China: Diese Videos sind keine Belege, dass Angehörige Corona-Tote auf der Straße verbrennen
Trauerritual, Neujahrsfest oder Einäscherung? Videos über China sorgen im Netz für Spekulationen, dass dort Corona-Tote öffentlich verbrannt werden. Die Videos sind keine Belege für die Behauptung. Menschen vor Ort berichten jedoch von überfüllten Krematorien und Krankenhäusern.
Bis Ende Dezember 2022 verfolgte China eine strenge Null-Covid-Politik, die für einige Menschen monatelange Ausgangssperren bedeutete. Nach Protesten im Land lockerte die Nationale Gesundheitskommission Anfang Dezember Maßnahmen wie PCR-Tests und die Quarantäne-Auflagen. Ende Dezember berichteten Aktivisten und Medien dann über teils lange Wartelisten für Einäscherungen in Krematorien.
Anfang Januar titelten zudem Medien wie die britische Internetseite Daily Mail oder die deutsche Tageszeitung Bild: „In China werden Leichen auf der Straße verbrannt“. Die Berichte verwiesen auf mehrere Videos, die in Sozialen Netzwerken kursieren. Die Videos bilden verschiedene Szenarien ab: eine Menschengruppe trauert scheinbar auf einem Parkplatz, eine andere vor einem Wohngebäude – ein drittes Video zeigt einen brennenden Holzkasten am Straßenrand. Wir haben uns die vermeintlichen Belege angeschaut: Was zeigen die Videos und was nicht?
Unabhängig bestätigte Angaben zu Todesfällen gab es zu diesem Zeitpunkt nicht. Konkrete Zahlen zu den Todesfällen, die in Zusammenhang mit Covid-19 auftraten, veröffentlichte der Staatsrat der Volksrepublik China erst am 15. Januar auf seiner Website. Demnach gab es zwischen dem 8. Dezember 2022 und dem 12. Januar 2023 landesweit 59.938 gemeldete Todesfälle im Zusammenhang mit Covid-19. Ob diese Daten vollständig sind, lässt sich nicht überprüfen.
Ein Video zeigt wahrscheinlich ein chinesisches Ritual auf einem Parkplatz in einer Wohnsiedlung
Eines der verbreiteten Videos zeigt etwa 20 Personen, die auf einem Parkplatz stehen – umgeben von beige-braunen Hochhäusern. Auf dem Stellplatz in ihrer Mitte brennt ein Feuer. Was darunter ist, erkennt man nicht. Zu sehen ist lediglich, dass die Menschen bunte Ringe ins Feuer werfen. Diese Aufnahme wurde von dem ehemaligen ukrainisch-amerikanischen Rennfahrer Igor Sushko auf Twitter mit der Behauptung geteilt, Berichten zufolge zwinge der Covid-19-Ausbruch Menschen dazu, die Leichen ihrer Familienmitglieder auf der Straße zu verbrennen.
Wo das Video entstand, ist nicht abschließend zu sagen. Sushko machte keine Angaben dazu. Auf eine Anfrage von CORRECTIV.Faktencheck antwortete er nicht. Twitter zeigt unter dem Video von Sushko inzwischen den Hinweis an, dass die Behauptung unbelegt ist.
Das Video wurde mehr als 280.000 Mal angesehen (Stand: 25. Januar). In den Twitter-Kommentaren und in Telegram-Kanälen bemängeln Nutzerinnen und Nutzer, dass Sushko es in einen falschen Kontext setzte, das Video zeige ein chinesisches Ritual (hier und hier). Andere behaupten, bei der angeblichen Totenverbrennung auf dem Parkplatz handele es sich um eine „chinesische Neujahrsfeier am 1. Januar, bei der Lampions rituell verbrannt werden“ (hier und hier).
Wir haben mehrere Korrespondenten und einen Epidemiologen zu den Aufnahmen befragt – an eine chinesische Neujahrsfeier denkt keiner der Experten beim Blick auf die Videos, zumal das Video Wochen vor dem Neujahrsfest am 22. Januar 2023 verbreitet wurde.
Der ehemalige China-Korrespondent der ARD, Steffen Wurzel, dem die chinesischen Behörden 2021 seine Aufenthaltsgenehmigung entzog, meint: Die Leute im Video „verbrennen sog. Huaquan („Blumen-Kronen“). Das sind aus Papier gemachte große Teile, die man sich innerhalb der Familie schenkt, wenn jemand gestorben ist.“ Der China-Korrespondent der Schweizer Tageszeitung NZZ Matthias Sander teilte uns unabhängig davon mit, er sehe auf dem Video keine Leiche und „gehe mit den Twitter-Kommentaren d’accord“.
Der Faktenfuchs der Bayerischen Rundfunks zitierte dazu den Korrespondenten Benjamin Eyssel aus dem ARD-Studio in Peking. Demnach sei es vor allem in Städten „kaum möglich“, eine Leiche im öffentlichen Raum zu verbrennen, ohne dass „sofort Sicherheitskräfte auftauchen und das unterbinden“.
Bild-Sprecher: Faktencheck ergab, dass es sich bei dem Video „nicht um eine Leichenverbrennung handelt“
Auch die Bild nutzte das Video kurzweilig in ihrem Artikel, korrigierte später jedoch ihre Berichterstattung, entfernte das Video und änderte die Überschrift des Texts. Auf unsere Anfrage schrieb der Sprecher der Bild-Gruppe Christian Senft: „Unser Faktencheck ergab nach kurzer Zeit, dass es sich bei dem Video, das weltweit auf zahlreichen Nachrichtenseiten mit falschen Angaben verbreitet wurde, nicht um eine Leichenverbrennung handelt.“ Quelle der ursprünglichen Berichterstattung seien mehrere US-amerikanische und britische Nachrichtenseiten wie der Mirror und die New York Post gewesen – beide Webseiten haben ihre Berichterstattung bisher nicht korrigiert (Stand: 25. Januar).
Corona in China: Einige Videos und Berichte stammen aus chinesischen Sozialen Netzwerken
Die Gesundheitsversorgung vor Ort scheint jedoch angespannt. Ein AFP-Journalist sprach mit Menschen in unterschiedlichen Städten in China. Demnach berichtete ein Bewohner aus Bengbu in Ostchina über ein „totales Durcheinander“ durch Covid-19. Es steht im Text aber nichts davon, dass Angehörige verbrannt würden. Andere Medien berichteten über Hinweise, dass manche Bestattungsinstitute und Krankenhäuser wegen Covid-19 stark überlastet seien. Medien wie CNN, Reuters oder Spiegel veröffentlichten Satellitenbilder von gefüllten Krematorien und Krankenhäusern.
Berichten zufolge werden Corona-bezogene Beiträge in chinesischen Sozialen Netzwerken oft zensiert. Einige Aktivisten und Journalistinnen sicherten jedoch Nachrichten und berichteten davon. Ein chinesischer Aktivist fasste in einem Tweet vom 29. Dezember eine Wechat-Nachricht zusammen: „Das Bestattungsinstitut in Shanghai ist lahmgelegt, der Transport der Leichen ist bis nächstes Jahr geplant. Der Vater eines Bewohners starb am 26. Dezember an einer neuen Corona-Infektion. Die Leichen konnten nicht abtransportiert werden, und sie wollten die Leichen selbst verbrennen.“ Ob die Nachricht des Aktivisten authentisch ist, bleibt offen.
Wir haben bei der Pressestelle des Institute for Health Metrics and Evaluation nachgefragt, wie die aktuelle Corona-Lage in China einzuschätzen ist. Das US-Institut forscht im Bereich globale Gesundheitsstatistik und gehört zur University of Washington in Seattle. Auf die Frage, ob Menschen die Leichen ihrer Angehörigen in der Öffentlichkeit oder auf der Straße verbrennen, antwortete uns der Professor für Epidemiologe Ali Mokdad am 10. Januar: Es sei „schwer zu glauben“, dass das stimme.
Dennoch warnt der Forscher vor einer Zunahme der Covid-19-Fallzahlen in China: „Krankenhäuser sind aufgrund der hohen Zahl an Infektionen, insbesondere bei älteren Menschen, überlastet, da die Durchimpfungsrate sehr niedrig ist.“ China habe aufgrund seiner Null-Covid-Politik die geringste Immunität gegen Covid-19, so Mokdad. Die Impfstoffe seien dort nicht so wirksam und die Impfkampagne liege schon „eine Weile“ zurück. Es bestehe also keine Immunität durch den Impfstoff oder durch frühere Infektionen. Die in China zirkulierenden Varianten seien zudem hochgradig infektiös und Land verfüge nicht über genügend Medikamente, um Krankenhausaufenthalte durch eine Corona-Infektion zu verhindern.
Ein zweites Video zeigt offenbar ein lokales Ritual, bei dem die Kleidung eines Verstorbenen verbrannt wird
Fakt ist: Konkrete Belege, dass Einäscherungen auf der Straße stattfinden, sind bisher nicht öffentlich geworden (Stand: 25. Januar). In keiner der Aufnahmen, die sich so stark im Netz verbreiteten, ist nachweislich zu sehen, wie Menschen Angehörige verbrennen. Das betrifft auch ein zweites Video, das Igor Sushko teilte. Es zeigt zehn Menschen mit Schutzmasken, die in einer Art Hinterhof im Kreis um ein brennendes Tuch stehen und rauchende Stöcke schwenken.
Das Video zeigt laut der Wissenschaftsredakteurin Flora Teoh von Health Feedback „ein lokales Ritual“, bei dem die Kleidung eines Verstorbenen verbrannt wird und nicht der Verstorbene selbst. Das chinesische Medienunternehmen Chudian News (触电新闻) berichtete über die Trauerfeier – das Video soll im Stadtteil Pudong in Shanghai entstanden sein. Den genauen Ort der Aufnahme konnten wir nicht identifizieren.
Weiteres Video zeigt einen brennenden Holzkasten – und keine trauernden Angehörigen
Ein weiteres Video, das unter anderem Skynews zitierte, teilte die in den USA lebende chinesische Aktivistin Jennifer Zeng auf Twitter. Menschen sind darin nicht zu sehen, es ist aber eine männliche Stimme zu hören. Zeng schreibt zum Video, es sei schwierig und teuer, einen Körper in einem Krematorium in China einzuäschern. Sie wäre nicht überrascht, wenn sich jemand auf dem Land dafür entscheiden würde „das zu tun“ – womit sie offenbar das Verbrennen eines Toten durch die Angehörigen meint. Skynews schrieb, das Video zeige einen brennenden Holzsarg neben einer Landstraße.
Doch es handelt sich um Mutmaßungen. Wir haben Zeng per E-Mail kontaktiert und gefragt, was der Mann im Video, das sie teilte, sagt. „Er spricht einen lokalen Dialekt, ich weiß nicht genau, in welcher Provinz. Es könnte die Provinz Henan sein. Er sagt: Es ist schade, dass hier niemand Kartoffeln röstet“, so die Aktivistin. Sie komme aus einer Region, in der es keine Tradition gebe, Verstorbene zu verbrennen. Sie habe das Video jedoch geteilt, weil sie glaube, dass es echt ist. Es stamme aus chinesischen sozialen Netzwerken; wann oder wo genau das Video gedreht wurde, wisse sie aber nicht.
Der ehemalige China-Korrespondent Steffen Wurzel bestätigte Zengs Übersetzung größtenteils. Der Mann spreche über die Tatsache, dass die Flammen gut geeignet wären, um Süßkartoffeln zu rösten, so Wurzel. „Sagt man sowas als Angehöriger? Wohl nicht.“ Er schließe nicht aus, dass „im riesigen Land China“ sowas passiere. Dass das ein Massentrend sei, bezweifle er.
Am 22. Januar feierten viele Menschen das chinesische Neujahrsfest mit der Familie, die viele zum ersten Mal nach langer Zeit besuchen konnten. Wu Zunyou, der Chefepidemiologe des chinesischen Zentrums für die Kontrolle und Prävention von Krankheiten, sagte laut CNN, dass die gegenwärtige Welle bereits etwa 80 Prozent der Menschen im Land infiziert habe.
Redigatur: Matthias Bau, Sophie Timmermann
Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Hintergrund:
- Zahlen zu Covid-19-Todesfällen in China, veröffentlicht vom Staatsrat der Volksrepublik China am 15. Januar: Link (archiviert)
- Medienbriefing des WHO-Generaldirektors zur Corona-Lage in China, 4. Januar: Link (archiviert)
- Mitteilung der WHO zu den Coronavirs Treffen von Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus und Ma Xiaowei, 14. Januar: Link (archiviert)
- Übersicht des Institutes for Health Metrics and Evaluation (IHME) mit Schätzungen zu Covid-19-Fällen in China, archiviert am 18. Januar: Link (archiviert)
- Informationen über die Methodik der IHME-Todesfallzahlen, archiviert am 18. Januar: Link (archiviert)