Hintergrund

Narrativ der Desinformation: „Die Meinungsfreiheit wird eingeschränkt“

Kritik an Migration stehe unter Strafe, wer etwas gegen den Islam sagt, müsse Geld zahlen oder bekomme sein Kind entzogen – diese Behauptungen sollen belegen, dass die Meinungsfreiheit in Deutschland angeblich gefährdet ist. Diese konkreten Beispiele sind falsch, aber das Gefühl, das sie erzeugen sollen, wirkt.

von Tania Röttger

meinungsfreiheit
Wird in Deutschland die Meinungsfreiheit eingeschränkt? Das ist eine häufig wiederkehrende Behauptung. (Collage: Ivo Mayr/CORRECTIV)

Ein Mann mit Baseball-Cap sitzt in einer Gefängniszelle, verzweifelt lässt er den Kopf hängen. Über der Zeichnung steht, dass Bürger ab dem 11. Dezember nur noch positiv über Migration sprechen dürften und Kritik als Hetze gelte, die unter Strafe stehe.

Am 11. Dezember 2018 wurde der UN-Migrationspakt offiziell angenommen. Die Sache mit der Strafe für Kritik war eine von vielen falschen Behauptungen über den Pakt. Unser Faktencheck zeigte, dass nicht Kritik bestraft werden sollte – sondern dass der Pakt Staaten dazu aufrief, Hasskriminalität wie Hassrede gegen Migranten unter Strafe zu stellen. Das war in Deutschland jedoch längst der Fall. 

Das Narrativ

Behauptungen, die mit konkreten Beispielen Angst machen sollen, sehen wir immer wieder. Sie suggerieren, dass bestimmte Dinge nicht mehr gesagt werden dürfen, dass man für bestimmte Äußerungen bestraft werde. Zu wessen Gunsten die Meinungsfreiheit angeblich eingeschränkt werden soll, liefern die Beiträge gleich mit: Wahlweise für den Islam, Flüchtlinge oder die Migration. 

Mal wird behauptet, ein Politiker habe gefordert, „Asylkritikern Grundrechte zu entziehen“, mal, dass Angela Merkel „Asylkritiker“ mit Kindesentzug bestrafen wolle

Beides ist falsch. Im ersten Beispiel ging es um einen Gastbeitrag von Peter Tauber in der Welt anlässlich des Mordes an Walter Lübke – er forderte, Artikel 18 des Grundgesetzes gegen Verfassungsfeinde anzuwenden, nicht gegen „Asylkritiker“. Und beim zweiten Beispiel wurde ein Artikel des deutschen Anwaltvereins extrem verzerrt. Eigentlich ging es nämlich darum, dass ein Elternteil sein Umgangsrecht mit einem Kind verlieren könnte, wenn es das Kind durch seine politische Gesinnung direkt gefährde. Mit Angela Merkel hatte das nichts zu tun.

Das Thema Migration sollte einer anderen Behauptung zufolge sogar die Ursache für die Einführung der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) der EU gewesen sein. Sie sei nur eingeführt worden, um „Massenmigration“ zu verschleiern, behauptete ein Blogger. Einfach dadurch, dass die DSGVO angeblich die Fotografie verbiete. Unser Faktencheck ergab, dass beide Behauptungen falsch waren: Die DSGVO verlangt lediglich, dass abgebildete Menschen auf Fotos, die für kommerzielle Zwecke genutzt werden sollen, ihre Einwilligung geben müssen.

Wo das Narrativ auftaucht 

Diese Erzählungen sind nicht nur in Deutschland verbreitet. Sie existieren international. 

Die Falschmeldung zum Beispiel, die EU werde Kritik am Islam mit Geldstrafen belegen, erschien zuerst auf der Webseite des US-amerikanischen Gatestone Institutes, das nach unseren Recherchen schon mehrmals islamfeindliche Falschmeldungen veröffentlicht hat. Tatsächlich ging es in dem Text um verschiedene internationale Aktionspläne und Abkommen, keines von ihnen sah jedoch Geldstrafen für Islamkritik vor, wie unser Faktencheck zeigte. Strafbar waren weiterhin nur Straftaten wie Hassrede, Verleumdung oder Gewalttaten.

Ebenso falsch war die Meldung, dass jemand in England bis zu sieben Jahre Gefängnis fürchten müsse, wenn er oder sie Kritik am Islam übe. Auch hier ergab unser Faktencheck, dass die geplanten Strafen für Hasskriminalität gelten, nicht für Kritik an der Religion.

Die Beispiele erzeugen Sorge vor Fremdbestimmung. Dazu wandert ein Zitat des Philosophen Voltaire durch die Sozialen Netzwerke: „Wenn Du wissen willst, was Dich beherrscht, finde heraus, wen Du nicht kritisieren darfst.“ Allerdings ist dies gar kein Zitat von Voltaire, sondern stammt von einem Holocaustleugner.

Wir sehen also, wie versucht wird, die These der fehlenden Meinungsfreiheit mit falschen Behauptungen zu belegen.  

Was man nicht mehr sagen darf

Die Rechtslage ist eigentlich eindeutig. Die Meinungsfreiheit wird durch das Grundgesetz gewährt. Artikel 5 Absatz 1 schreibt vor: „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. […] Eine Zensur findet nicht statt.“

Doch Umfragen zeigen, dass das Narrativ der eingeschränkten Meinungsfreiheit in Deutschland wirkt. 

Das Gefühl, dass Artikel 5 Absatz 1 in der Praxis nicht vollkommen gilt, ist offenbar weit verbreitet. Zum Beispiel gibt es eine Umfrage im Auftrag der Zeit, laut der 41 Prozent der befragten Ostdeutschen sagten, um die Meinungsfreiheit sei es heute nicht besser gestellt als in der DDR. Oder die Allensbach-Studie von Mai dieses Jahres, in der 71 Prozent der Befragten meinten, man könne sich beim Thema Flüchtlinge „leicht den Mund verbrennen, wenn man darüber spricht“. Gleiches meinten 66 Prozent für Äußerungen über den Islam und 63 Prozent für Äußerungen über Juden. 

Was hinter einem Gefühl oder einer Meinung steht, können wir natürlich nicht faktenchecken. 

Oliver Saal von der Amadeu Antonio Stiftung schreibt uns auf Anfrage per E-Mail: „Wenn Leute das Gefühl haben, sie könnten ihre Meinung nicht mehr sagen, dann verfängt die rechtsextreme Strategie, einerseits ganzen Gruppen von Menschen ihre demokratischen Grund- und Menschenrechte abzusprechen und sich gleichzeitig als Opfer zu inszenieren.“

Dieses Gefühl sollte wohl auch angeregt werden, als ein Bundestagsabgeordneter der AfD behauptete, nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sei der Schutz des Islam wichtiger als die Meinungsfreiheit. „Islam-Kritik verboten“ hatte er seinen Facebook-Beitrag betitelt. Das war eine Fehlinterpretation, wie unser Faktencheck belegte. Das Gericht hatte lediglich geurteilt, dass eine Österreicherin eine verhängte Strafe wegen „Herabwürdigung religiöser Lehren“ zahlen müsse. Sie hatte behauptet, dass der Prophet Mohammed pädophil gewesen sei.

Soziale Netzwerke sind Orte voll von „Kritik“

Wie die Studien zeigen, fühlen manche, dass die Meinungsfreiheit eingeschränkt wird – und wenn nicht von außen, dann aus dem Inneren derer, die es nicht mehr wagen, zu bestimmten Themen ihre Meinung zu äußern. 

Doch in den Sozialen Netzwerken sind zu den Themen Migration, Islam und Flüchtlinge sehr viele extreme, erschreckende und verletzende Meinungen zu finden. Und seit Einzug der AfD in den Bundestag gibt es auch dort viele Reden, die aus Kritik an diesen Themen bestehen.

Vielleicht steckt hinter dem Narrativ auch ein anderes Gefühl – dass man für seine Meinung kritisiert wird. Aber das Grundgesetz gibt niemandem das Recht, seine Meinung ohne Gegenstimmen verbreiten zu dürfen. Das Recht auf Kritik macht Meinungsfreiheit aus.

Wo endet Kritik, wo beginnt die Straftat?

In unterschiedlichen Ländern gibt es unterschiedliche Auffassungen davon, wie grenzenlos die Meinungsfreiheit ist. In Deutschland hat sie mehr Schranken als in den USA zum Beispiel. Eine Linie verläuft in unserem Land zwischen Meinungsfreiheit und Hassrede, die unter Umständen bestraft werden kann.

Zwischen Hassrede und Kritik besteht jedoch ein Unterschied. Oliver Saal von der Amadeu Antonio Stiftung schreib uns dazu: „Die Meinungsfreiheit ist in Deutschland ein elementares Grundrecht. Sie deckt jede Äußerung ab, die nicht verboten ist.“ Verboten seien zum Beispiel die Leugnung des Holocaust oder Aufrufe zur Gewalt gegen marginalisierte Gruppen. „Es gibt also auch sehr viele abwertende Aussagen, die unüberlegt, gelogen, abwertend oder moralisch falsch sind – und dennoch erlaubt.“

Europäische und deutsche Gerichte verhandelten in den vergangenen Jahren immer wieder darüber, ob bestimmte Äußerungen über den Islam noch von der Meinungsfreiheit gedeckt, oder schon in Hassrede übergehen. Äußerungen von Personen, die die rechtlichen Grenzen des Sagbaren über Muslime und den Islam ausweiten wollen. 

Zum Beispiel Geert Wilders, der in einem Film im Jahr 2007 den Islam mit Terroranschlägen gleichsetzte; oder die rechtsextreme Partei Pro NRW, die 2012 ein Verfahren gewann mit der Folge, dass sie Mohammed-Karikaturen auf einer Demonstration mitführen durfte; oder die Österreicherin Sabaditsch-Wolff, die den Propheten Mohammed einen Pädophilen nennen wollte. Für manche gibt es sogar finanzielle Unterstützung – zum Beispiel vom US-amerikanischen islamfeindlichen Think-Tank Middle East Forum

Ob dies langfristig Auswirkungen hat, ob sich der Raum dessen, was Sagbar wird, vergrößert, bleibt abzuwarten.

Dieser Artikel ist Teil unserer Serie „Narrative der Desinformation“. Außerdem ist erschienen: „Migration verdrängt deutsche Traditionen“ und „Klimawandel? Früher sagte man einfach Sommer!“.