Die Zeitungsfälscher: Wie ein skurriles Netzwerk aus Fake-Accounts auf Facebook Stimmung macht
Sie geben sich als Journalisten, Künstler oder Wissenschaftler aus: Eine Recherche von CORRECTIV.Faktencheck hat ein Netzwerk gefälschter Profile rund um eine erfundene Zeitung namens „NRW Kurier“ aufgedeckt. Diese hetzt gegen die Medien – und weist eine auffällige Nähe zu einer ganz bestimmten Partei auf.
Carl S. Vorst nennt sich freischaffender Kulturredakteur. Fotos von ihm zeigen einen lächelnden alten Mann mit rundem Gesicht. In Zeitungsartikeln kommentiert er in scharfen Tönen aktuelle Ereignisse – wie einen Messerangriff im Juni in Würzburg oder die Hausdurchsuchung von AfD-Politiker Björn Höcke. Er schreibt von der „Rot-Grün-SED“ und bezeichnet Höcke als „offenkundig Unschuldigen“, dem „Willkür“ angetan werde. Im März verkündete Vorst stolz auf Facebook, ihm sei ein Journalistenpreis vom „Verband kartellfreier Journalisten“ verliehen worden.
Diesen Journalistenverband gibt es nicht. Ebensowenig wie Carl S. Vorst. Der Mann, sein Preis und all seine Aktivitäten sind erfunden. Sie existieren nur auf Facebook.
Eine Recherche von CORRECTIV.Faktencheck hat im Juli ein kleines, seit Jahren aktives Netzwerk von Fake-Accounts auf Facebook aufgedeckt. Sie geben sich als Journalisten, TV-Kritiker oder Wissenschaftler aus, auch eine angebliche Kolumnistin ist dabei. Geschaffen wurden sie nur zu einem Zweck: Um in Artikeln einer erfundenen Zeitung namens NRW Kurier aufzutreten und diese echt aussehen zu lassen.
Dahinter steckt ein Mann, der uns gegenüber seine Identität nicht preisgeben wollte. Er bezeichnet das Ganze als privates Kunstprojekt. Eine „Liebhaberei“, die er weiter betrieb, obwohl seine Seite schon seit einiger Zeit so gut wie keine Aufmerksamkeit auf Facebook mehr erzeugte.
Dies ist eine Geschichte über die Skurrilität von Desinformation und über Menschen, die aus Wut über die „Lügenpresse“ beginnen, „Fake News“ zu produzieren.
Sie zeigt, wie einfach es ist, in Sozialen Netzwerken eine Scheinöffentlichkeit zu erzeugen und Falschinformationen zu produzieren. Was wie eine schräge Fantasie wirkt, kann durchaus Schaden anrichten. Denn trotz einer geringen Reichweite hat die Facebook-Seite NRW Kurier es in den vergangenen Jahren teils geschafft, virale Desinformation zu verbreiten.
Der NRW Kurier – eine Fake-Zeitung nur auf Facebook
Als wir dem Netzwerk aus Fake-Profilen nachspürten und in Kontakt mit den Betreibern traten, wurden die Facebook-Seiten gelöscht. Zuvor hatte die Seite NRW Kurier 4.200 Fans auf Facebook. Sie veröffentlichte den Angaben auf Facebook zufolge seit 2016 regelmäßig „Berichte“, die aussehen wie abfotografierte Zeitungsartikel. Da es keine echte Zeitung namens NRW Kurier gibt, existieren diese gedruckten Artikel aber nicht wirklich. Es sind am Computer erstellte Fotomontagen – also Fakes.
Die Personen, die die Artikel verfassen und in den Texten zu Wort kommen, sind Erfindungen. Teilweise wurden für diese fiktiven Charaktere Facebook-Profile und Seiten angelegt, die auch miteinander kommunizieren und ihre Veröffentlichungen kommentieren.
Ein Dutzend solcher Personen fanden wir auf Facebook. Sie haben klingende Namen wie „Urs von Gründlach“, „Carmen Winkels“, „Gerd Mühlenhoff, „Heiner Hasenwein“, „Viktor Rubinski“, „Henry Büchner“ oder „Timo Sänger“. Seit April 2021 gibt es auch einen Twitter-Account mit dem Namen „Carl S. Vorst“.
Wir haben die „Artikel“ des NRW Kuriers stichprobenartig überprüft. Die einzigen echten Personen, die darin als Protagonisten zu Wort kommen, also zitiert werden, sind Politiker der Deutschen Zentrumspartei – einer politischen Vereinigung, die in diesem Jahr vergeblich versuchte, bei der Bundestagswahl anzutreten. Nach Recherchen von CORRECTIV.Faktencheck weist die Fake-Zeitung eine auffällige Nähe zum Zentrum auf. Auf Fragen dazu dementiert jedoch die Person, die die Seite betreibt, jeden Zusammenhang.
Fake-Profile mit verschiedenen Biografien und Verbindungen zum NRW Kurier
Am 26. April 2021 wurde CORRECTIV.Faktencheck auf einen gefälschten Zeitungsartikel aufmerksam gemacht. Ein Leser schrieb uns eine E-Mail: „Angehängtes Meme habe ich in einem Gruppenchat erhalten. Die Internetrecherche nach Personen oder dem Buchtitel ergab keine relevanten Ergebnisse.“ Das Bild war ein vermeintlicher Zeitungsartikel mit der Überschrift „Ist unser Rundfunk grün kontaminiert?“.
Darin ging es um ein angebliches Buch zweier „Medienforscher“ namens Anne Baesler und Lothar Reitsch mit dem Titel „Grüner Staatsstreich“. Ihre Erkenntnisse wurden von dem „Staatsrechtler“ Diether Schütze kommentiert. Wie im Leserbrief erwähnt, ergibt eine Internetrecherche nach diesen Personen keine relevanten Treffer – sie und auch das Buch sind Erfindungen. Das abgebildete Buch hat dasselbe Cover-Design wie das Buch „Die grüne Macht“ des Autors Ulrich Schulte.
Eine der ersten Maßnahmen, wenn man einen Fake vermutet, ist es, erwähnte Namen im Internet zu suchen. Das wussten wohl auch die Erfinder des Zeitungsartikels. Deshalb hat der Professor namens Diether Schütze seit März 2019 eine eigene Facebook-Seite. Dort wird vorgetäuscht, er hätte ein Buch geschrieben, und er zeigt ein vermeintliches Türschild seines Büros am „Friedrich-Wilhelm-Institut Duisburg“. Dieses Institut und das Buch gibt es ebenfalls nicht.
Fake-Accounts legen falsche Fährten auf Facebook
Das Beispiel zeigt, wie leicht auf Facebook falsche Fährten gelegt werden können, um Desinformation glaubhaft aussehen zu lassen. Da erhält ein erfundener Journalist einen Preis eines erfundenen Verbandes. Details wie Türschilder einer Universität machen Biografien auf den ersten Blick plausibel. Sie können genügen, um eine oberflächliche Recherche zu befriedigen und Menschen zu täuschen.
Wer genau nachliest, kann beim NRW Kurier einen Hinweis finden, dass die Seite erfundene Nachrichten verbreitet. Die Facebook-Seite bezeichnet sich als „Tageszeitung in Rheinland und Westfalen“. In der Selbstbeschreibung heißt es, man sehe sich als „Teil der Gegenöffentlichkeit“. In dem langen Text wird über die Medien geschimpft, die angeblich nicht mehr berichten würden, sondern ihre „Machtfülle“ ausnutzten, um die Meinung der Menschen zu beeinflussen. Erst ganz am Ende heißt es dann, die „eingesetzten unorthodoxen Methoden“ bestünden darin, „Kunstfiguren, Pseudonyme, Titel, Rubriken und Formate zu kreien“. Mit dieser „Kunstform“ werde „Widerstand gegen die Diktatur einer medialen Herrschaft des Unrechts“ geleistet.
Betreiber des NRW Kuriers rechtfertigt sich
Die Kontaktinformationen auf der Facebook-Seite sind fast alle falsch. So führt die angegebene Telefonnummer zur Geschäftsstelle der CDU Nordrhein-Westfalen. Pressesprecher Henrik Bröckelmann sagte uns am Telefon, man habe schon vor einiger Zeit versucht, die Seite bei Facebook zu melden, aber damit nichts erreicht.
Die angegebene E-Mail-Adresse funktioniert jedoch; hierüber haben wir die Menschen, die den NRW Kurier betreiben, kontaktiert. Ihre Identitäten wollten sie uns nicht preisgeben. „Ursprünglich waren wir zu viert“, schreibt uns ein Mann, der nach eigenen Angaben „zwischen 40 und 60 Jahre“ alt und verheiratet ist und im Großraum Düsseldorf lebt. Er wolle anonym bleiben, da seine Aktivitäten „Widerspruch, Empörung, teilweise Hass“ hervorrufen würden.
Inzwischen sei das Ganze nur noch ein „Zwei-Mann-Projekt“, wobei der Großteil der Arbeit von ihm erledigt werde. Täglich investiere er ein bis zwei Stunden, oft auch mehr.
Charaktere wurden wie „Avatare“ gepflegt
„Es war auch nicht uninteressant, innerhalb und in Verbindung mit dem ‘Internet-Kunstprojekt NRW Kurier’ verschiedene ‘Charaktere’ zu etablieren, mit jeweils anderen Interessen, Haltungen, Ansichten“, schreibt er. „Bei der fotografischen Ausformung dieser Kunstcharaktere ist auf Internetressourcen zurückgegriffen worden, die Bilder von Personen erzeugen, die in Wahrheit nicht existent sind. Diese ‘mit Leben zu erfüllen’, mag als Freizeitbeschäftigung angesehen werden, ähnlich der Pflege von Avataren in anderen Online-Formaten.“
Man lasse auch niemanden im Unklaren über den „Charakter dieser Darstellungsform“, schreibt uns der Mann mit Verweis auf die Selbstbeschreibung der Facebook-Seite.
Einziger Erfolg der Fake-Zeitung war im Jahr 2019
In den vergangenen Monaten war der ganze Aufwand kaum erfolgreich: Die Beiträge der Fake-Zeitung erzielen nur sehr wenige Reaktionen auf Facebook. Sie werden nur ein paar Mal geteilt – teilweise von den Fake-Profilen selbst, die untereinander interagieren.
Es gab jedoch einige Ausnahmen. Seine Hochzeit erlebt der NRW Kurier im Sommer 2019, wie wir mit dem Analysetool Crowdtangle herausfanden. Ein vermeintlicher Zeitungskommentar von „Tobias Goldmann“ im Juli 2019 zum Tod eines Jungen, der von einem Mann in Frankfurt vor einen Zug gestoßen wurde, ist der erfolgreichste Beitrag der Seite. Er wurde mehr als 6.100 Mal auf Facebook geteilt. Im Text wurde betont, dass der Täter aus Somalia kam.
Ein anderer Facebook-Beitrag von September 2019 zu „Fridays for Future“ und der Gegenbewegung „Fridays for Hubraum“ wurde mehr als 4.300 Mal geteilt. Der Online-Erfolg der „Fridays for Hubraum“-Initiative, die die Interessen von Autofahrern repräsentieren wollte, wird als „Riesenblamage für Klimaszene, Massen- und Staatsmedien“ dargestellt.
Seitdem hat die Reichweite der Seite stark abgenommen. Im August 2020 verbreitete der NRW Kurier jedoch wie viele andere die virale Falschinformation, bei einem Protest gegen die Corona-Maßnahmen in Berlin habe eine Million Menschen demonstriert. Der Beitrag wurde immerhin 300 Mal auf Facebook geteilt.
Stimmungsmache gegen die „Lügenpresse“
Die Berichte des NRW Kurier enthalten oft Meinungen und bekannte rechtspopulistische Narrative. In einem aktuellen „Bericht“ des NRW Kurier wird der Täter des Messerangriffs in Würzburg als „irrer Merkel-Psycho“ bezeichnet. In einem „Artikel“ über Regenbogenfahnen bei der Fußball-Europameisterschaft ist von „Lügenpresse im Propaganda-Rausch“ die Rede.
Uns gegenüber bezeichnet sich der anonyme Mann hinter dem NRW Kurier als „soweit rechts, wie es mit Demokratie und Rechtsstaat kompatibel ist“. In einer E-Mail legt er ausgiebig seine Meinung über den Begriff „rechts“ und die Spaltung der Gesellschaft dar. Er sehe in Deutschland ein „meinungsfeindliches“ Klima, schreibt er. Seine Facebook-Seite sei entsprechend von diversen Einschränkungen betroffen. Das habe dazu geführt, dass der NRW Kurier „ein praktisch bedeutungslos gewordener Kommentator“ sei, „auf den Status einer lediglichen Liebhaberei zurückgefallen“.
NRW Kurier berichtet auffällig häufig über die Zentrumspartei
Wer die Artikel des NRW Kuriers betrachtet, dem drängt sich der Eindruck auf, dass hier eine Scheinöffentlichkeit erzeugt wird, die der Deutschen Zentrumspartei nützen soll. Diese spielt in Deutschland so gut wie keine Rolle; die erfundenen Medienberichte über ihre Aktivitäten könnten ihr also den Anschein von Relevanz geben.
Der älteste Beitrag des NRW Kuriers, den wir finden konnten, stammt vom Tag nach der Gründung der Facebookseite im September 2016 und trägt den Titel „Kann das Zentrum die CDU noch retten?“. Ein zweiter direkt danach verkündet: „Zentrumspartei erinnert SPD-Ministerpräsidentin an die Verbrechen der SED-Diktatur“.
Das Zentrum bezeichnet sich selbst als die „älteste Partei Deutschlands“. In der Weimarer Republik spielte die 1870 gegründete katholische Partei eine zentrale Rolle und war an Regierungen beteiligt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde sie zwar wiedergegründet, versank jedoch in der Bedeutungslosigkeit. Die politische Vereinigung ist aber noch aktiv; sie hat Landesverbände in Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und seit kurzem nach eigenen Angaben auch in Hessen. Sie will laut Programm christliche Grundsätze in der Gesellschaft verbreiten, will unter anderem Ehe und Familie und die deutsche Identität schützen und lehnt Abtreibungen ab.
Zentrum wurde vom Bundeswahlleiter nicht als Partei anerkannt
Das Zentrum versuchte, bei der Bundestagswahl im September 2021 anzutreten, wurde jedoch vom Bundeswahlleiter nicht zur Wahl zugelassen. Sie wurde nicht als Partei anerkannt und hat nach eigenen Angaben dagegen Verfassungsbeschwerde eingelegt.
Auch in neueren Beiträgen des NRW Kuriers wird immer wieder über Aktivitäten des Zentrums berichtet und der Bundesvorsitzende Klaus Brall interviewt. Es sind die einzigen Interviews mit nachweislich echten Personen, die wir im NRW Kurier finden konnten. Zudem teilte die Facebook-Seite der Zentrumspartei und seines „Mitteilungsblatts“ Das Zentrum in den vergangenen Jahren immer wieder Artikel des NRW Kuriers oder seiner erfundenen Autoren.
Auf unsere Nachfrage dazu schreibt uns der Mann, der den NRW Kurier betreibt: „Der Kurier hat nicht nur über das Zentrum positiv berichtet, sondern auch über andere Parteien. Manch einer hat uns auch schon ‘AfD-nahe’ vermutet, weil wir eben auch die Sicht der Rechtsopposition widergespiegelt haben. Insofern möchte ich nachhaltig dementieren, dass die (Privat-)Aktivitäten des NRW-Kuriers in irgendeiner Verbindung stehen zum Zentrum, zur AfD oder einer anderen politischen Partei, geschweige denn, dass unsere Darstellungen im Auftrag einer Partei erfolgten.“
Wir haben am 26. Juli auch eine Presseanfrage an die Zentrumspartei geschickt, doch bis zur Veröffentlichung dieses Artikels keine Antwort erhalten.
Der anonyme Betreiber des NRW Kuriers antwortet per E-Mail ausführlich auf unsere Fragen. Nach mehreren Nachfragen löscht er jedoch sowohl den NRW Kurier als auch die meisten Seiten seiner erfundenen Protagonisten auf Facebook. Es sei Zeit, das Projekt zu beenden, schreibt er uns. Sein zentrales Motiv sei es immer gewesen, die Medienlandschaft zu kritisieren. Alle Ausschmückungen seien „lediglich als Beiwerk zu betrachten, um den Darstellungsrahmen authentisch zu gestalten“.
Ganz beendet sind die Aktivitäten aber wohl nicht – nicht alle Facebook-Seiten mit Verbindungen zum Netzwerk wurden gelöscht.
Die von uns aufgespürten Fake-Accounts versuchten, Stimmung zu machen und hoben eine politische Vereinigung positiv hervor, deren Kandidaten nach eigenen Angaben bei der Kommunalwahl im September 2021 in Niedersachsen antreten. Das zeigt, wie niedrig die Hürden für politische Desinformation auf Facebook sind – insbesondere, wenn man etwas von Bildbearbeitung versteht.
Redigatur: Uschi Jonas, Tania Röttger