Hintergrund

Weshalb ein deutsches Gericht die Impfung einer 85-Jährigen gegen ihren Willen ermöglichen wollte

In der Impfgegner-Szene wird der Fall Inna Z. als Skandal dargestellt: Ein deutsches Gericht habe die damals 85-Jährige „zur Zwangsimpfung“ gegen Covid-19 verurteilt. Wir haben beim Amtsgericht und beim Bundesjustizministerium nachgefragt, unter welchen Umständen es dazu kommen kann, dass Menschen gegen ihren Willen geimpft werden dürfen.

von Steffen Kutzner

Symbolbild zu Impfung bzw. Impfpass
Dass Gerichte Menschen, die nicht für sich selbst entscheiden können, ohne deren Einverständnis impfen lassen, ist nicht ungewöhnlich (Symbolbild: Picture Alliance / Pressefoto Korb / Micha Korb)

Es begann mit einer Schlagzeile: „Morgen wird sie abgeholt – Deutsches Gericht verurteilt Holocaust-Überlebende (85) zu Zwangsimpfung“. Die österreichische Internetseite Report24 berichtete am 10. Januar erstmals über den Fall von Inna Z., einer ukrainischen Komponistin, die in Deutschland lebt und gegen Covid-19 geimpft werden soll. Angeblich gegen ihren Willen, wie auf Telegram und auf Blogs behauptet wird. Nachdem Report 24 den Text auf Englisch übersetzt hatte, griffen das Thema zudem einige englischsprachige Medien auf, wie der US-amerikanische TV-Sender Fox News und die israelische Tageszeitung Jerusalem Post.

Der Gerichtsbeschluss kursiert mitsamt sensiblen Gesundheitsdaten und Adressen beteiligter Personen in Telegram-Kanälen der Querdenker-Szene.

Wir haben beim zuständigen Amtsgericht Stuttgart-Bad Cannstatt nachgefragt, wie sich der Fall von Inna Z. danach entwickelte. Hintergrund ist: Können Menschen in Deutschland ​​in rechtlichen Fragen nicht mehr für sich selbst sorgen und haben keine Angehörigen, die das übernehmen, bestimmt ein Gericht einen externen Betreuer. Im Fall von Inna Z. beantragte diese Person eine Impfung – notfalls gegen den Willen der Frau.

Eine jüdische Gemeinde in Stuttgart und einige Fachleute sprachen sich gegen die Impfung von Inna Z. aus. Gegen den Gerichtsbeschluss wurde Beschwerde eingelegt und die Frau wurde bisher nicht geimpft. Dass Menschen, die etwa an Demenz leiden, auch gegen ihren Willen geimpft werden, ist kein alltäglicher Vorgang – aber rechtlich möglich. Wir erklären, unter welchen Umständen es dazu kommen kann.

Die Schlagzeile von Report24 kursiert aktuell auf Facebook (Quelle: Facebook; Screenshot und Schwärzung: CORRECTIV.Faktencheck)

Laut Beschluss sollte Inna Z. in einer geschlossenen Abteilung untergebracht werden 

Inna Z., so heißt es im Beschluss des Amtsgerichts Stuttgart-Bad Cannstatt vom 14. Dezember 2022, leide laut Gutachten eines Sachverständigen unter anderem an Demenz und wahnhaften Störungen, sowie an verschiedenen körperlichen Erkrankungen. Auf dieser Grundlage genehmigte die Richterin die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder einer Pflegeeinrichtung. 

Die Begründung dafür lautet: „Die Betroffene muss geschlossen untergebracht werden, weil sie massiv verwahrlosen würde und ihre dringend notwendige ärztliche Versorgung, auch der organischen Erkrankungen wie eine regelmäßige Tabletteneinnahme nicht gewährleistet ist.“ Ohne geschlossene Unterbringung könne keine ärztliche Behandlung erfolgen; die Betroffene „kann sich in keiner Weise mehr selbst vorstehen“.

Ein Gutachter kam laut Beschluss des Amtsgerichts Stuttgart-Bad Cannstatt zu dem Ergebnis, dass Inna Z. dement ist und an wahnhaften Störungen leidet. Zudem bestehen körperliche Grunderkrankungen, die einen schweren Verlauf im Falle einer Covid-19-Erkrankung begünstigen könnten. (Quelle: Telegram / Amtsgericht Stuttgart-Bad Cannstatt; Screenshot: CORRECTIV.Faktencheck)

Richterin erklärte, Impfung gegen Covid-19 sei „erforderlich“ – umgesetzt wurde dies wegen einer Beschwerde bislang nicht

Zur Begründung, weshalb die Patientin geimpft werden müsse, heißt es im Beschluss: Die Durchführung der Impfung gegen Covid-19 gegen den Willen der Betroffenen sei erforderlich, um einen drohenden erheblichen gesundheitlichen Schaden von ihr abzuwenden. Weiter heißt es: „Es wurde zuvor erfolglos versucht, die Betroffene von der Notwendigkeit der ärztlichen Maßnahme zu überzeugen.“ Trotz dieser Versuche habe die Frau „keinerlei Krankheitseinsicht“, erkenne die Notwendigkeit nicht an, und sei hinsichtlich medizinischer Entscheidungen „zu keiner freien Willensbildung […] in der Lage“.

Dieser Beschluss wurde aber nicht umgesetzt. Am 12. Januar schrieb der Rechtsanwalt Holger Fischer in einem Telegram-Beitrag, er habe einen Eilantrag beim Landgericht Stuttgart im Fall Inna Z. gestellt.

Die Beschwerde brachte den Fall vor die nächste Instanz – das Landgericht Stuttgart setzte den Beschluss vorerst aus

Eine Pressesprecherin des Amtsgerichts Stuttgart-Bad Cannstatt schrieb uns am 12. Januar, Inna Z. habe Beschwerde eingelegt, woraufhin das Landgericht Stuttgart den Beschluss für die Impfung aussetzte. „Es schließt sich nun eine eingehende Prüfung der Beschwerde durch das Landgericht an. Bis dahin kann die Zwangsbehandlung nicht vollzogen werden.“ Dies betraf aber zunächst nicht die Unterbringung in einer geschlossenen Einrichtung.

Am 18. Januar berichtete Report24, die Ukrainerin sei „durch die Unterstützung von Helfern“ der gerichtlich angeordneten Impfung „entkommen“. Dazu war ein Video der damals 85-Jährigen zu sehen, in dem sie jedoch nicht über ihre Haltung zur Impfung spricht, sondern darüber, wie wichtig es ihr ist, weiterhin Musik machen zu dürfen. 

In einer Telegram-Nachricht am 31. Januar erklärte der Anwalt von Inna Z., dass schließlich auch die zwangsweise Unterbringung in einer geschlossenen Einrichtung vorübergehend ausgesetzt worden sei.

Holger Fischer Rechtsanwalt: „Das Landgericht Stuttgart hat per einstweiliger Anordnung nun auch die sofortige Wirksamkeit der Genehmigung zur Unterbringung von Frau Zhvanetskaya vorübergehend ausgesetzt.“
Telegram-Nachricht vom Anwalt von Inna Z. zur Aussetzung der Einweisung (Quelle: Telegram; Screenshot und Unkenntlichmachung: CORRECTIV.Faktencheck)

Wer entscheidet, ob Menschen, die unter Betreuung stehen, geimpft werden?

Das Amtsgericht schrieb uns, dass auch Menschen, die unter Betreuung stehen, grundsätzlich selbst über medizinische Maßnahmen und ärztliche Behandlungen entscheiden dürften. Nur wenn der Patient oder die Patientin eine Maßnahme ablehnt, die der Betreuer für dringend geboten hält, kann ein Antrag auf Durchführung einer Zwangsmaßnahme gestellt werden. Vor der richterlichen Genehmigung dürfe die Maßnahme nicht durchgeführt werden, so die Pressesprecherin. Im Fall von Inna Z. sei ein „fachpsychiatrisches Gutachten zu den Voraussetzungen der Maßnahmen eingeholt“ worden und die Frau „wurde im Beisein des Verfahrenspflegers von der zuständigen Richterin in ihrer gewohnten Umgebung angehört“.

Ob eine Person grundsätzlich selbst entscheiden kann und darf, ist eine Frage der sogenannten Einwilligungsfähigkeit, wie uns ein Sprecher des Bundesjustizministeriums per E-Mail mitteilte. Streitpunkt bei Inna Z. dürfte die Frage sein, ob sie der Impfung zustimmen würde, wenn sie nicht dement wäre. „Der rechtliche Betreuer darf bei der Frage der Einwilligung in die Impfung nicht seine eigenen Wertmaßstäbe oder seine persönliche Meinung zur Grundlage seiner Entscheidung machen, sondern hat einzig und allein danach zu fragen, ob die von ihm betreute Person einer Impfung generell oder jedenfalls in diesem Fall zustimmt oder zustimmen würde“, so der Sprecher. 

Report24 meint dazu: „eine Indikation einer Zwangsimpfung angesichts der offiziell beendeten Pandemie lässt sich weder medizinisch noch juristisch begründen“. Auf welcher Basis dem Gericht hier widersprochen wird, bleibt offen. Argumente liefert der Artikel nicht. Angeblich kontaktierte „medizinische Fachleute“ hätten von „Böswilligkeit“ des Gutachtens gesprochen. Wer diese Fachleute sind, bleibt im Dunkeln. 

Kritik am Beschluss: Israelitische Religionsgemeinschaft Württemberg gibt an, dass Inna Z. schon früher gegen die Impfung war

T-Online und der Zeitungsverlag Waiblingen berichteten ebenfalls über den Fall. Eine Stellungnahme der Betreuerin von Z. bekamen beide nicht. Aber die Zeitungen berichten, dass die Entscheidung für eine Zwangsimpfung unter anderem vom Bundesverband der Berufsbetreuer/innen und von der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württemberg kritisiert wurde. 

Wie der Zeitungsverlag Waiblingen (ZVW) am 19. Januar berichtete, meldete sich auch die Israelitische Religionsgemeinschaft Württemberg zum Fall, deren Sozialabteilung offenbar öfter mit der Frau zu tun hatte. Eine Aussage von Vorstandsmitglied Mihail Rubinstein legt nahe, dass sich Inna Z. ablehnend gegenüber der Covid-19-Impfung zeigte. Er sagte laut ZVW: „Wir kennen diese Frau sehr lange, auch zu Zeiten, wo wir sagen können, dass sie sich bewusst gegen die Impfung ausgesprochen hat.“ Er selbst sei dreimal geimpft und halte das für sinnvoll, doch das sei „keine Entscheidung, die ein Gericht zu treffen hat“. Rubinstein fügte hinzu: „Dass gewisse Kreise jetzt versuchen, diesen Fall zu instrumentalisieren, und daraus Profit zu schlagen, gefällt uns überhaupt nicht.“ 

Der Beauftragte der Landesregierung gegen Antisemitismus, Michael Blume sagte gegenüber dem ZVW, dass es sich um einen juristisch wie auch sozial komplexen Fall handele, der „von Internetmedien ohne vorherige Nachfragen skandalisiert“ worden sei. 

Laut dem Twitter-Account des Beauftragten der Landesregierung gegen Antisemitismus in Baden-Württemberg wurden infolge der Gerichtsentscheidung auch Mitarbeitende angegriffen (Quelle: Twitter; Screenshot und Unkenntlichmachung: CORRECTIV.Faktencheck)

Gegenüber T-Online sagte Andrea Schwin-Haumesser, Vorstandsmitglied des Bundesverbands der Berufsbetreuer/innen: „Wir haben als Verband ganz klar Stellung bezogen, dass wir eine Zwangsimpfung gegen Corona für nicht notwendig erachten.“ Eingriffe in Grundrechte seien nur dann angezeigt, „wenn der Mensch sich nicht mehr selbst schützen kann und nicht mehr einschätzen kann, was gut und wichtig für ihn ist“. Eine Impfung gegen den Willen der betreuten Person sei nach Ansicht des Bundesverbands jedoch „ganz klar“ davon ausgeschlossen. 

Weshalb Impfungen gegen den Willen einer betreuten Person selten sind

Laut RKI ist eine Impfung insbesondere für ältere Menschen über 60 Jahre empfohlen, da sie ein besonders hohes Risiko für einen schweren Verlauf einer Covid-19-Erkrankung haben. 1,3 Millionen Menschen in Deutschland hatten 2021 eine rechtlich betreuende Person. Fälle wie der von Inna Z. sind jedoch eher selten, denn sie sollte gegen ihren Willen geimpft werden. Ein Sprecher des Bundesjustizministeriums schrieb uns dazu: „Impfungen gegen den erklärten Willen von dementen Personen sind keinesfalls ein alltäglicher Vorgang und werden nicht regelhaft praktiziert.“ Der Grund dafür sei, dass es relativ selten vorkomme, dass ein Betreuer einer Person trotz deren geäußerten Willens überhaupt gegen sie entscheiden darf, auch wenn sie dement ist. 

Dafür müssen laut Bundesjustizministerium eine ganze Reihe von Bedingungen erfüllt sein, die nur selten zusammenfallen. So muss die betreute Person etwa den Nutzen der Maßnahme entweder nicht erkennen oder nicht danach handeln können. Die Maßnahme darf auch durch keine andere Maßnahme ersetzt werden können, die dieselbe schützende Wirkung auf die Gesundheit hätte, und die Maßnahme darf nur durchgeführt werden, wenn sie dem „Willen der betreuten Person entspricht“. Demnach muss entweder eine Patientenverfügung vorliegen, oder der Betreuer muss dem vermuteten Willen der Person entsprechen. 

Die Entscheidung des Amtsgerichts bleibt umstritten. Dennoch ist der Fall eines von vielen Beispielen dafür, wie die Impfgegner-Szene Einzelfälle rund um das Thema Corona-Impfungen immer wieder instrumentalisiert, aufbauscht oder irreführend verbreitet

Redigatur: Matthias Bau, Sarah Thust