Brief nach Frankreich: Robert Habeck „bettelte“ im August 2022 nicht um Atomstrom
Wirtschaftsminister Robert Habeck soll um Atomstrom aus Frankreich „gebettelt“ haben. Das belege ein Brief aus August 2022 an die damalige französische Energieministerin. Das stimmt nicht, Habeck fragte nach der voraussichtlichen Leistung der Atomkraftwerke in Frankreich.
„Ohne Not AKWs [Atomkraftwerke] abstellen und dann in Frankreich nach Exportfähigkeit fragen“, so lautet Ende November 2024 der Vorwurf von Nutzerinnen und Nutzern auf X an Bundeswirtschaftsminister und Grünen-Kanzlerkandidat Robert Habeck.
Hintergrund ist ein Brief, den Habeck am 2. August 2022 an Agnès Pannier-Runacher, die damalige französische Ministerin für Energie, schickte. Darüber berichteten am 27. November 2024 das Cicero-Magazin und die Bild-Zeitung. Sie titelten: „Habeck hoffte auf französischen Atomstrom“ und „Bettelte Habeck um französischen AKW-Strom?“
CDU-Politiker Jens Spahn, ehemals Bundesgesundheitsminister, griff den Bericht der Bild auf. Bei X schrieb er, Deutschland habe bei Frankreich um Atomstrom „gebettelt“. So äußerte sich auch das für Desinformation bekannte Portal Apollo News in einem Artikel und die AfD auf X. Auch das rechtspopulistische Internetportal Nius sowie der Blog Kettner Edelmetalle, der bereits zuvor mit Desinformationen auffiel, und das Schweizer Magazin Weltwoche sowie Youtuber Alexander Raue sprangen auf das Narrativ auf.
Doch das widerspricht den Tatsachen. Warum, erklären wir in diesem Faktencheck.
Bild-Zeitung interpretiert Habecks Brief fälschlich als „Bettelbrief“
In dem Brief, der CORRECTIV.Faktencheck vorliegt, fragt Habeck die französische Ministerin am 2. August 2022 nach der Leistung französischer Atomkraftwerke in den Folgemonaten: „Du sagtest, dass das Ziel der französischen Regierung ist, zum 1. November 2022 40 Gigawatt AKW-Leistung und zum 1. Januar 2023 50 Gigawatt am Netz zu haben. Kannst du mir bestätigen, dass ich das richtig erinnert habe?“
Daraus erschließt sich erstmal nicht, dass Habeck in Frankreich um Atomstrom „bettelte“. Um den Kontext des Briefs zu verstehen, müssen wir zurückblicken zum Sommer 2022.
In Frankreich mussten im Sommer 2022 viele Atomkraftwerke gewartet werden
Mehr als die Hälfte der französischen Atomreaktoren fielen im Sommer 2022 wegen Wartungsarbeiten aus. Das führte zu Sorgen vor dem Winter in Frankreich, denn dort betreiben viele Haushalte ihre Heizungen mit Strom.
Zusätzlich drohte der EU eine Energiekrise angesichts des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine. Die Angst vor nicht ausreichend beheizten Wohnungen im Winter beschäftigte auch einige Menschen in Deutschland. Behörden und Betriebe wappneten sich für potenziell drohende Gasengpässe. Über Falschmeldungen, die sich in diesem Zusammenhang verbreiteten, berichteten wir hier.
Das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) ließ die Netzbetreiber die Sicherheit des Stromnetzes für den Winter 2022/23 untersuchen. Das Ergebnis dieses „Stresstests“ veröffentlichte das BMWK am 14. September 2022.
Ein Szenario, das bei der Prüfung durchgespielt wurde, war, dass ein großer Teil der französischen Atomkraftwerke bis zum Winter nicht wieder einsatzfähig ist. In einem sogenannten „Extremszenario“ rechnete das BMWK damit, dass nur knapp zwei Drittel der französischen Atomkraftwerke zur Verfügung stünden.
Französische Energieministerin sprach von „besonderen Schwierigkeiten“ für Stromversorgung in Frankreich
Dass im August 2022 die Stromversorgung Frankreichs auf wackeligen Füßen stand, zeigt auch ein Blick in die Antwort der französischen Energieministerin auf Habecks Brief, die CORRECTIV.Faktencheck ebenfalls vorliegt.
Darin bestätigt sie zunächst die von Habeck angefragten Zahlen und schreibt weiter: „In Anbetracht der besonderen Schwierigkeiten, die für die Stromversorgung Frankreichs im kommenden Herbst und Winter zu erwarten sind, werden wir ein reibungsloses Funktionieren des Stromaustauschs an den grenzüberschreitenden Verbindungsleitungen, insbesondere mit Deutschland brauchen“, antwortete Angnès Pannier-Runacher. Der französische Strommarkt sei sehr angespannt.
Das Antwortschreiben der Ministerin lag offenbar auch Cicero und der Bild-Zeitung vor, beide Medien zitierten daraus, doch diesen Satz ließen sie unter den Tisch fallen.
Daten über die Lieferung von Strom zeigen: Frankreich importierte deutlich mehr Strom aus Deutschland als andersherum. Das schreibt zum Beispiel der französische Netzbetreiber RTE in seinem Jahresbericht. Auch auf der Webseite des Fraunhofer-Instituts für Solare Energiesysteme ist zu sehen, dass Frankreich sowohl im zweiten Halbjahr 2022 als auch im ersten Halbjahr 2023 mehr Strom aus Deutschland importierte, als Deutschland aus Frankreich. Das schrieb auch Bruno Burger vom Fraunhofer ISE auf X.
Gegenüber dem BR sagte Burger, die Behauptung über den Brief sei „Quatsch“ und eine „Verdrehung“ der Tatsachen.
Winter 2022/2023: Frankreich wollte Strom aus Deutschland, Deutschland Gas aus Frankreich
Auch das Bundeswirtschaftsministerium (BMWK) teilte auf Anfrage von CORRECTIV.Faktencheck mit, dass es in dem Briefwechsel nicht um den Import von französischem Strom nach Deutschland, „sondern um die Frage des Exports nach Frankreich“ ging, um die französische Stromversorgung zu sichern.
Dass sich Länder Europas bei schwierigen Versorgungslagen untereinander aushelfen, ist seit den neunziger Jahren der Fall – damals wurde die nationale Stromversorgung „europäisiert“, um bessere Versorgungssicherheit zu schaffen und die Stromversorgung effizienter zu gestalten.
Auch im Winter 2022/2023 war das so. Bundeskanzler Olaf Scholz und Frankreichs Ministerpräsidentin Elisabeth Borne unterzeichneten im November 2022 eine Erklärung zur gegenseitigen Energiesolidarität. So sollte Frankreich weiter Gas nach Deutschland liefern und Deutschland Strom nach Frankreich.
Wir haben Jens Spahn und die AfD mit den Ergebnissen unserer Recherche konfrontiert. Wir wollten von ihnen wissen, wie er zu der Aussage kommt, Deutschland habe um Atomstrom aus Frankreich „gebettelt“. Die AfD antwortete nicht auf unsere Anfrage.
Ein Sprecher von Spahn schrieb uns, die treffendere Formulierung sei: „Herr Habeck hoffte auf Atomstrom.“ Die Probleme der deutschen Energiepolitik „und die energiepolitische Doppelmoral der Ampel-Regierung“ seien jedoch relevanter als „diese semantischen Unterschiede“. Weiter schreibt der Sprecher, dass Deutschland Strom nach Frankreich exportiert habe, zeige nicht, dass Deutschland auf französischen Strom hätte verzichten können. „Denn es geht ja gerade darum, dann Strom zu importieren, wenn Deutschland Lücken hat, die unter anderem wegen des Abschaltens der deutschen Kernkraftwerke entstehen.“
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Redigatur: Sarah Thust, Kimberly Nicolaus