Asylgründe werden in Deutschland statistisch nicht erfasst
Julian Reichelt behauptete in einer Sendung, Straftäter erhielten in Deutschland gerade deshalb Asyl, weil sie Straftäter seien. Das sei statistisch der häufigste Grund für die Gewährung von Asyl bei Straftätern. Das zuständige Bundesamt für Migration und Flüchtlinge weist das zurück. Eine solche Statistik gibt es nicht.
In den vergangenen Wochen schickten uns Leserinnen und Leser immer wieder einen Ausschnitt einer Sendung des rechtspopulistischen Internetportals Nius. Darin sagt der ehemalige Bild-Chefredakteur Julian Reichelt: „Ein Straftäter zu sein, ist kein Abschiebegrund in Deutschland, also ein Straftäter zu Hause zu sein, sondern ein Asylgrund.“ Allein a Youtube erreichte das Kurzvideo rund 95.000 Aufrufe, die gesamte Sendung rund 230.000.
Das Bundesamt für Flüchtlinge und Migration (Bamf) weist Reichelts Aussage zurück: Asylgründe werden statistisch nicht erfasst. Zudem sieht das Asylrecht gerade den umgekehrten Fall vor: Wer sich einer Straftat schuldig gemacht hat, der kann das Anrecht auf Schutz verlieren.
Julian Reichelt liefert keine Quellen für die Behauptung
Das Kurzvideo von Nius ist ein Ausschnitt aus einer Sendung vom 29. August 2024. Darin sagt Reichelt ab Minute 25:32: „[…] statistisch [ist] der häufigste Grund für Straftäter Asyl zu bekommen: Wisst ihr, was die sagen, als Asylgrund? Ich bin Straftäter. Die sagen ich habe in meiner Heimat auch jemanden vergewaltigt und deswegen droht mir dort die Todesstrafe. Ich bin Vergewaltiger, sagen die dort und dann sagen unsere Behörden ja gut, wenn du in deiner Heimat jemanden vergewaltigt hast und dir grausame Bestrafung droht, dann darfst du natürlich in Deutschland bleiben. Ein Straftäter zu sein ist kein Abschiebegrund in Deutschland, also ein Straftäter zu Hause zu sein, sondern ein Asylgrund.“
Seine Aussage leitet Reichelt mit der Bemerkung ein, sie sei „ein bisschen spekulativ“ (Minute 25:15). Wir wollten daher von Reichelt wissen, auf welcher Grundlage er die Aussage getroffen hat. Unsere Anfrage beantwortete er mit einer Beleidigung und ging inhaltlich nicht darauf ein.
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge weist Reichelts Aussage zurück: „Asylgründe werden nicht erfasst“
Wir haben daher das Bamf gefragt, ob es richtig ist, dass „ein Straftäter zu sein“ der statistisch häufigste Grund dafür ist, dass Straftäter in Deutschland Schutz erhalten. Das Bamf entscheidet als zuständige Behörde über Asylanträge. Dafür findet eine persönliche Anhörung statt, die laut der Internetseite des Bundesamts „der wichtigste Termin innerhalb des Asylverfahrens“ ist.
Sprecher Christoph Sander erklärt: „Die Asylgründe, die Antragsteller im Rahmen ihrer Anhörung vortragen, werden beim Bundesamt statistisch nicht erfasst.“ Die Vorträge der Schutzsuchenden seien so vielschichtig, „dass es nicht möglich ist, diese auf eine statistische Komponente zu reduzieren. Auch die Gründe für einen Schutzstatus bzw. Ablehnung eines Asylantrags werden statistisch nicht erfasst. Daher liegen keine Zahlen zu Antragstellern vor, die sich selber einer Straftat bezichtigen.“
Auf Nachfrage, ob sich asylsuchende Menschen eher selten oder häufiger selbst einer Straftat bezichtigen, schreibt uns Stefan von Borstel, ebenfalls Bamf-Pressesprecher, aufgrund der fehlenden Statistik seien verlässliche Aussagen nicht möglich. „Es handelt sich jedoch nicht um ein Massenphänomen.“
Verein Pro Asyl: Solche Fälle sind aus der Praxis nicht bekannt
Wir haben darüber hinaus auch den Verein Pro Asyl kontaktiert, der sich für die Rechte von Geflüchteten einsetzt und sie im Asylverfahren begleitet. Der Verein schreibt uns: „Asylgründe werden statistisch nicht erfasst, deshalb kann zu diesen auch keine Aussage getroffen werden. Fälle wie von Julian Reichelt benannt sind Pro Asyl aus der Praxis nicht bekannt, und sie sind aufgrund der gesetzlichen Ausschlussgründe im Asylrecht (siehe § 3 und § 4 Abs. 2 Asylgesetz) auch nicht plausibel.“ Auf die von Pro Asyl angesprochenen Ausschlussgründe kommen wir später noch zurück.
Laut Bamf-Sprecher Sander wird zudem jede Selbstbezichtigung überprüft. „Dabei werden die Angaben des Antragstellers in sämtlichen Fällen einer Einzelfallprüfung unterzogen und ausnahmslos individuell untersucht.“ In allen Fällen, in denen sich die Antragstellenden einer schweren Straftat bezichtigten, leite das Bamf diese Informationen an die zuständigen Strafverfolgungsbehörden weiter. Die Erkenntnisse der Sicherheitsbehörden würden dann wiederum in das Asylverfahren einfließen und könnten zum Beispiel bei der Feststellung von Abschiebungsverboten relevant werden.
Im Ergebnis sei festzuhalten, „dass Straffälligkeit nach dem Gesetz gerade keinen Asylgrund darstellt, sondern der Gesetzgeber Regeln festgeschrieben hat, die eine Schutzzuerkennung für bestimmte Straftäter explizit verneint. Ein etwaiges Abschiebungsverbot ist nicht mit einer Schutzzuerkennung gleichzusetzen.“ Auf den Unterschied zwischen einem Abschiebeverbot und den anderen Schutzformen kommen wir im Folgenden noch zu sprechen.
In Deutschland gibt es neben dem Asyl noch weitere Schutzformen
In Deutschland gibt es vier Schutzformen, die gewährt werden können. Das Asyl, die Zuerkennung des Flüchtlingsstatus nach der Genfer Konvention, den subsidiären Schutz und das Abschiebungsverbot. Asyl zu erhalten oder als Flüchtling anerkannt zu werden, erfordert, dass Menschen verfolgt werden, weil sie einer bestimmten Gruppe angehören:
Asyl: „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“, heißt es in Artikel 16a des Grundgesetzes. Das Bamf erklärt dazu auf seiner Homepage, dass Menschen dann asylberechtigt sind, wenn sie bei der Rückkehr in ihr Herkunftsland mit einer schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung rechnen müssen, die ihnen auf Grund ihrer Rasse, Nationalität, politischen Überzeugung, religiösen Grundentscheidung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe droht. Die Verfolgung muss vom Staat oder einer Organisation ausgehen, die den Staat ersetzt hat. Zudem darf es keine Fluchtalternative innerhalb des Herkunftslandes geben, wenn Menschen Asyl erhalten wollen.
Flüchtlinge nach der Genfer Konvention: Die Vereinten Nationen (UN) definieren einen Flüchtling im „Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge“ aus dem Jahr 1967 als Person, die: „aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will; oder die sich als staatenlose infolge solcher Ereignisse außerhalb des Landes befindet, in welchem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte, und nicht dorthin zurückkehren kann oder wegen der erwähnten Befürchtungen nicht dorthin zurückkehren will.“ Wie das Bamf schreibt, kann hier die Verfolgung auch von einem nicht-staatlichen Akteure ausgehen.
Subsidiären Schutz hingegen können Menschen auch dann erhalten, wenn ihnen nicht auf Grund einer Gruppenzugehörigkeit Schaden droht. Mutmaßlich ist es diese Schutzkategorie, die Reichelt bei seiner Aussage im Sinn hatte:
Subsidiärer Schutz: Wer kein Asyl oder Schutz nach der Genfer Konvention bekommt, kann subsidiären Schutz erhalten, wenn ihm im eigenen Herkunftsland „ernsthafter Schaden“ droht. Wie das Bamf schreibt, kann ein ernsthafter Schaden sowohl von staatlichen als auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen. In Paragraph 4 Absatz 1 des Asylgesetzes sind dafür folgende Gründe aufgelistet: die Verhängung der Todesstrafe, Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung und eine ernsthafte Bedrohung für das Leben.
Nationales Abschiebeverbot: Greift keine der anderen Schutzformen, dann kann es immer noch sein, dass Schutzsuchende auf Grund eines Abschiebeverbots in Deutschland bleiben dürfen. Ein solches Verbot wird dann erlassen, so das Bamf, wenn „die Rückführung in den Zielstaat eine Verletzung der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) darstellt, oder dort eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht.“ Ein Beispiel für eine solche Gefahr sind auch lebensbedrohliche oder schwerwiegende Erkrankungen, die sich durch eine Abschiebung wesentlich verschlimmern würden. Geregelt ist das in Paragraph 60 Absatz 7 des Aufenthaltsgesetzes.
Schutzstatus kann wegen Straftat verweigert oder aberkannt werden
Straftaten sind allerdings ein Grund dafür, warum Personen – trotz der ansonsten erfüllten Kriterien – Schutz verweigert oder aberkannt werden kann: So steht im Asylgesetz, dass Ausländer vom subsidiären Schutz beziehungsweise vom Asyl ausgeschlossen werden können, wenn sie eine schwere Straftat begangen haben, eine Gefahr für die Allgemeinheit oder die Sicherheits Deutschlands darstellen, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen haben oder ein Verbrechen gegen den Frieden oder Handlungen vollzogen haben, die den Grundsätzen der Vereinten Nationen widersprechen.
Dazu schrieb uns Bamf-Sprecher von Borstel: Sollten Ausländerinnen oder Ausländer straffällig geworden sein, könne das Bamf eine Rücknahme oder den Widerruf des Schutzstatus prüfen. „Insbesondere vorsätzliche Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung stehen hier im Fokus.“
Droht Geflüchteten im Herkunftsland ernsthafter Schaden, dürfen sie nicht abgeschoben werden
Ähnliches gilt für den Flüchtlingsschutz. Das schreibt uns Mathis Wichmann vom Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen: „Wenn schwerwiegende Gründe die Annahme rechtfertigen, dass eine asylsuchende Person im Heimatland oder auf der Fluchtroute eine schwere Straftat begangen hat, ist ein Schutzstatus normalerweise ausgeschlossen […] Wurden die Straftaten nach Ankunft im Aufnahmeland begangen, stellt die Person unter Umständen eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung dar. Dann wird nach deutschem Recht ebenfalls kein Schutz durch einen Aufenthaltstitel gewährt.“
Wir haben auch mit dem Juristen Franz Bethäuser von der Katholischen Stiftungshochschule München gesprochen. Wir fragten ihn, ob Straftäter, denen in ihrem Herkunftsland ernsthafter Schaden droht, ihr Recht auf Schutz verlieren. Bethäuser sagte, dass der subsidiäre Schutz zwar widerrufen werden könne, allerdings habe der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) geurteilt, dass auch in diesem Fall keine Abschiebung durchgeführt werden dürfe. Bei seiner Aussage beruft sich der Jurist auf das Urteil des EGMR „Sufi and Elmi v. the United Kingdom“ vom 28. Juni 2011.
In diesem Fall hatte der Gerichtshof festgestellt, dass das Vereinigte Königreich zwei Männer aus Somalia, die in Großbritannien straffällig wurden, nicht abschieben dürfe. Beide Männern hatten angegeben, dass ihnen in ihrem Herkunftsland Misshandlungen („ill-treatment“) drohen. Laut Bethäuser beruhte das Urteil des EGMR auf dem sogenannten Non-Refoulement-Prinzip. Dieses verbiete die „Ausweisung, Auslieferung oder Rückschiebung von Personen, wenn die Annahme besteht, dass ihnen im Zielland Folter, unmenschliche Behandlung bzw. schwere Menschenrechtsverletzungen drohen“, schreibt die Bundeszentrale für politische Bildung.
Wer nicht abgeschoben werden darf, hat nicht die gleichen Rechte wie anerkannte Flüchtlinge
Nicht abgeschoben werden zu dürfen, ist aber etwas anderes, als in Deutschland Schutz zu erhalten, wie uns auch Christoph Sander vom Bamf schrieb.
So erhalten Menschen, für die ein Abschiebeverbot gilt, lediglich eine Aufenthaltserlaubnis für ein Jahr. Sie haben auch keinen Anspruch auf einen Reisepass für Flüchtlinge, der es ihnen ermöglichen würde, ins Ausland zu reisen und sie können nicht ohne Weiteres ihre Familie nach Deutschland holen.
Wer im Ausland eine Straftat begeht, kann in Deutschland verurteilt werden, trotz Abschiebeverbot
Doch auch wenn Menschen sich in Deutschland aufhalten dürfen und nicht abgeschoben werden können, heißt das nicht, dass sie für Straftaten im Ausland nicht verurteilt werden können.
Dazu sagte uns Franz Bethäuser, es sei möglich, dass Menschen, die nicht abgeschoben werden dürfen, nach dem sogenannten Weltrechtsprinzip in Deutschland verurteilt werden. Das geht in Deutschland aus dem Völkerstrafgesetzbuch hervor. Darin heißt es in Paragraph eins: „Dieses Gesetz gilt für alle in ihm bezeichneten Straftaten gegen das Völkerrecht […] auch dann, wenn die Tat im Ausland begangen wurde und keinen Bezug zum Inland aufweist.“ So wurde im Januar 2022 ein Syrer wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit vom Oberlandesgericht Koblenz zu lebenslanger Haft verurteilt. Er hatte als Mitglied des Geheimdienstes unter anderem Menschen gefoltert.
Fazit: Anders als von Julian Reichelt suggeriert, gibt es keine Daten darüber, ob und warum Straftäter in Deutschland Schutz bekommen. Weder das Bamf noch die Hilfsorganisationen Pro Asyl und die Flüchtlingshilfe der Vereinten Nationen verfügen über solche Zahlen.
Es gibt keinen Beleg für die Behauptung, dass der häufigste Grund für Asyl eine Straftat ist. Pro Asyl kennt solche Fälle aus der Praxis nicht, laut Bamf sind sie kein Massenphänomen. Eine Straftat im Ausland oder im Aufnahmeland zu begehen, kann darüber hinaus gerade ein Grund dafür sein, dass Menschen in Deutschland kein Asyl erhalten beziehungsweise ihren Schutzstatus verlieren. Dennoch ist es möglich, dass Menschen nicht aus Deutschland abgeschoben werden dürfen, wenn ihnen in ihrem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht.
Wir konfrontierten Julian Reichelt mit unseren Rechercheergebnissen – auch darauf erhielten wir keine inhaltliche Antwort.
Redigatur: Viktor Marinov, Uschi Jonas
Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Faktencheck:
- Artikel des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge über die verschiedenen Schutzformen in Deutschland: Link
- Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge der Vereinten Nationen aus dem Jahr 1967: Link
- Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte „Sufi and Elmi v. the United Kingdom“ vom 28. Juni 2011: Link (Englisch)