Nein, dieses Video zeigt keinen israelischen Angriff mit weißem Phosphor auf eine UN-Schule in Gaza
Israel hat in der Vergangenheit weißen Phosphor im Gazastreifen eingesetzt. Auch im aktuellen Konflikt soll es das Kampfmittel laut Menschenrechtsorganisationen und Medienberichten verwendet haben. Ein Video, das aktuell im Netz kursiert, soll so einen Einsatz auf eine Schule der Vereinten Nationen zeigen. Doch das Video zeigt laut Experten Rauchmunition.
Laut den Menschenrechtsorganisationen Amnesty International und Human Rights Watch setzte Israel bei aktuellen Angriffen auf den Gazastreifen weißen Phosphor ein. Auch die Washington Post verifizierte ein Video, das einen solchen Angriff zeigen soll. Der Einsatz von Brandwaffen oder Brandmunition als Waffe gegen Zivilisten ist völkerrechtlich durch die UN-Konvention über bestimmte konventionelle Waffen, genauer, das Protokoll III, verboten.
Israel bestreitet den Einsatz von Phosphorbomben im aktuellen Konflikt. Das Land setzte während Angriffen im Gazastreifen zwischen Dezember 2008 und Januar 2009 wiederholt weißen Phosphor ein. Damals bestritten die Streitkräfte den Einsatz des Kampfmittels zunächst. Später gab ihn die Regierung aber zu. Nach eigenen Angaben im Einklang mit internationalem Recht – der Einsatz gegen militärische Ziele kann unter bestimmten Voraussetzungen eine Ausnahme bilden. Während dieser Angriffe wurde laut Angaben von Human Rights Watch im Januar 2009 auch eine Schule der Vereinten Nationen mit weißem Phosphor attackiert.
Ein seit November kursierendes Video soll zeigen, wie Israel nun wieder weißen Phosphor über einer UN-Schule im Gazastreifen einsetzt. „Israelische Kampfflugzeuge werfen international verbotene Bomben mit weißem Phosphor auf eine von der UNRWA [Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten, Anm. d. Red.] betriebene Schule im Flüchtlingslager Shati in Gaza ab“, heißt es in einem X-Beitrag vom 2. November. Auch auf Facebook und Tiktok verbreitet sich die Behauptung.
Tatsächlich zeigt das Video eine UN-Schule in Al-Shati. Doch laut Experten ist in der Aufnahme Rauchmunition zu sehen, bei der es sich nicht um weißen Phosphor handelt.
Aufnahme zeigt laut Experten Rauchmunition, keinen weißen Phosphor
In einigen der Videos ist das Wasserzeichen „ahmedhijazee“ zu sehen. Auf einem X-Profil mit diesem Namen finden wir in einem Beitrag vom 2. November 2023 das eineinhalb Minuten lange Originalvideo. Das Profil gehört dem Influencer und Journalisten Ahmed Hijazi, der in Sozialen Netzwerken die israelischen Angriffe auf den Gazastreifen dokumentiert. Auch er schreibt im Beitrag: „Die israelische Besatzung zielte mit weißem Phosphor und Artilleriegranaten auf die UNRWA-Schulen, in denen Tausende von Vertriebenen im Beach Camp in Gaza-Stadt untergebracht waren.“ Das Video teilte er auch auf Instagram. Hijazi ist im Video selbst zu sehen und spricht darin ebenfalls von Phosphor.
Am Anfang des Videos versuchen Menschen, ein rauchendes Geschoss auf dem Boden mit Sand zu löschen. Dann scheint das Video zurückzuspringen: zu sehen ist, wie dasselbe rauchende Geschoss von links oben auf den Boden fällt und Menschen erneut Löschversuche unternehmen. Im Hintergrund sind Schreie und Donnern zu hören.
Später zeigt die Aufnahme Rauchwolken am Himmel und ein Gebäude im Hintergrund, das nach einem Einschlag ebenfalls in Rauch aufgeht. Im Inneren eines anderen Gebäudes drängen sich Menschen aneinander.
Es ist möglich, dass Israel an diesem Tag weißen Phosphor in Al-Shati eingesetzt hat. In dem Video ist das laut Experten jedoch nicht zu sehen. „Der Rauch sieht aus, als hätte er für weißen Phosphor die falsche Farbe, und er kommt aus einem Objekt, das ohne weiteres eine normale militärische Rauchmunition sein könnte, wie zum Beispiel eine Rauchgranate“, schrieb uns der Chemiewaffen-Experte Dan Kaszeta. Ähnlich äußerte er sich auch unter dem Originalvideo auf X. Dort schrieb er: „Arbeitshypothese ist eine [Hexachlorethan]-Rauchmunition wie die einer M150 Rauchgranate.“
Ähnlich sieht das Richard Weir, Krisen- und Konfliktforscher bei Human Rights Watch. Er erklärte uns, dass in dem Filmmaterial kein Einsatz von weißem Phosphor zu erkennen sei. Die auf dem Video zu sehenden Rauchfahnen scheinen laut ihm jedoch mit dem Einsatz von M150 Rauchgranaten übereinzustimmen.
Das israelische Unternehmen Elbit ist der exklusive Zulieferer von Artilleriegranaten der israelischen Streitkräfte und produziert das Rauchgeschoss M150. Laut Herstellerkatalog verwendet es in der aktuellen Version fünf Rauchkanister. Tatsächlich sind auch bei den Angriffen im Video jeweils fünf Rauchfahnen zu erkennen. Gegenüber der Faktencheck-Redaktion Lead Stories sagte auch der Waffenexperte Chris Cobb-Smith, auf dem Video sei kein weißer Phosphor, sondern ein Rauchprojektil zu sehen.
Von Israel in der Vergangenheit verwendete Projektile mit weißem Phosphor enthalten Metallkanister mit 116 in Phosphor getränkten Filzstücken. Nach Angaben von Amnesty International sind solche Geschosse auch auf aktuellen Bildern zu sehen. Beim Einsatz von weißem Phosphor wären dementsprechend deutlich mehr der charakteristischen „Rauchfäden“ zu erwarten. Diese sind unter anderem in einem von Amnesty International verifizierten Video zu sehen. Es wurde am 11. Oktober 2023 veröffentlicht und zeigt laut der Organisation einen Angriff mit weißem Phosphor in der Nähe des Hafens von Gaza.
Video entstand bei Al-Shati-Grundschule im Gazastreifen
Zurück zu dem Video in den Sozialen Netzwerken. Es zeigt tatsächlich eine Schule des Hilfswerks der Vereinten Nationen im Gazastreifen in der Nähe des Al Shati Camps für Geflüchtete, das auch als Beach Camp bekannt ist. Wie ein Vergleich mit Bildern auf Google Maps zeigt, ist die „Al-Shati Joint Primary Boys School“ (Arabisch: مدرسة ذكور الشاطئ الابتدائية المشتركة (د/ ج) ابو عاصي) zu sehen. Das lässt sich unter anderem an der Antenne auf dem Dach (grün), dem Pavillon (gelb) und den blauen Zäunen (rot) erkennen.
Laut aktuellen Medienberichten sind die UNRWA-Schulen seit Beginn des Konflikts zu einem Zufluchtsort für tausende Menschen geworden. Eine UNRWA-Sprecherin schrieb uns auf Nachfrage, dass es keine Informationen zu dem Angriff gebe. Kommunikationsausfälle würden es derzeit schwer machen, Kolleginnen und Kollegen zu erreichen. In einer Pressemitteilung vom 2. November schrieb die Organisation, dass eine Schule im „Beach Refugee Camp“ bei Angriffen beschädigt worden und ein Kind dabei getötet worden sei.
In einem von den israelischen Streitkräften (IDF) am 16. November 2023 veröffentlichten Video (Sekunde 28) ist ein Panzer auf dem Grundstück der Schule zu sehen und Soldaten, die sich durch ein Loch in einer Mauer bewegen. Die Schulgebäude wirken verlassen. In einer Pressemitteilung dazu heißt es, das IDF hätte in der vergangenen Woche Operationen in Al-Shati durchgeführt. Dabei sei es zu Luft-, See- und Landangriffen gekommen. In einem weiteren Video ist ein Offizier zu sehen, der sagt, in den vergangenen Tagen habe man „Terroristen-Infrastruktur“ und Waffen in der Nähe und angrenzend zu Bildungseinrichtungen gefunden. In den mit der Mitteilung verbreiteten Aufnahmen sind keine Waffen zu sehen.
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Redigatur: Matthias Bau, Viktor Marinov
Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Faktencheck:
- Amnesty International Fallstudie zu Israels Einsatz von weißem Phosphor, 13. Oktober 2023: Link (Englisch, archiviert)
- X-Beitrag mit von Amnesty International verifiziertem Video vom 11. Oktober 2023: Link (archiviert)
- Video der IDF zu Operationen in Al-Shati vom 16. November 2023: Link (archiviert)