Hintergrund

Narrativ der Desinformation: „Lügenpresse!“

Es ist der ultimative Kampfbegriff: „Lügenpresse!“ Er soll ausdrücken, dass Medien angeblich systematisch Tatsachen verdrehen – oder bewusst nicht über gewisse Themen berichten. Diese Erzählung wird auch mit Falschmeldungen genährt und hat eine düstere Vorgeschichte.

von Till Eckert

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Über die Medien wird gern behauptet, sie würden Lügen verbreiten und seien fremdgesteuert – viele Behauptungen dazu haben wir bereits als Falschmeldungen entlarvt. (Collage: Ivo Mayr / CORRECTIV)

Die Geflüchteten sitzen an Deck, einige haben den Kopf in die Hände gestützt. Sie warten. Das Schiff, auf dem sie sitzen, zieht monoton seine Kreise im Wasser. Seit Wochen darf die „Sea-Watch 3“, die sie am 12. Juni 2019 einige Seemeilen entfernt von der Küste von Libyen aus einem sinkenden Schlauchboot rettete, nicht in Lampedusa anlegen.

Die missliche Lage der Menschen an Bord wird von einer politischen und medialen Debatte überschattet: Matteo Salvini, damals noch Italiens Innenminister, verbietet der Kapitänin des Schiffes, Carola Rackete, in den Hafen einzufahren. Rackete wird das Schiff später trotzdem zur Anlegestelle lenken und von der Polizei abgeführt werden. Ein Gericht entschied letztlich laut Medienberichten: Sie war im Recht. Ende gut, alles gut? Nicht ganz.

Die erfolgreiche Mär von der inszenierten Seenotrettung

Ein bekannter Blog wollte die Geschichte offensichtlich nicht so stehen lassen: Journalistenwatch, ein Leitmedium der Neuen Rechten, spekulierte nach der Veröffentlichung einer ARD-Doku über die „Sea Watch 3“ in einem Artikel, dass es sich bei der Rettung der Menschen lediglich um eine „riesige Medienshow“ gehandelt habe. Die Aktion habe einer „Inszenierung“ mit dem „von vornherein geplanten Ziel, um jeden Preis auf Konfrontation mit den italienischen Behörden zu gehen“ geglichen. Im Text wird zum Beispiel die Frage aufgeworfen, ob die Geflüchteten „extra für die Reportage aufs Meer gebracht“ wurden.

Der öffentlich-rechtliche Sender soll eine Seenotrettung fingiert haben? So eine Meldung hat das Zeug zum viralen Hit – selbst wenn es, wie in diesem Fall, keinerlei Belege oder Indizien für sie gibt. Vielen dürfte der Text die Grundlage geliefert haben, einem alten Narrativ zu glauben, das vor allem über die öffentlich-rechtlichen Medien und ihre Journalisten verbreitet wird: dass sie angeblich lügen. Dass die Presse Tatsachen verdrehe, sie absichtlich weglasse oder von der Politik oder anderen Mächten gesteuert werde. All das wird gerne auf ein Wort komprimiert: „Lügenpresse”. 

Der Beitrag von Journalistenwatch. (Screenshot: CORRECTIV)

Wohl auch, weil er dieses Narrativ bediente, schaffte es der Artikel von Journalistenwatch trotz fehlender Fakten in kürzester Zeit zu hoher Reichweite, wurde mehr als 750 Mal auf Facebook geteilt und fand prominente Verbreiter. So teilte der ehemalige Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen den Artikel auf Twitter, auch AfD-Bundestagsabgeordnete sprangen auf. Zumindest Maaßen löschte seinen Tweet später wieder. Der Schaden war zu diesem Zeitpunkt aber schon angerichtet. 

Vorwürfe stellen sich oft als haltlos heraus

Im Verfassungsschutzbericht 2016 wird der „Lügenpresse“-Begriff als „Taktik rechtsextremistischer Propaganda“ bezeichnet (PDF zum Download, Seite 58). Ziel sei die Diffamierung der etablierten Medien. „Diese werden – vor allem im Zusammenhang mit der Zuwanderungsdebatte – als verlängerter Arm der gleichfalls verachteten verantwortlichen staatlichen Stellen betrachtet“, schreibt der Verfassungsschutz. Und: „Die Medien – so der Vorwurf – berichteten einseitig im Sinne der Regierung und wiesen vor allem auf die mit der Einwanderung verbundenen gesellschaftlichen Chancen hin.“ Nachteile, Risiken sowie die vermeintliche, oben geschilderte „Bedrohungslage“ für das deutsche Volk würden nach diesem Narrativ angeblich verschwiegen. 

Diesen Vorwurf, Medien würden angebliche Bedrohungen verschweigen, sieht unser Faktencheck-Team immer wieder im Netz. Meistens ist er haltlos. In einem viel geteilten Facebook-Beitrag wurde im August 2019 etwa behauptet, ARD und ZDF hätten nicht über einen Mord in Stuttgart berichtet. Das stimmte nicht, beide Sender haben über den Fall berichtet. Und auch wenn viele das nicht wahrhaben wollten: Auch über die Gelbwesten-Proteste in Frankreich oder Bauern-Proteste in den Niederlanden haben die Medien in Deutschland berichtet.

Facebook-Beitrag mit falscher Behauptung, veröffentlicht am 3. August 2019. (Screenshot: CORRECTIV)

Wir sehen bei unserer Arbeit tatsächlich, dass bei dem Narrativ nur selten wirkliche Fehler von Medien gemeint sind – oder eben „Lügen“. Dass es solche natürlich geben kann, zeigte zuletzt der Fall Relotius. Und Beispiele für Fehler gibt es ebenso: Nach der Silvesternacht 2020 im Leipziger Stadtteil Connewitz übernahmen Journalisten laut Medienberichten etwa vorschnell eine Falschmeldung der Polizei. Wir beobachten aber, ähnlich wie im Verfassungsschutzbericht 2016 aufgeführt, dass das „Lügenpresse“-Narrativ vor allem dann bedient wird, wenn es in eine politische Agenda passt, etwa in Kombination mit Themen wie Migration oder Klimawandel.

„Lügenpresse“-Begriff wurde auch in der NS-Zeit verwendet 

Ralf Klausnitzer vom Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität Berlin geht in einem Videobeitrag für die Bundeszentrale für politische Bildung näher auf den „Lügenpresse“-Begriff und die dahinterstehende Denkweise ein. „Der Begriff ist ein Kampfbegriff, um so etwas wie den Gegner, den anderen, zu stigmatisieren, auszugrenzen, und ihm die Wahrheitsfähigkeit abzusprechen“, sagt er. 

Der Begriff hat laut Klausnitzer außerdem einen „verschwörungstheoretischen Grundgestus“: Wer ihn verwende, unterstelle, dass er im Besitz einer Wahrheit sei und eine Fähigkeit besitze, das angeblich faule Spiel der „Meinungsmacher“ zu durchschauen.

„Der Terminus ist ein gefährlicher Begriff, weil er eine ausdifferenzierte und sehr komplexe Lage auf ein Schlagwort verdichtet und verengt“, sagt Klausnitzer. Er habe außerdem eine Vorgeschichte, die viele nicht kennen würden: Er sei sowohl im Ersten Weltkrieg als auch in der NS-Zeit als bewusste Diffamierung eingesetzt worden, um Informationen, die von der offiziellen Propaganda abwichen oder aus dem Ausland kamen, unglaubwürdig zu machen. 

Die Geschichte des Begriffs „Lügenpresse“ zeigt auch eine Suche mit dem Google-Ngram-Viewer, mit dem man in den digitalisierten Beständen US-amerikanischer und europäischer Literatur suchen kann. Hochzeiten erfuhr „Lügenpresse“ demnach 1917 (während des Ersten Weltkriegs) und 1940, auf dem Höhepunkt der NS-Diktatur. 

Eine Auswertung der deutschen Google-Suchtrends ab 2004 zeigt, dass der Begriff im Netz lange Zeit keine wirkliche Rolle spielte und erst Ende 2014, Anfang 2015 intensiver gesucht wurde – dem Zeitraum, in dem die islamfeindliche Pegida-Bewegung das Wort öffentlichkeitswirksam skandierte, wie beispielsweise ein Videobeitrag des ARD Mittagsmagazins von 2015 zeigt.

Wer im Glashaus sitzt …

Trotz des düsteren geschichtlichen Hintergrunds dieser systematischen Diffamierung der Medien scheinen viele Menschen nicht müde zu werden, das Narrativ von der „Lügenpresse“ zu verbreiten, wann immer es sich anbietet. Anhand verschiedenfarbiger Wetterkarten wurde etwa im Juni 2019 behauptet, die ARD wolle Menschen manipulieren, indem sie die Klimasituation dramatisiere. Die Behauptung stimmte natürlich nicht: Die Karten waren nicht vergleichbar.

Mehrere Facebook-Seiten teilten die Grafik, unter anderem „Gegenwind Deutschland“. (Screenshot und Bearbeitung: CORRECTIV)

Komplett verhoben hat sich auch ein Facebook-Nutzer, der im Dezember 2019 behauptete, das ZDF hätte „wieder einmal Fake-News“ verbreitet: Der Sender habe berichtet, Deutschland sei im Klima-Risiko-Index erstmals unter den Top 3 der am stärksten betroffenen Regionen – für den Nutzer offenbar eine unmögliche Vorstellung. Dabei entsprach der Bericht des ZDF den Fakten

Ebenfalls im Dezember behauptete ein Facebook-Nutzer, der MDR habe eine Falschmeldung über den Wasserstand der Victoriafälle im Süden Afrikas verbreitet. „Ein erschreckendes Beispiel dafür, dass der Begriff #Lügenpresse durchaus seine Berechtigung findet“, schrieb er. Wir fanden heraus, dass der MDR zwar in seinem Video wichtigen Kontext weggelassen hat – aber: das gleiche traf auch auf den Nutzer in seinem Facebook-Beitrag zu. 

Dieses letzte Beispiel könnte zu einer Art Versöhnung beitragen, zur Erkenntnis, dass alle mal Fehler machen, auch Journalisten – und dass Fehler nicht das gleiche sind wie Lügen.

Dieser Artikel ist Teil unserer Serie „Narrative der Desinformation“. Außerdem ist erschienen: „Deutschland wird ein islamischer Staat“, „Migration verdrängt deutsche Traditionen“, „Klimawandel? Früher sagte man einfach Sommer!“ und „Die Meinungsfreiheit wird eingeschränkt“.