Bürgergeld-Empfänger: Wer fällt unter „62 Prozent mit Migrationshintergrund“?
FDP-Vizechef und Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki sagte, 62 Prozent der Bürgergeld-Beziehenden hätten einen Migrationshintergrund. Auch AfD-Politiker griffen das Thema auf. Was steckt hinter dieser Zahl?
In Bayern wählen Bürgerinnen und Bürger am 8. Oktober 2023 einen neuen Landtag – es herrscht Wahlkampf-Endspurt. Der Gillamoos, ein Volksfest im niederbayerischen Abensberg, bot im September die Gelegenheit zum politischen Schlagabtausch.
Auch Wolfgang Kubicki, stellvertretender FDP-Chef und Bundestagsvizepräsident, ergriff dort auf einer Bühne das Wort: Er sagte, er sei als rechtsradikaler Verschwörungstheoretiker bezeichnet worden, weil er darauf hingewiesen habe, „dass 62 Prozent unserer Bürgergeld-Empfänger Migrationshintergrund haben“.
Die Zahl von „62 Prozent mit Migrationshintergrund“ ist laut Daten der Bundesagentur für Arbeit korrekt. Aber sie wird teilweise aus dem Kontext gerissen für politische Stimmungsmache, unter anderem von Politikern der AfD – die Partei wird bundesweit vom Verfassungsschutz als rechtsextremer Verdachtsfall eingestuft.
Ja, 62 Prozent der Bürgergeld-Empfänger haben einen Migrationshintergrund
Auf Anfrage erklärte uns Wolfgang Kubicki, er habe sich bei seiner Aussage von „62 Prozent“ auf Daten des Statistischen Bundesamts und auf Antworten der Bundesregierung bezogen, die in der Drucksache vom 19. Mai 2023 (PDF, archiviert) und der Drucksache vom 14. April 2023 (PDF, archiviert) stehen. Daraus geht hervor, dass die AfD-Abgeordnete Christina Baum und der AfD-Abgeordnete René Springer von der Bundesregierung wissen wollten, wie viel Prozent der Bezieherinnen und Bezieher von Bürgergeld einen Migrationshintergrund haben.
Kubickis Zitat wurde von Martin Wagener bei X (ehemals Twitter) aufgegriffen – und bekam über 6.000 „Gefällt mir“-Angaben. Wagener ist Politologe. Er bildete Angehörige des Geheimdienstes aus, bis ihm der Geheimschutzbeauftragte des Bundesnachrichtendienstes im Mai 2023 den sogenannten Sicherheitsbescheid entzog, wie die Tagesschau berichtete. Das Bundesamt für Verfassungsschutz habe Passagen in Wageners Buch, in denen er von „Ethnopluralismus“ schreibt, als extremistisch bewertet.
Kubicki und Wagener sind jedoch nicht die Einzigen, die diese Zahl öffentlich thematisierten.
Schon im August schrieb Martin Böhm, bayerischer AfD-Landtagsabgeordneter auf Facebook: „Nach offizieller Statistik der Bundesagentur für Arbeit hatten im März diesen Jahres 62,1 Prozent aller erwerbsfähigen Bezieher von Bürgergeld in Deutschland einen Migrationshintergrund. […] Sieht so eine ‚Erfolgsgeschichte‘ aus?“ Und im März veröffentlichte Bernd Schattner, AfD-Bundestagsabgeordneter, Videos auf Tiktok mit knapp 12.000 und mehr als 25.000 Aufrufen, darunter ein TV-Beitrag des österreichischen Verschwörungssenders Auf1. Schattner schreibt dazu: „Unfassbar: 63 Prozent aller Grundsicherungsempfänger in Deutschland haben einen Migrationshintergrund! Wir brauchen dringend eine Abschiebeoffensive für abgelehnte Asylbewerber […].“
Asylbewerber erhalten kein Bürgergeld, sondern Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz
Schattner vermischt allerdings die Sachverhalte: Asylbewerberinnen und Asylbewerber bekommen kein Bürgergeld, wie wir bereits mehrfach berichteten. Der Zusammenhang, den der AfD-Politiker bei Tiktok herstellt, ist also falsch.
Das Bundesamt für Arbeit und Soziales (BMAS) bestätigte uns gegenüber: „Berechtigte nach dem Asybewerberleistungsgesetz“ seien vom Bürgergeld ausgeschlossen. Das treffe auf Personen zu, „deren Asylantrag noch läuft sowie auf Geduldete, deren Asylantrag abgelehnt wurde, deren Abschiebung jedoch ausgesetzt wurde“. Auch Asylbewerber, die mit Menschen eine Bedarfsgemeinschaft bildeten, in der eine Person Bürgergeld beziehe, hätten keinen Anspruch auf Bürgergeld. „Ihnen stehen Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz zu.“
Anders sei es bei Menschen, deren Asylantrag anerkannt wurde, schreibt die Sprecherin des BMAS. Sie hätten „bei entsprechender Bedürftigkeit“ einen Anspruch auf das Bürgergeld. Bei diesen Personen handelt es sich jedoch um anerkannte Geflüchtete und nicht um Asylbewerber. Dazu gehörten laut BMAS-Sprecherin etwa auch ukrainische Geflüchtete.
Bürgergeld können erwerbsfähige und nicht erwerbsfähige Personen beziehen
Das Bürgergeld soll laut BMAS ein „menschenwürdiges Existenzminimum“ sichern. Es ersetzt damit das Arbeitslosengeld II. Beantragen können das Bürgergeld laut der Bundesagentur für Arbeit erwerbsfähige Leistungsberechtigte (ELB) und nicht erwerbsfähige Leistungsberechtigte (NEF), wenn sie in einer Bedarfsgemeinschaft mit einer erwerbsfähigen und leistungsberechtigten Person leben.
- Zu den erwerbsfähigen Leistungsberechtigten zählen Personen, die mindestens 15 Jahre alt und noch nicht im Rentenalter sind, in Deutschland wohnen, mindestens drei Stunden pro Tag arbeiten können oder hilfsbedürftig sind, weil sie zu wenig verdienen. Auch wer in einer Bedarfsgemeinschaft mit einer hilfsbedürftigen Person lebt, kann Bürgergeld beantragen.
- Zu den nicht erwerbsfähigen Leistungsberechtigten zählen Personen, die unter 15 Jahre alt sind oder die wegen gesundheitlichen oder rechtlichen Einschränkungen nicht mindestens drei Stunden pro Tag arbeiten können.
„Mit Migrationshintergrund“ umfasst Migrantinnen und Migranten erster und zweiter Generation
Ein Blick in die Statistik der Bundesagentur für Arbeit zeigt: Stand März 2023 waren unter insgesamt rund 3,9 Millionen erwerbsfähigen Leistungsberechtigten etwa 2,4 Millionen Personen mit Migrationshintergrund. Das entspricht rund 62 Prozent – wie Wolfgang Kubicki Anfang September auf dem Gillamoos sagte. Zu diesen Zahlen der Bundesagentur für Arbeit werden „Personen gezählt, die Bürgergeld beantragt und auch erhalten haben“, schreibt uns der dortige Pressesprecher Matthias Kleindienst. Kubickis Aussage ist also richtig, wenn man ausschließlich die erwerbsfähigen Leistungsberechtigten betrachtet.
Doch wer genau ist mit „Personen mit Migrationshintergrund“ gemeint? Die Definition davon ist weit gefasst. Laut der Bundesagentur für Arbeit fallen darunter diejenigen:
- die nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen.
- deren Geburtsort außerhalb der heutigen Grenzen der Bundesrepublik Deutschland liegt und eine Zuwanderung in das heutige Gebiet der Bundesrepublik Deutschland nach 1949 erfolgte.
- die mindestens einen Elternteil haben, deren Geburtsort außerhalb der heutigen Grenzen der Bundesrepublik Deutschland liegt sowie eine Zuwanderung dieses Elternteiles in das heutige Gebiet der Bundesrepublik Deutschland nach 1949 erfolgte.
Unter den rund 62 Prozent der Personen (rund 2,4 Millionen), die als erwerbsfähige Leistungsberechtigte Bürgergeld erhalten und einen Migrationshintergrund haben, haben etwa vier Fünftel eigene Migrationserfahrung (rund 2 Millionen). Das heißt, sie sind im Ausland geboren und nach Deutschland gezogen, also Migrantinnen und Migranten der ersten Generation. Rund 17 Prozent (rund 426.000 Personen) haben keine eigene Migrationserfahrung, sie sind Migrantinnen und Migranten der zweiten Generation. Etwa drei Prozent (rund 61.770 Personen) haben einen Migrationshintergrund ohne nähere Angabe.
Etwa 14 Prozent aller Personen mit Migrationshintergrund in Deutschland beziehen Bürgergeld
Wichtig zur Einordnung: Laut Daten des Statistischen Bundesamts (Stand: 2022) leben in Deutschland inzwischen etwa 17,2 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund, die zwischen 15 und 70 Jahre alt sind. Die Anzahl an Personen in dieser Altersspanne ohne Migrationshintergrund beläuft sich auf rund 41,2 Millionen.
Unterschiedliche Definition von „Personen mit Migrationshintergrund“
Die Definitionen des Statistischen Bundesamts und der Bundesagentur für Arbeit definieren von Personen mit Migrationshintergrund unterscheiden sich in einzelnen Details, nämlich in folgenden:
Statistisches Bundesamt:
- Person von der mindestens ein Elternteil nicht die deutsche Staatsbürgerschaft durch Geburt besitzt
Bundesagentur für Arbeit:
- Person, deren Geburtsort außerhalb der heutigen Grenzen der Bundesrepublik Deutschland liegt und eine Zuwanderung in das heutige Gebiet der Bundesrepublik Deutschland nach 1949 erfolgte
- Person, die mindestens einen Elternteil hat, deren Geburtsort außerhalb der heutigen Grenzen der Bundesrepublik Deutschland liegt und eine Zuwanderung dieses Elternteiles in das heutige Gebiet der Bundesrepublik Deutschland nach 1949 erfolgte
Gemessen am jeweiligen Bevölkerungsanteil heißt das: Von etwa 17,2 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund beziehen etwa 14 Prozent als erwerbsfähige Leistungsberechtigte Bürgergeld. Bei Personen ohne Migrationshintergrund beläuft sich der Anteil auf vier Prozent.
Statistik berücksichtigt nicht die Aufenthaltsdauer von Migrantinnen und Migranten
Doch was sagen Fachleute dazu, wieso unter den Bürgergeld-Beziehenden mehr Personen mit Migrationshintergrund sind (rund 62 Prozent) als Personen ohne Migrationshintergrund (rund 38 Prozent)?
Andreas Hauptmann, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) schreibt uns: Die Aufenthaltsdauer der Menschen mit Migrationshintergrund werde bei der Statistik nicht berücksichtigt, sie sei aber ein zentraler Faktor. „Insbesondere bei geflüchteten Menschen dauert die Arbeitsmarktintegration etwas länger.“ Eine Grafik des IAB-Kurzberichts vom Juli 2023 (PDF) zeigt: Die Erwerbstätigenquote – also das Verhältnis der Personen, die eine bezahlte Tätigkeit ausüben – liegt im Schnitt sieben Jahre nach dem Zuzug nach Deutschland bei 62 Prozent. Ukrainische Staatsangehörige machten unter den Leistungsempfängerinnen und -empfängern eine relativ große Gruppe aus, so Hauptmann. Sie seien mit rund eineinhalb Jahren aber vergleichsweise kurz in Deutschland.
Zudem unterscheiden sich laut Oliver Stettes, Leiter des Bereichs Arbeitswelt und Tarifpolitik am Institut der Deutschen Wirtschaft in Köln, das Qualifikationsniveau und die Sprachkompetenzen von erwerbsfähigen Leistungsberechtigten Personen mit und ohne Migrationshintergrund. „Beides hat Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit, in Arbeit integriert zu sein“, schreibt Stettes. Darauf bezieht sich auch Thorsten Schlee, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen. Er sagt: „Personen mit Migrationshintergrund sind überproportional in Arbeitsverhältnissen, die keine hohen Qualifikationsanforderungen haben.“ Damit falle das Gehalt auch eher gering aus und die Personen seien zusätzlich auf Bürgergeld angewiesen.
Großteil der Menschen mit Migrationshintergrund hat eigene Migrationserfahrung
Die Experten Stettes und Hauptmann sagen übereinstimmend: Der Umstand, dass unter den Personen, die Bürgergeld bekommen, die Gruppe mit eigener Migrationserfahrung die größere der beiden Gruppen mit Migrationshintergrund darstellt, liege schlicht an der Größe der dahinterstehenden Bevölkerungsgruppe. Daten des Statistischen Bundesamts (Stand: 2022) zeigen, dass etwa 73 Prozent (12,6 Millionen Menschen) unter den 17,2 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund im Alter zwischen 15 und 70 Jahren eigene Migrationserfahrung haben, also Migrantinnen und Migranten der ersten Generation sind.
Fest steht aber auch, dass laut Daten der Bundesagentur für Arbeit die Beschäftigungsquote in Deutschland gestiegen ist und – verglichen mit 2012 – mehr als doppelt so viele Personen mit ausländischer Staatsbürgerschaft in 2022 beschäftigt waren.
Fazit: Es stimmt, dass – wie Kubicki sagt – unter den Empfängerinnen und Empfängern von Bürgergeld 62 Prozent einen Migrationshintergrund haben. Diese Zahl wird aber auch aus dem Kontext gerissen für politische Stimmungsmache. AfD-Politiker Schattner bringt sie etwa mit Asylbewerberinnen und -bewerbern in Verbindung – diese zählen aber nicht zu dieser Statistik, weil sie kein Bürgergeld beziehen können. Und: Die Aufenthaltsdauer der Menschen mit Migrationshintergrund wird nicht berücksichtigt (je länger die Aufenthaltsdauer, desto besser die Arbeitsmarktintegration). Außerdem arbeiten Menschen mit Migrationshintergrund überproportional in gering bezahlten Arbeitsverhältnissen, sind also eher auf Bürgergeld angewiesen.
Redigatur: Gabriele Scherndl, Uschi Jonas
Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Hintergrundbericht:
- Drucksache 20/6865, Deutscher Bundestag, 19. Mai 2023: Link (PDF, archiviert)
- Drucksache 20/6390, Deutscher Bundestag, 14. April 2023: Link (PDF, archiviert)
- Definition von Personen mit Migrationshintergrund, Bundesagentur für Arbeit, 30. August 2023: Link (PDF, archiviert)
- Bevölkerung nach Migrationshintergrund, Statistisches Bundesamt, 2022: Link (PDF-Download, archiviert)
- Kurzbericht des IAB, „Entwicklung der Arbeitsmarktintegration seit Ankunft in Deutschland“, 27. Juli 2023: Link (PDF, archiviert)