRECTIV.Faktencheck)

Eva Maria Hohnerlein, wissenschaftliche Referentin beim Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Sozialrecht, schreibt uns: „Zu kritisieren ist, dass es sich bei den Zahlen der OECD (im Übrigen für Deutschland fehlerhaft übernommen) um Modellrechnungen für einen fiktiven Durchschnittsverdiener handelt, die auf einer ganzen Kette von Prämissen und Annahmen basieren, die jedoch nichts über individuellen Rentenhöhen aussagen können.“

Zu diesen Prämissen gehört zum Beispiel, dass die OECD davon ausgeht, dass eine Person mit 22 Jahren in den Arbeitsmarkt eintritt und bis zum „normalen Pensionsalter“ des jeweiligen Landes arbeitet. Ihre Berechnung führt die OECD zudem mit einem angenommen Durchschnittsgehalt durch.

Der Wirtschaftswissenschaftler Axel Börsch-Supan berät Institutionen wie die EU-Kommission oder auch die OECD – zu seinen Forschungsschwerpunkten gehört unter anderem die Ökonomie des demografischen Wandels. Er schreibt uns, die Nettoersatzquote sei eine rein theoretisch ermittelte Größe. „Von der anfänglichen Rente eines fiktiven Rentners wird die geschätzte Einkommensteuer abgezogen und ins Verhältnis zum Arbeitseinkommen eines fiktiven Arbeitnehmers abzüglich fiktiver Steuerbelastung gesetzt.“ Um das tatsächliche Arbeitsleben und die tatsächlichen Einkünfte von Menschen geht es bei der Berechnung also nicht.

Warum die Zahlen der OECD für die Nettoersatzquote mit Vorsicht zu genießen sind

Darauf macht uns auch Eva Maria Hohnerlein aufmerksam. Am Beispiel Italien erklärt sie: Die Nettoersatzquote von 81,7 Prozent (siehe Tabelle oben) basiere auf der „Annahme einer durchgängigen Erwerbsbiographie vom Alter 22 bis zum Renteneintrittsalter“. Laut der OECD-Tabelle liegt das Rentenalter in Italien bei 71 Jahren – für die Berechnung der Nettoersatzquote geht die Organisation also von knapp 50 Arbeitsjahren aus. 

Das sei jedoch „ein ziemlich frommer Wunsch“ angesichts der Arbeitsmarktsituation mit massenhafter Jugendarbeitslosigkeit, spätem Berufseintritt sowie „äußerst prekären und schlecht bezahlten Beschäftigungsverhältnissen“, so Hohnerlein. Die Erwerbsphase liege in Wirklichkeit knapp über 30 Jahre, bei Frauen sei es noch weniger. Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen in Italien würden zudem „oft zum frühestmöglichen Zeitpunkt die Rente beantragen“. Auch damit würde eine tatsächliche Nettoersatzquote der Rente „weit unter den von der OECD genannten Zahlen“ liegen.

Hinzu kommt laut Hohnerlein, dass Menschen in Italien während ihres Arbeitslebens deutlich höhere Beitragssätze zur Rentenversicherung zahlen müssen. Die Parameter bei der Rentenberechnung würden sich zudem immer wieder ändern. 

Die Wissenschaftlerin schließt daraus: „Aus meiner Sicht zeigen die Zahlen der OECD ein fiktives Geschehen, das mit der Realität in den einzelnen Ländern wenig zu tun hat, insofern ist das Diagramm – zumal ohne Darstellung der von der OECD gemachten Prämissen – irreführend.“ 

Axel Börsch-Supan weist zudem darauf hin, dass die Nettoersatzquoten in Italien und Griechenland vor allem auch deswegen so hoch liegen, weil es viele Bestandsrenten von alten Rentnerinnen und Rentnern gebe, die noch von „vor den Reformen der letzten Jahre“ stammten. „Junge Rentner in Italien und Griechenland haben wesentlich niedrigere Renten, während ein solcher Unterschied in Deutschland nicht besteht, da hier die Reformen länger her sind und nicht so einschneidend sein mussten.“

Ute Klammer, Professorin und Geschäftsführende Direktorin am Institut Arbeit und Qualifikation an der Universität Duisburg-Essen, nennt das Diagramm „kontextfrei“ und „pure Desinformation beziehungsweise Null-Information“. Alles sei „sehr viel differenzierter und komplizierter“ als im Netz dargestellt.

Irreführende Vergleiche zu Rentensystemen in verschiedenen Ländern kursieren immer wieder – manche beziehen sich auf das Rentenniveau, andere auf die Nettoersatzquote. Wir prüften Behauptungen dazu bereits 2019, 2020 und 2022 in mehreren Faktenchecks. Wirklich vergleichbar sind solche Daten nur im Rahmen umfassender Studien beziehungsweise indem man mehrere Faktoren betrachtet – das Diagramm wird dem nicht gerecht. 

Wirtschaftswissenschaftler: „Die OECD-Nettoersatzquote gibt bei aller Kritik im Detail die Tendenz grob richtig wieder“

Dennoch hat Deutschland laut Börsch-Supan „keine großzügige gesetzliche Rente“. Die OECD-Nettoersatzquote gebe bei aller Kritik „die Tendenz grob richtig wieder“. Auch Ute Klammer schrieb uns, mit ihrer Kritik an den OECD-Berechnungen wolle sie das deutsche Rentensystem nicht „schönreden“. 

Medien berichten immer wieder über Altersarmut in Deutschland: Im Februar 2023 berichtete das Redaktionsnetzwerk Deutschland zum Beispiel, dass laut Bundes­ministerium für Arbeit und Soziales fast 17,9 Prozent der Altersrentner ab 65 Jahren eine Rente unterhalb der Altersarmutsgrenze bezogen und von weniger als 1.135 Euro im Monat lebten (zum Stichtag: 1. Juli 2021). Im Jahr 2010 seien es noch 12,6 Prozent gewesen. Die Tagesschau schrieb Anfang des Jahres, dass jede dritte Frau mit einer Vollzeitstelle lediglich auf eine Rente von weniger als 1.000 Euro netto käme. 

Fazit: Die Nettoersatzquote unterschiedlicher Länder miteinander zu vergleichen, ist schwierig, weil sie von vielen theoretischen Annahmen abhängt. Außerdem beeinflussen viele wirtschaftliche und politische Faktoren die tatsächliche Höhe der Rente. Das Diagramm im Netz zeigt, dass solche Vergleiche nicht zielführend sind und kein exaktes Abbild des Lebensstandards im Alter vermitteln.

Redigatur: Kimberly Nicolaus, Matthias Bau

Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Faktencheck:

  • OECD-Bericht „Renten auf einen Blick 2021“: Link (archiviert)
  • Internationaler Rentenindex „Mercer CFA Institute Global Pension Index 2022“: Link (PDF zum Download)