Warum Richter Urteile zur Corona-Pandemie fällen können, die der Wissenschaft widersprechen
Ein Richter eines Familiengerichts in Weimar entscheidet, die Corona-Maßnahmen an Schulen seien schädlich für Kinder – und stützt sich dabei auf einseitige Gutachten. Es ist nicht das erste umstrittene Urteil in der Pandemie. Aber müssen Richter überhaupt auf Basis der Wissenschaft entscheiden?
Ein Beschluss des Amtsgerichts Weimar sorgt aktuell für Schlagzeilen: Ein Einzelrichter entschied, dass die Corona-Schutzmaßnahmen an zwei Schulen in Thüringen einzustellen seien. Eine Mutter hatte geklagt mit der Begründung, ihren Kindern würde mit Abstandsregelung, Masken und Tests Schaden zugefügt. Die Entscheidung hat das Amtsgericht selbst bisher nicht veröffentlicht, dennoch tauchte ein 170 Seiten langes Dokument in anonymisierter Form unmittelbar danach im Internet auf.
Auf unsere Anfrage wollte eine Sprecherin des Gerichts, Inez Gloski, zur Echtheit des Dokuments keine Angaben machen – es gibt allerdings auch keine Gründe, daran zu zweifeln. Inhaltlich gibt es bei dem Beschluss aber einige Ungereimtheiten. So beruft sich der Richter auf drei Gutachten, erstellt von der Hygienikerin Ines Kappstein, dem Psychologen Christof Kuhbandner und der Biologin Ulrike Kämmerer. Kappstein schrieb unter anderem, Masken seien wirkungslos, „potenziell schädlich“ und die Übertragung des Virus über die Luft, also Aerosole, sei – anders als von Wissenschaftlern in Studien nachgewiesen – nur „eine eher unwahrscheinliche Möglichkeit“.
Auffällig ist: Alle drei Gutachterinnen und Gutachter sind Mitglieder im Verein „Mediziner und Wissenschaftler für Gesundheit, Freiheit und Demokratie“ von Sucharit Bhakdi. Der Verein fiel nach unseren Recherchen in den vergangenen Monaten durch Flyer mit irreführenden Informationen zur Corona-Pandemie oder Impfungen und der Vermittlung von unseriösen Masken-Attesten auf.
Gegner der Corona-Maßnahmen bezeichnen die Entscheidung aus Weimar in Blogs und Sozialen Netzwerken als „Sensationsurteil“. Sie präsentieren es als vermeintlichen Beleg, dass die Wissenschaft falsch läge und die Politik in der Pandemie falsche Entscheidungen treffe. Tatsächlich gibt es jedoch mehrere Hinweise darauf, dass die Entscheidung juristisch fehlerhaft sein könnte.
Richter sind in der Regel keine Epidemiologen oder Virologen, sondern müssen sich Wissen aus verschiedenen Quellen aneignen oder Forschende befragen. Sie sind eher vergleichbar mit Journalistinnen und Journalisten, die zu einem Thema recherchieren. Die Frage ist: Was geschieht, wenn es unterschiedliche wissenschaftliche Einschätzungen gibt? Müssen Richterinnen und Richter dann ausgewogen vorgehen? Und was passiert, wenn sie es nicht tun, sondern ihre persönliche Meinung in das Urteil einfließen lassen?
Nicht das erste umstrittene Urteil zur Corona-Pandemie
Der aktuelle Beschluss aus Weimar ist nicht die erste Gerichtsentscheidung gegen die Corona-Maßnahmen, das Fragen aufwirft. Im Januar 2021 lenkte ein Urteil desselben Amtsgerichts in Weimar die Aufmerksamkeit auf sich, weil ein Richter darin die „Politik des Lockdowns“ als „katastrophale politische Fehlentscheidung“ bezeichnet hatte. Er behauptete ohne Angabe von Belegen, es habe Mitte April 2020 „keine epidemische Lage von nationaler Tragweite“ bestanden – obwohl der Bundestag diese im März festgestellt hatte.
Medien berichteten anschließend, der Richter habe selbst schon privat gegen die Corona-Maßnahmen geklagt und mutmaßten, er sei befangen (der Richter bestritt das). Andere Juristen kritisierten, er habe offenbar Privates und Berufliches vermischt.
In einer anderen Entscheidung des Verwaltungsgerichts Wien vom 24. März 2021 schrieb ein Richter, ein PCR-Test könne keine Infektion nachweisen. Er berief sich als Quellen auf ein Dokument der WHO, das diese These jedoch nach unseren Recherchen nicht bestätigt, und auf ein Youtube-Video, laut dem der Erfinder des PCR-Tests, Kary Mullis, gesagt habe, dass der Test nicht zur Diagnostik geeignet sei. Auch das ist, wie verschiedene Faktenchecks zeigen, irreführend – und es gibt keine Belege, dass Mullis so etwas gesagt hat.
Auch in einem Urteil aus Portugal von November 2020, in dem ein Gericht in Lissabon ebenfalls die Zuverlässigkeit von PCR-Tests infrage stellte, interpretierte dieses laut Medienberichten zwei wissenschaftliche Artikel falsch.
Das bedeutet jedoch nicht, dass die Urteile ungültig sind.
Auch schlecht begründete Urteile sind verbindlich
Wir haben Alexander Thiele, Professor für Öffentliches Recht an der Universität München, gefragt, ob Richter verpflichtet sind, ihre Entscheidungen wissenschaftlich zu begründen. Er erklärte uns, dass es keine expliziten Vorgaben dazu gibt. Richterinnen und Richter seien in ihrer Entscheidungsfindung prinzipiell frei und könnten ihre Quellen selbst auswählen.
Es gebe zwar Standards dafür, wie wissenschaftliche Expertise in die Urteilsbegründung eingefügt werden sollte. Gerichte könnten jedoch dagegen verstoßen, ohne dass das Urteil gleich als unwirksam angesehen werden könne. Die Exekutive – also die Regierung – könne aus gutem Grund gegen unliebsame Gerichtsurteile nicht vorgehen. Fehlurteile seien aber möglich. Deshalb gebe es mehrere gerichtliche Instanzen. „Auch ein schlecht begründetes Urteil ist wirksam und damit verbindlich. Eine Korrektur erfolgt dann (idealerweise) im gerichtlichen Instanzenzug“, sagt Thiele.
Ist ein Urteil fehlerhaft, können in der Regel höhere Gerichte – die sogenannte höhere Instanz – es aufheben. Zum Beispiel kann ein Urteil eines Amtsgerichts in Familiensachen vor einem Oberlandesgericht angefochten werden.
Kritik an Entscheidung des Einzelrichters in Weimar
Zu dem aktuellen Beschluss aus Weimar stellte das Bildungsministerium in Thüringen schnell in einer Pressemitteilung klar, es habe keine Auswirkungen für andere Personen als die, die am Verfahren direkt beteiligt waren – also die zwei Schüler, deren Mutter geklagt hatte. „Der Beschluss wirft gravierende verfahrensrechtliche Zweifel auf“, schrieb das Ministerium zudem.
Die Entscheidung wurde laut Amtsgericht auf Grundlage von § 1666 BGB getroffen („Gerichtliche Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls“). Es war eine Entscheidung des Familiengerichts, einer Abteilung des Amtsgerichts. Das Bildungsministerium kritisierte, das Familiengericht sei nur für Fragen des Sorgerechts zuständig, nicht für die Überprüfung der Infektionsschutzmaßnahmen – das sei Aufgabe der Verwaltungsgerichte. „Ob die Entscheidung angesichts dieser und weiterer verfahrensrechtlicher Probleme überhaupt rechtliche Wirkung entfaltet und Bestand haben kann, muss obergerichtlich überprüft werden.“
Anwalt: Richter habe seine Kompetenzen überschritten
Ähnlich sieht das der Würzburger Anwalt Chan-jo Jun. Er hat in einem Video zu dem Beschluss aus Weimar erklärt, dass das Bürgerliche Gesetzbuch es zum Beispiel einem Gericht ermögliche, zu verfügen, dass ein Kind nicht mehr bei den Eltern leben solle. Es könne auch einer dritten Institution, wie einer Klinik, vorgeschrieben werden, das Kind aufzunehmen.
Der Richter habe sich also wohl gedacht, dass er alles, was im Interesse des Kindes ist, anordnen kann, analysiert Jun. Wenn es wirklich erwiesen wäre, dass Masken gesundheitsschädlich wären, wäre es also denkbar, dass ein Richter eine solche Entscheidung trifft. (Dass Masken für Schulkinder laut Medizinern nicht gesundheitsschädlich sind, haben wir bereits mehrfach recherchiert.)
„Richter haben bestimmte Freiheiten, und da hat sich jetzt ein Richter gedacht: Lass’ uns die mal ausdehnen. Ich denke schon, dass er sie überschritten hat“, sagt Jun. Der Beschluss sei wahrscheinlich noch keine sogenannte Rechtsbeugung, aber die Anordnungen seien nicht verhältnismäßig – zum Beispiel, dass den Schulen vom Richter vorgeschrieben werde, Präsenzunterricht durchzuführen. „Hier hört man dann doch eher eine politische Agenda heraus“, so Jun. Es sei zudem „anmaßend“, dass der Richter nicht nur für die zwei Kinder, deren Mutter geklagt habe, sondern gleich für alle ihre Mitschülerinnen und Mitschüler entschieden habe.
Höhere Instanzen können Fehlentscheidungen korrigieren
Bei den höheren Instanzen entschieden in der Regel Kammern mit mehreren Richterinnen und Richtern, erklärt Alexander Thiele. „Das mindert die Gefahr, dass sich bei Urteilen nicht das Recht, sondern die politische Ansicht eines einzelnen Richters oder einer einzelnen Richterin durchsetzt – die meisten heftig kritisierten Entscheidungen sind (wenig verwunderlich) solche eines einzelnen Richters oder einer einzelnen Richterin.“
So war es auch bei dem älteren Urteil des Amtsgerichts Weimar von Januar 2021. Es wurde vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof etwas später als „methodisch höchst fragwürdige Einzelentscheidung“ bezeichnet. Hinsichtlich der Gefahren der Corona-Pandemie stehe sie im Widerspruch zur „ganz überwiegenden Rechtsprechung der deutschen Gerichte“, schrieb der VGH. Der Richter habe sich nicht „auch nur ansatzweise mit den wissenschaftlichen und tatsächlichen Grundlagen“ auseinandergesetzt und sich „eine Sachkunde zu infektiologischen und epidemiologischen Sachverhalten“ angemaßt, die ihm „angesichts der hochkomplexen Situation ersichtlich nicht zukommt“.
„Sprechen soll das Recht und nicht der Richter als Person“
Grundsätzlich sollte Rechtsprechung losgelöst von der eigenen Meinung erfolgen, sagt Thiele. „Sprechen soll eben das Recht und nicht der Richter als Person.“ Eine Entscheidung zu treffen, die den eigenen Ansichten als Privatperson widerspricht, sei anspruchsvoll und gelinge mal mehr, mal weniger gut.
„Urteile, in denen eindeutig eine bestimmte politische Ansicht zum Ausdruck kommt und juristische Methodik zur Nebensache wird, sind in der Tat verpönt und haben in den folgenden Instanzen zu recht keinen Bestand.“ In fast allen Fällen sei es am Ende das Recht, das sich durchsetze, und nicht die Ansicht einzelner Personen.
Während der Corona-Pandemie sind Entscheidungen über die Rechtmäßigkeit von Maßnahmen aber besonders schwer. In einem Gastbeitrag bei Legal Tribune Online schrieb Thiele im Oktober 2020, ein Problem sei, dass die Entscheidungen auf der Basis unterschiedlicher wissenschaftlicher Einschätzungen getroffen werden müssen. „Welche Maßnahme sich als sinnvoll erweist, steht nicht ‘objektiv’ fest, die Wissenschaft gibt zwangsläufig keine eindeutigen Antworten, stochert mal mehr, mal weniger im Nebel.“
Gerichte träfen dabei keine eigenen Entscheidungen, sondern prüften die Entscheidungen der Regierung auf Vertretbarkeit und Plausibilität. Thiele ist der Ansicht: „Sofern der Gesetzgeber seine Entscheidung aber auf eine vertretbare wissenschaftliche Studie gestützt hat, sollte das Gericht davon absehen, diese durch eine andere, ebenso vertretbare zu ersetzen, die zu einem anderen Ergebnis kommt.“ Es mangele dem öffentlichen Recht insgesamt an einer „anerkannten Rezeptionstheorie für die Übernahme der Erkenntnisse fremder Wissenschaften“. „Hier bleibt für die Rechtswissenschaft viel zu tun.”
Welche Konsequenzen der Beschluss des Amtsgerichts Weimar für die Schulen der zwei Kinder in Thüringen hat, bleibt abzuwarten. Wir konnten das Bildungsministerium Thüringens dazu bisher nicht erreichen. Eine Sprecherin des Amtsgerichts teilte uns jedoch mit, das Ministerium habe schon eine Beschwerde eingelegt.
Bereits in einer ersten Pressemitteilung des Gerichts hieß es, die Entscheidung sei ohne mündliche Verhandlung gefällt worden. Sie sei nicht anfechtbar, es könne aber auf Antrag nach einer mündlichen Verhandlung erneut entschieden werden. Wie eine Sprecherin des Amtsgerichts uns erklärte, wird die Entscheidung dann grundsätzlich vom selben Einzelrichter getroffen und ist anschließend mit der Beschwerde anfechtbar.
Redigatur: Matthias Bau, Uschi Jonas
Korrektur, 14. April 2021: Wir haben die aktuelle Entscheidung des Weimarer Amtsgerichts in diesem Text mehrfach als Urteil bezeichnet; es handelt sich jedoch um einen Beschluss.