Hintergrund

Falsch, verschwört, verwirrt – eine Reise durch Dunkel-Youtube

Desinformation gibt es nicht nur auf Facebook. Youtube ist eine noch bessere Bühne. Die Plattform versucht zwar, gegenzusteuern. Doch der Sumpf ist tief. Unsere Autorin hat sich dorthin begeben.

von Anna Mayr

Photo by Rachit Tank on Unsplash
Photo by Rachit Tank on Unsplash


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„Gedanken haben ein messbares Schwingungsmuster. Sie sind nicht-räumliche Erscheinungen. Sie sind nicht an Raum gebunden. Gedanken sind schneller als Licht, denn Licht benötigt Raum, und Gedanken benötigen keinen Raum, da es keinen Raum für die Gedanken gibt. Das bedeutet: Wir sind verbunden über unsere Ge-dan-ken!”

Beim letzten Wort zieht Heiko Schrang seine Zeigefinger in zwei Halbkreisen von seiner Stirn weg. Ich weiß nicht mehr, wie wir hier hingekommen sind. Wie ich hier hingekommen bin.

Heiko Schrang, Sonnenstudiobräune, Hantelbankkörper, fliederfarbenes Hemd, steht auf meinem Computerbildschirm und ist sehr, sehr gut ausgeleuchtet. Eben hat er noch erklärt, dass die Medien nicht über mordende Ausländer berichten. Eben hat er noch gesagt, dass „300 Millionen Afrikaner einfach überall reinmarschieren” werden, sobald der UN-Migrationspakt verabschiedet wird. Jetzt wird er auf einmal spirituell. Spricht über Gedankenschwingungen. „Nur wer gegen den Strom schwimmt, der gelangt zur Quelle”, sagt er.

Wenn er die Quelle ist, dann musste ich nicht gegen den Strom schwimmen, um ihn zu finden. Es hat gereicht, ein paar Stunden auf Youtube zu verbringen, um Schrang und Dutzenden weiteren Menschen zu begegnen, die Videos machen, in denen sie Desinformation verbreiten.

Youtube ist noch undurchsichtiger als Facebook

Sprechen wir über Falschinformationen, Propaganda und Verschwörungstheorien, geht es meistens um Facebook und Twitter. Auf Facebook sind aber nur Erwachsene. Und auf Twitter sind nur Politiker und Journalisten. Junge Menschen sind auf Youtube. Und sie sind viel empfänglicher für falsche Informationen als Erwachsene. Denn Jugendliche haben noch kein fertiges Weltbild. Sie halten mehr Dinge für wahrscheinlich.

Videos sind wirkmächtiger als Text. Was wir sehen, ist. Wir sagen, dass wir unseren Augen nicht trauen können, wenn wir etwas nicht glauben. Sehen ist Wahrheit. Deshalb sind Chemtrails eine der am weitesten verbreiteten Verschwörungstheorien: Jeder kann sie sehen. Mit den eigenen Augen.

Auf Youtube kommen also zwei Dinge zusammen: Erstens eine junge Zielgruppe, die leicht zu überzeugen ist. Und zweitens ein Medium, das extrem überzeugend ist.

„Auf Youtube ist der Weg von neutralen Nachrichten-Videos in den Sumpf aus Verschwörungen nicht weit”, sagt mir Felix Brinkschulte. Er forscht an der Uni Münster zu Desinformation auf Youtube. Brinkschulte sagt mir, dass es vor allem einen Grund gibt, der Verschwörungen und verdrehte Fakten auf der Videoplattform so zugänglich macht: die Empfehlungen, die am rechten Rand der Videos angezeigt werden.

Der Algorithmus ist eine Blackbox

Niemand  weiß, warum Youtube welches Video wem wann empfiehlt. Aber es passiert, dass neben einem Video, das über Extremismus aufklären will, extremistische Videos empfohlen werden – nicht gerade ideal also.

Youtube will die Empfehlungen stärker kontrollieren, zumindest die Such-Empfehlungen. Wer nach dem 26. August auf Youtube nach „Chemnitz” suchte, fand hauptsächlich Videos aus der rechten Szene. Wer nach dem 26. August auf Youtube nach „Chemnitz” suchte, fand hauptsächlich Videos aus der rechten Szene. Im September hat Youtube allerdings den Such-Algorithmus geändert: „Bei einem Nachrichtenereignis findet man jetzt zuerst Videos, die von Nachrichtenseiten hochgeladen wurden. Youtube richtet sich da nach Google News: Seiten, die bei Google News gelistet sind, behandeln wir als Nachrichtenquelle”, sagt Henning Dorstewitz, Sprecher von Youtube in Deutschland. So sollen Nutzer zuerst Informationen sehen, denen sie vertrauen können.

Aber wenn es nicht um aktuelle Ereignisse geht, sind die Empfehlungen immer noch undurchsichtig. Jeder User bekommt andere Videos empfohlen, abhängig von vorher Angesehenem, von Aktualität – wovon genau, das weiß nur der Algorithmus.

Wenn ich es sehe, glaube ich dann dran?

Ich wollte rein in diesen Sumpf, von dem der Forscher Brinkschulte gesprochen hatte. Abdriften. Mich treiben lassen auf den Info-Wellen der Pseudo-Medien. Einen Tag lang habe ich mich von Video zu Video geklickt. Und mir alles angeschaut, von vorne bis hinten, auch wenn es unerträglich wurde – unerträglich öde.

Mein Weg in den Sumpf beginnt in Syrien. Beziehungsweise, mit der Erzählung von einer Reise nach Syrien. Das Senioren-Ehepaar Eva und Markus Heizmann sitzt in einem Studio neben einem Mann mit winzigen Brillengläsern – der Moderator.  Eva Heizmann sieht etwas älter aus und ist gekleidet, als wäre sie gerade von einer Wanderung zurückgekehrt. Markus Heizmann hingegen trägt Anzug und Hemd. Das Gespräch zwischen den Dreien klingt wie die Aufführung einer Laientheatergruppe: geskriptet. Sie sprechen, als müssten sie sich an jedes Wort erinnern.

„Aber das ist jetzt komisch”, sagt der Moderator. „Der Pascal Weber vom Schweizer Fernsehen hat am letzten Mittwoch gesagt, Syrien sei ein Failed State!”
– „Ich weiß nicht, was er damit meint”, antwortet Eva Heizmann. „Was ist ein Failed…?”

In Syrien ist eigentlich alles okay

Die beiden Senioren erzählen von Datteln und Pistazien aus Aleppo, von freundlichen Grenzbeamten und dem riesigen Vertrauen der Syrer in die Assad-Regierung. Alles gar nicht so schlimm, Syrien ist eigentlich wie Deutschland, das können sie beurteilen, sagt Eva Heizmann, auch nach einer nur zehntägigen Reise.

Es gibt keine Fotos in diesem Video, keine kurzen Filme aus Syrien oder sonstwoher, es gibt nur drei Leute, die sehr, sehr langsam reden. Mir ist totlangweilig. Ich drifte ab. Denke über den Libanon nach, über graue Haare, und darüber, was ich später einkaufen könnte. Ich habe Lust auf Datteln und Pistazien.

Das Interview mit den beiden geht eine halbe Stunde. Die Videos von Heiko Schrang sind meistens etwa eine Viertelstunde lang. Manche Videos, die ich an diesem Tag entdecke, gehen anderthalb Stunden. Die Ton- und Bildqualität ist dabei oft nicht gut. Es gibt keine Spezialeffekte. Keine tollen Bilder. Und trotzdem schauen Menschen sich das an. Das Syrien-Interview hat zwar nur über 500 Views – Heiko Schrang aber hat etwa hunderttausend Abonnenten, jedes seiner Videos um die 50.000 Klicks. Warum?

Qualität ist egal

„Content ist das wichtigste. Videos können schlecht produziert sein, unprofessionell – solange es spannenden Content gibt, finden sich Zuschauer”, sagt Sebastian Bartoschek, der zum Thema Verschwörungstheorien forscht und selbst als Journalist einen Podcast produziert. Je aufregender der Inhalt, desto egaler die Verpackung.

Journalismus ist manchmal wie ein Kuchen vom Konditor: aufwändig dekoriert, teuer und mit großem Zeitaufwand produziert – nur das Innere schmeckt fad. Weil die Geschichte nicht so toll ist, wie der Titel es verspricht.

Desinformation hingegen ist ein Kuchen aus einer Plastikverpackung im Supermarkt: Da ist allerhand Chemie drin, die man eigentlich nicht essen will. Es sieht unappetitlich aus. Aber Supermarktkuchen ist billig, verfügbar, voller Zucker und Geschmacksverstärker – und deshalb sehr, sehr lecker. Content gewinnt.

Es ist nicht sicher, ob alle Klicks der Desinformations-Videos authentisch sind. Henning Dorstewitz, Sprecher von Youtube in Deutschland, sagt, dass es immer wieder Fälle von versuchten Klickkäufen gibt. Das könne verschiedene Gründe haben: Die User wollten beispielsweise größer wirken als sie sind und so tun, als hätten sie viele Zuschauer. Oder sie wollten Geld verdienen – Youtube schüttet Werbeerlöse an Nutzer, die für das YouTube Partnerprogramm zugelassen wurden und Werbung in ihren Videos freischalten, aus.

Klick. Das Intro zum nächsten Video (1,6 Millionen Views) sieht aus wie das der Tagesschau. Aber dies ist eine Abrechnung: Mit der Tagesschau, mit politischen Talkshows und mit den öffentlich-rechtlichen Sendern überhaupt. Eva Herman, ehemals Tagesschau-Sprecherin und Fernseh-Moderatorin, moderiert inzwischen eine alternative Tagesschau auf Youtube. Die richtige Tagesschau darf sie nicht mehr moderieren, nachdem sie sich positiv über das Familien- und Frauenbild der NS-Zeit geäußert hatte.

Hermans „Guten Tag meine Damen und Herren” ist das gleiche geblieben. Die Themen haben sich geändert. Eva Herman glaubt, dass Europa eine „Umsiedlung” bevorsteht – dass also Muslime absichtlich hergeholt werden, damit es erst einen Bürgerkrieg gibt und danach keine Deutschen mehr. Die Medien sind in dieser Theorie ein Mittel der Regierung – sie sollen die Deutschen glauben lassen, alles wäre in Ordnung.

Was ist Verschwörung, und was ist einfach nur falsch?

Es ist schwierig, eine Grenze zwischen Falschinformationen und Verschwörungstheorien zu ziehen. Der Forscher Felix Brinkschulte versucht zum Beispiel, zwischen „unintentionaler Fehlinformation” und „strategischer Desinformation” zu unterscheiden. Aber sobald man die Grenze zu Verschwörungstheorien überschreitet, wird diese Aufteilung hinfällig – denn manche Leute denken ja tatsächlich, dass die Erde flach sei. „Dann ist es keine strategische Lüge, denn es ist schließlich völlig ernst gemeint”, sagt Brinkschulte.

Hinter vielen halbwegs richtigen Nachrichten, die auf den Internetseiten von Pseudo-Medien veröffentlicht werden, steht eine übergeordnete Verschwörungstheorie: Die neue Weltordnung. Eva Herman hat auch darüber ein Video gedreht. Es gibt viele Versionen dieser Geschichte, aber alle laufen etwa auf die gleiche Furcht hinaus: ein islamisches Europa ohne Grenzen. Es wurde im Geheimen geplant, von den USA und Israel und den Europäischen Eliten. Es wird getragen von Grün-Wählern und Linken, die die Wahrheit nicht sehen wollen.

Eva Herman will ihre Wahrheit verbreiten. Ihre Videos haben hunderttausende Klicks. Und ihre Erklärung, warum sie als einzige über die Fakes des Medienbetriebs spricht, während ihre ehemaligen Kollegen immer noch schweigen, ist simpel: Die anderen haben Angst, ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Deshalb machen sie alles mit. Halten ein Konstrukt aus Lügen aufrecht, das die Regierung sich ausgedacht hat.

Mit Angst um den Arbeitsplatz kann man alles erklären.

Warum hassen Menschen Ausländer? – Sie haben Angst um ihren Arbeitsplatz. Warum funktioniert die Energiewende nicht? – Alle haben Angst um die Arbeitsplätze, die an der Braunkohle hängen. Warum machen Politiker unmögliche Versprechungen? – Sie haben Angst um ihre Ministerposten.

Warum manipulieren uns also die Journalisten im Auftrag der Regierung? – Sie haben Angst um ihre Arbeitsplätze. Diese Begründung wird im Laufe meines Youtube-Tages wiederkommen. Wenn es darum geht, warum Geologen uns verschweigen, dass die Pyramiden von Aliens erbaut wurden. Aber dazu später mehr.

Die Youtube-Empfehlungsalgorithmen bringen mich von der Ex-Nachrichtensprecherin Eva Herman zur Ex-Grünenpolitikerin und Ex-CDUlerin Vera Lengsfeld. Wenn die Beschreibung des Videos (30.000 Views) stimmt, dann sehe ich hier gerade eine Aufzeichnung von einem Seminar der „Wissensmanufaktur” – in Kanada. Man muss das noch einmal betonen: Kanada. Vera Lengsfeld und ein Haufen anderer Deutscher sind nach Kanada geflogen, um sich dort einen Vortrag anzuhören, der So tickt Angela Merkel heißt.

Wer sind die Menschen, die für ein Wahrheits-Seminar nach Kanada fliegen?

Bis jetzt hatten nur die Pseudo-Medien selbst Gesichter: Da war der Moderator mit dem Ehepaar, da war der dicke Esoteriker und da war Eva Herman. Jetzt sehe ich auf einmal Hinterköpfe. Hinterköpfe von Menschen, vor denen Vera Lengsfeld doziert. Menschen, die sich diese Sachen anhören. Die dafür ihre Abende vor Youtube verbringen müssen, die in ihrer Freizeit wahrscheinlich viel über die neue Weltordnung nachdenken. Die in ein Flugzeug steigen und über den Atlantik fliegen, um sich eine Wahrheit erzählen zu lassen. Manche dieser Hinterköpfe sind grau, manche sind alterslos, viele sind männlich. Was haben sie gemeinsam?

„Selbstwirksamkeit”, sagt der Psychologe Sebastian Bartoschek, und er sagt das so, als könne dieses Wort allein alles erklären. Als könne es das Rätsel um die Hinterköpfe und die hunderttausenden, millionenfachen Aufrufe der Sumpf-Videos lösen. „Was ist das?”, frage ich.

Komischerweise kommen wir alle mit einer Idee von Gerechtigkeit zur Welt. Wir glauben, dass wir alles schaffen können, wenn wir alles dafür tun. Wir glauben, dass wir belohnt werden, wenn wir etwas leisten. Dieser Glaube nennt sich Selbstwirksamkeit. „Wenn einem aber etwas passiert, das ungerecht ist, oder wenn das eigene Leben doch nicht so funktioniert, wie man es sich vorgestellt hatte”, sagt Bartoschek, „dann ist es leichter, die Schuld auf eine Verschwörung zu schieben, als sie bei sich selbst zu suchen.”  Wenn ich meinen Arbeitsplatz verliere, dann liegt es nicht an mir oder an meiner Firma – es liegt an der Neuen Weltordnung.

Es ist gesund, an Chemtrails zu glauben

Es ist nicht krank, sich an solche Theorien zu klammern. Nicht schizophren, nicht paranoid. Es ist sogar gesund. Es ist gesund, die Schuld von sich wegzuschieben, die man selbst nicht tragen kann. Sie den Eliten zu geben, den Politikern, den Weltverschwörern. Man kommt so besser mit dem Leben zurecht.

Der Übergang von Verschwörungstheorie zu Desinformation liegt in der Konkretisierung. Die Verschwörungstheorie sagt: Europa soll muslimisch werden. Die Desinformation sagt: Ein Flüchtling hat ein Kind umgebracht. Die Verschwörungstheorie macht aus Menschen wehrlose, meckernde Opfer. Die Desinformation macht Menschen wütend, ängstlich, gewalttätig. Auf Chemtrails und die Rothschilds kann man keine Brandsätze werfen. Auf Flüchtlingsheime schon.

Wenn Youtube wirklich ein Sumpf ist, so wie Felix Brinkschulte es gesagt hat, dann bin ich mit dem nächsten Klick auf Grund gestoßen. In dem Video, das erst seit ein paar Sekunden läuft, hat sich der Sprecher gerade langsam einblenden lassen, als würde er sich auf meinen Bildschirm beamen. Hinter ihm sieht man hellblaue Strahlen auf dunkelblauem Hintergrund. Alles sehr mystisch. Hermann Göring, erklärt der Mann, der sich „Norman Investigativ” nennt, hatte eine geheime Mission in die Antarktis angeordnet. Dort haben die Nazis ein Loch gebuddelt, in dem Außerirdische sitzen. Jetzt leben sie gemeinsam mit den Außerirdischen in der Antarktis. Als ich das kapiert habe, scrolle ich in den Kommentarbereich.

„In Minute 19:42 ist rechts ganz eindeutige eine Ruine zu erkennen.”, schreibt ein User. „Sind das echte Bilder oder was Zusammengeschustertes? Vor Minute 19:42 sieht die Landschaft exakt so aus wie auf den Mars Bildern der NASA. Zufall? Wohl kaum.”

Nächster Kommentar: „Das tiefste von Menschen gebohrte Loch ist so zwölf Kilometer tief, was weiter drunter ist weiß kein Mensch,  also so unmöglich ist ‘ne hohle Erde nicht.”

Eine Userin antwortet: „Doch die alles entscheidende Frage: Was oder wer ist dort? Der Ort für eine geheime Unternehmung ist gut gewählt. Könnte sich dort Rothschild eine Forschungsstation aufgebaut haben? Das würde einiges erklären. Zum Beispiel, dass es schon seit längerer Zeit keine Berichte gab. Was meinst du?”

„Ich könnte mir vorstellen das die Welteliten eine Art Arche unter dem Eis bauen und wenn diese dann fertig ist werden sie eine globale Pandemie auslösen um die Weltbevölkerung um rund 75 % zu reduzieren, sozusagen auf eine nachhaltige Weltbevölkerung reduzieren.  Das klingt zwar verrückt, ist es aber nicht! Und Skrupel haben diese Leute garantiert nicht. Und alles andere ist nur Ablenkung!”

Sie denken, sie wüssten es besser

Als Kind war ich fest davon überzeugt, zur Erfinderin auserkoren zu sein. Ich hatte ein Set mit Magneten und Metallkugeln zu Weihnachten geschenkt bekommen und war sicher, dass ich die erste Achtjährige sein würde, die das Perpetuum Mobile erfindet. Ich habe viele, viele Stunde damit verbracht, Magnetgebilde zu testen, die sich für immer weiterbewegen sollten. Es hat nie funktioniert. Ich bin an meinen Ansprüchen gescheitert, immer wieder, bis ich irgendwann verstanden habe, dass ich vielleicht einfach nicht so toll bin, wie ich gedacht hatte.

Daran muss ich denken, als ich in dieser Kommentarspalte hänge, anstatt das Video weiter anzuschauen: An dieses ernüchternde Gefühl, das den Übergang zwischen Jugend und Erwachsen markiert. An die Erkenntnis, ziemlich egal zu sein. Denn eigentlich ist es beneidenswert, dass die Menschen in dieser Kommentarspalte sich den Glauben erhalten haben, es besser wissen zu können.

Jetzt will ich mehr davon. Mehr von dem Quatsch. Mehr Pseudo-Wissenschaft. In der Empfehlungsliste neben Norman Investigativ, der immer noch erklärt, dass die Erde hohl ist, finde ich ein Video mit dem Titel „Die Wahrheit über die Pyramiden.“

Es gibt keine Beweise – aber das ist der Beweis!

Wahrscheinlich ist es ganz egal, welchen Quatsch man im Internet erzählen will: Irgendwer hat dazu auf jeden Fall bereits eine 3D-Animation gebaut. Das Video, in dem mir eine Männerstimme erklärt, dass die Pyramiden in Wirklichkeit Energiekraftwerke von Außerirdischen sind, sieht zumindest extrem hochwertig aus. Immer wieder erscheinen außerdem Bilder von alten Männern in Sepia-Optik, die schon vor hunderten Jahren etwas Revolutionäres herausgefunden haben. „Leider ist fast seine gesamte Arbeit verschollen oder gestohlen worden, deshalb kann nichts bewiesen werden”, sagt der Sprecher. „Aber wir müssen ja nur eins und eins zusammenzählen!“

Über die Videos von Eva Herman kann ich lachen. Weil ich weiß, wie Redaktionen funktionieren. Zum Beispiel, dass dort niemand aus der Regierung anruft und Berichterstattung diktiert. Aber ich habe keine Ahnung davon, warum und wie lange es die Pyramiden schon gibt. Außerirdische als Architekten – warum eigentlich nicht? Es scheint ja Beweise zu geben.

„Die Schulwissenschaftler erzählen natürlich etwas anderes“, sagt der Sprecher. „Weil sie Angst haben, ihren Job zu verlieren.” Logisch. Ich schaue wie hypnotisiert in die 3D-Animation, in der ich über Gizeh hinwegfliege. Der Sprecher erklärt, warum die Sphinx keine Nase hat – und der Grund scheint mir extrem viel Sinn zu machen. Auch wenn ich ihn sofort wieder vergesse.

Nichts wird erklärt, denn es ist ja offensichtlich

In den Videos, die ich im Youtube-Sumpf finde, muss es keine Beweise geben. Keine Quellenangaben und Erklärungen. Es gibt nur Bilder, die über Wahrheit und Lüge entscheiden. Es gibt Panik vor der neuen Weltordnung, vor Verschwörungen und Eliten. Und es gibt Rettung.

Aber Rettung, das lerne ich beim nächsten Klick, kostet Geld.

Ich wusste nicht, dass ein Finanzcrash bevorsteht. Aber die drei Männer, denen ich jetzt beim Sitzen um einen Stehtisch zuschaue, scheinen das für sehr selbstverständlich zu halten. Einer von ihnen hat sogar ein Buch herausgebracht, in dem er Ratschläge dazu gibt, wie man mit dem bevorstehenden Finanzcrash reich werden kann. Als Zuschauerin soll ich denken, dass ich etwas wichtiges verpasst habe: Den drohenden Crash. Ich soll denken, dass alle bereits Bescheid wissen. Deshalb erklärt auch keiner der Männer, wie und warum der Crash genau passieren wird.

Man hat das Gefühl, etwas wichtiges verpasst zu haben

Psychologen nennen das den false consensus effect – man denkt, es gäbe eine Gruppe, der man nur noch zustimmen müsste. Auch die Videos über den 11. September arbeiten mit diesem Mittel. Viele von ihnen sind mit der Beschreibung versehen: Bereits 50 Prozent der Bevölkerung kennen die Wahrheit und wissen, dass der 11. September eine Täuschung war. Da will man natürlich dabei sein.

Im Finanzcrash-Video fallen jetzt Sätze wie: „Ein Crash ist erstmal was geiles” und „Darum manipulieren uns die Machteliten.” Ein Mann, der sich mal Mr. Dax und mal Dirk Müller nennt, sagt diese Sätze. Und wer sein Buch kauft sei auf den nächsten Crash so gut vorbereitet, dass er sogar Geld aus ihm machen könne. Das Buch ist Mitte August erschienen und kostet 22 Euro. Wenig, wenn man bedenkt, dass man damit als Crash-Gewinner hervorgehen kann.

Youtube will manches nicht löschen – aber verstecken

„Wir wollen keine Plattform für Desinformation sein”, sagt Youtube-Sprecher Dorstewitz. Deshalb hat die Plattform für Inhalte, die zwar nicht gegen nationale Gesetze oder Richtlinien verstoßen, aber trotzdem schädlich sein können, einen neuen Status eingeführt: den eingeschränkten Status. Videos, die von Youtube in diesen Status gesetzt werden, können User nur noch finden, wenn sie den Link zu dem Video haben. Außerdem verschwindet der „Teilen“-Knopf unter dem Video. Die Videos werden also nicht gelöscht, sie verbreiten sich aber auch nicht mehr so schnell. Diese Funktion gibt es seit etwas mehr als einem Jahr.