Hintergrund

Ein Jahr Krieg in der Ukraine: Wie Desinformation zu einer mächtigen Waffe wurde

Der russische Angriffskrieg jährt sich – und war von Beginn an ein Nährboden für Desinformation. Im Netz streuen Hackergruppen, staatliche Akteure und Telegram-Nutzer Falschmeldungen. Wir schauen zurück auf die hartnäckigsten Narrative und wer sie verbreitet.

von Sophie Timmermann

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Seit einem Jahr tobt der russische Angriffskrieg in der Ukraine und liefert Munition für Verbreiter von Desinformation (Collage: Ivo Mayr / Correctiv; Vorlagen von Picture Alliance, Google Maps )

Es beginnt vergleichsweise harmlos. In einer Sondersitzung des russischen Sicherheitsrates am 21. Februar 2022 berät Russlands Präsident Wladimir Putin über die Anerkennung der selbsternannten Volksrepubliken Luhansk und Donezk im Osten der Ukraine. Angeblich „live“, so labelt es das russische Staatsfernsehen. Doch sie haben ein Detail nicht bedacht: Die Armbanduhren der Teilnehmenden. Sie entlarven, dass die Sitzung bereits Stunden vorher aufgenommen wurde.

Eine Lüge, der schnell zahlreiche weitere folgen, als der Kreml wenige Tage später, am 24. Februar, seinen Angriffskrieg auf die Ukraine beginnt. Aufnahmen eines zerstörten Wohnblocks im ukrainischen Tschuhujiw am ersten Tag des Kriegs machen klar: Der Aussage des russischen Verteidigungsministeriums, es würde „keine Raketen-, Luft- oder Artillerieangriffe auf ukrainische Städte“ geben, ist wenig Glauben zu schenken. 

Früh mischen sich alte Aufnahmen unter aktuelle, tatsächliche Angriffe werden in Frage gestellt. Auf Tiktok werden Jugendliche ungefiltert mit Kriegsszenen, Leid und Zerstörung konfrontiert. Im Netz polarisieren Begriffe wie Nato-Osterweiterung, „Nazis in der Ukraine“, „Sozialtourismus“ und „Korruption“. 

Seit dem ersten Tag des Angriffskrieges gehen wir Gerüchten nach, untersuchen die Glaubwürdigkeit von Bildmaterial und decken Falschmeldungen auf. Mehr als 150 Behauptungen haben wir bisher überprüft. Immer wieder begegnen uns dieselben Narrative. Sie sind mächtige Waffen im Krieg, denn sie beeinflussen das Meinungsbild der Gesellschaft, erzeugen Feindbilder, steuern Sympathien für die Kriegsparteien und schüren Hass gegen Geflüchtete. Im Folgenden zeigen wir, welche Erzählungen sich hartnäckig halten und wer nicht müde wird, sie zu verbreiten. 

Sondersitzung mit russischen Teilnehmenden mit Blick auf ihre Uhren
Eine Lüge, der schnell weitere folgten: Fotos der russischen Sondersitzung vom 21. Februar offenbaren, dass diese nicht live übertragen wurde. Russische Staatsmedien übertrugen die angebliche „Live-Sitzung“ am Abend. Die Uhren, im Foto zur besseren Kenntlichmachung gedreht, zeigen, dass die Sitzung jedoch viel früher aufgenommen wurde. (Quelle des Originalfotos: Kreml / Screenshot, Markierungen und Bearbeitungen: CORRECTIV.Faktencheck).

Desinformation kommt auch von proukrainischer Seite – aber die prorussische überwiegt

Unwahrheiten kommen von vielerlei Seite, auch der ukrainischen. So teilten ukrainische Webseiten und Nutzer mehrfach Bilder über angebliche Kriegserfolge und Überlebende von russischen Angriffen in einem falschen Kontext (hier und hier). Doch bislang überwiegt das Ausmaß prorussischer Desinformation. 

Über offizielle Twitter-Kanäle und russische Nachrichtenagenturen liefert Russland fadenscheinige Argumente und Belege, die den völkerrechtswidrigen Angriff legitimieren sollen. Die Ukraine betreibe ein geheimes Biowaffen-Programm und baue an einer schmutzigen Bombe. Vor dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen leugnen russische Vertreter Angriffe auf Zivilisten – die Bilder aus Butscha und Mariupol sprechen eine andere Sprache.

Als Antwort auf die russische Propaganda sperrt die Europäische Union im März und Juni russische Staatsmedien wie Rossiya 24, Sputnik und RT – ehemals Russia Today. Ihre Inhalte sollen in den EU-Mitgliedsstaaten nicht mehr zugänglich sein. Dass die Sanktionen, zumindest in Bezug auf RT, wenig zu bringen scheinen, zeigten wir in einer ausführlichen Recherche

Und Russland bekommt Schützenhilfe – auf Telegram. Der Kanal „Neues aus Russland“, betrieben von der zuvor unbekannten Alina Lipp, wird in wenigen Wochen zum Sprachrohr prorussischer Propaganda in Deutschland. Aktuell folgen dem Kanal etwa 185.000 Accounts. Lipp bringt ihrem vorwiegend deutschen Publikum Kriegspropaganda näher und malt gleichzeitig für ihr russisch- und englischsprachiges Publikum das Bild eines düsteren Deutschlands ohne Meinungsfreiheit. Wie es dazu kam, lesen Sie hier

Alina Lipp im Donbass
Alina Lipp wurde mit ihre Telegram-Kanal „Neues aus Russland“ innerhalb weniger Wochen zum Sprachrohr des Kreml in Deutschland (Quelle: Telegram; Screenshot: CORRECTIV.Faktencheck)

Neben Newcomerinnen wie Lipp mischen auch alte Bekannte der Desinformations-Szene mit. Unsere Analyse im März zeigt: Viele Kanäle von Corona-Kritikern halten die westliche Berichterstattung und die Schuldzuweisungen an Putin für unglaubwürdig. Manche sehen den Krieg als weiteren Teil einer großen Verschwörung, Stichwort „Great Reset“. Einige wenige verurteilen Russland explizit. Dass Putin das „Treiben vor seiner Haustür“ nicht tolerieren könne, speziell was die Ausdehnung der Nato betreffe, bleibt jedoch eine verbreitete Haltung. Wir widmeten der vermeintlichen Kontroverse um die Erweiterung der Nato nach Osten und dem angeblichen Wortbruch des Westens eine eigene Recherche.

Was steckt hinter Putins Narrativ von „Nazis“ in der Ukraine?

Die Namen des Bataillons Asow und des ukrainischen Nationalisten Stepan Bandera sind wohl mittlerweile vielen Menschen geläufig. Sie stehen für eines der weitverbreitetsten prorussischen Narrative, mit dem Putin den Krieg rechtfertigen will: Die angebliche Entnazifizierung der Ukraine. Der Kreml und seine Anhänger werden nicht müde, das Land als von Faschisten und Neonazis regiert darzustellen. Was dahinter steckt, haben wir in einem Hintergrundbericht ausführlich zusammengetragen.

Unbestritten ist, dass es in der Ukraine – wie auch in Deutschland und Russland – Neonazis gibt. Die Debatten im Netz sind jedoch gespickt mit manipulierten Bildmontagen oder falschen Behauptungen. So wurde beispielsweise ein Video gefälscht, das belegen soll, ukrainische Fußballfans hätten „Sieg Heil“ auf ein Plakat bei der Fußball-WM in Katar geschmiert. Eine Zeichnung davon schafft es vermeintlich auf das Cover von Charlie Hebdo – ebenfalls eine Fälschung. Ein Aufnäher auf der Jacke des ukrainischen Präsidenten zeige ein Nazi-Symbol, heißt es fälschlich. Was jedoch stimmt: Ein General der ukrainischen Armee posierte tatsächlich vor einem Gemälde von Stepan Bandera.

Die Propaganda wirkt, wie ein Bericht des Center für Monitoring, Analyse und Strategie (Cemas) zeigt. Einer Umfrage in Deutschland zur Aussage „Der Krieg in der Ukraine war notwendig, um dort die faschistische Regierung zu beseitigen“, stimmten im Oktober 2022 neun Prozent der Befragten zu; im April waren es noch fünf (PDF, Seite 5). 

Im April geraten auch Christian Lindner, Karl Lauterbach und Olaf Scholz ins Fadenkreuz russischer Desinformation: Ihnen wird eine falsche Nazi-Vergangenheit angedichtet. Die Spur führte zu einem bekannten russischen Oligarchen, der sich kürzlich mit der Gründung der „Trollfabrik“ Internet Research Agency brüstete. 

Im Video: Nazi-Großväter deutscher Politiker? Die Lügen eines russischen Oligarchen

Vorwürfe einer Inszenierung erreichen traurigen Höhepunkt in Butscha

Manche Narrative wirken angesichts des fortlaufenden Krieges geradezu grotesk. Zum Beispiel, wenn es heißt, Verletzungen von ukrainischen Bürgerinnen und Bürgern seien inszeniert – angeblich alles nur Schminke, Szenen gespielt von Schauspielerinnen. Echtes Leid wird so als Inszenierung abgetan. Einen traurigen Höhepunkt erreicht dieses Narrativ mit dem Massaker in Butscha. Mehrfach wird versucht, die Bilder von Leichen aus dem Kiewer Vorort als Inszenierung der Ukraine darzustellen (unsere Faktenchecks zu Butscha lesen Sie hier, hier, hier und hier). 

Auch Medien geraten ins Schussfeuer. Ihnen wird eine verzerrte Berichterstattung vorgeworfen. Die Belege dafür? In vielen Fällen werden Medienberichte gefälscht oder aus dem Kontext gerissen (zum Beispiel hier oder hier). Eine beliebte Masche der Desinformation – die oft nicht auf den ersten Blick zu entlarven ist und so mit einfachen Mitteln Unsicherheit stiftet.

Teilweise nähren aber auch tatsächliche politische Vorkommnisse in der Ukraine Desinformation rund um das Narrativ einer „Inszenierung“ – wie der Fall um Lyudmila Denisova. Die Menschenrechtsbeauftragte wird Ende Mai vom ukrainischen Parlament entlassen, nachdem berechtigte Zweifel an ihren Schilderungen über Fälle sexualisierter Gewalt durch russische Soldaten bekannt wurden. Denisova sprach von Fällen, die sie nicht belegen konnte. Doch: Dass es solche Vorfälle gab oder gibt, ist nicht strittig, sie wurden unter anderem von den Vereinten Nationen dokumentiert.

Verwüstung in Butscha zeigen Folgen des Kriegs
Bilder der Verwüstung in der ukrainischen Stadt Butscha gingen um die Welt (Quelle: Picture Alliance / Associated Press / Rodrigo Abd)

Humanitäre Hilfe und Waffenlieferungen an die Ukraine als Vorlage für Desinformation im Krieg

Länder weltweit bekunden seit Beginn des Krieges ihre Solidarität mit der Ukraine. Sie beschließen finanzielle Hilfspakete, liefern Waffen. Beides bietet eine Vorlage für irreführende Behauptungen über die Veruntreuung von Geldern und über Waffen, die angeblich auf dem europäischen Schwarzmarkt landen. Fest steht: Die Ukraine hat seit Jahren ein Korruptionsproblem, 2022 landete sie auf dem weltweiten Korruptionsindex von Transparency International auf Platz 116 von 180. Zum Vergleich: Russland lag auf Platz 137 und Deutschland auf Platz 9. 

Ein tatsächlicher Korruptionsfall rund um die Lieferung von Lebensmitteln wird Anfang 2023 bekannt. Andere Erzählungen über eine Veruntreuung von Hilfsgeldern entpuppen sich als aus dem Zusammenhang gerissene Zitate oder internationalen Organisationen zugeschriebene, aber erfundene Berichte (hier und hier). 

Zunehmende Waffenlieferungen schüren darüber hinaus Sorge vor Waffenschmuggel. Der Frage, ob es berechtigte Sorgen gibt, dass an die Ukraine gelieferte Waffen in falsche Hände geraten, haben wir uns im Oktober ausführlich gewidmet. Die vermeintlichen Belege dafür weisen zahlreiche Ungereimtheiten auf, die Spur führt ins Darknet und zu prorussischen Telegram-Kanälen. Erzählungen dazu entpuppen sich immer wieder als falsch oder unbelegt – wie zum Beispiel im November eine Geschichte aus Finnland.  

Desinformation zum Thema schafft es auch bis in den Norden Deutschlands. In Bremen seien Stinger-Raketen aufgetaucht, die für die Gegenoffensive in Charkiw bestimmt waren. Die Geschichte: erfunden, ein dazu kursierendes Video manipuliert. Der Fall offenbart eine weitere Masche: Mit gefälschten Briefe von Politikern sollte gezielt Desinformation gestreut werden – auch hier führt die Spur zu prorussischen Hackergruppen. 

Sanktionstracker – Alle Sanktionen gegen Russland im Live-Überblick

Friedrich Merz greift Gerücht über ukrainischen „Sozialtourismus” auf

Eine der größten Desinformationsoperationen beginnt im Mai. Mit Fälschungen von mehr als 60 Webseiten großer Medien werden Fakes über die Ukraine verbreitet. Darunter sind täuschend echt wirkende Imitate vom Spiegel, Süddeutscher Zeitung, Tagesspiegel und der Bild. Das Ziel: Über gefälschte Nachrichtenartikel Stimmung gegen die Ukraine und ukrainische Geflüchtete in Europa schüren. Mehrere europäische Länder sind betroffen – allen voran Deutschland. 

Schon früh wird Stimmung gegen die Menschen gemacht, die aus der Ukraine nach Deutschland fliehen. Es wird fälschlich behauptet, sie würden ihre Unterkünfte anzünden oder verwüsten, dürften früher in Rente gehen als Deutsche, würden bei der KFZ-Versicherung bevorzugt oder bekämen 500 Euro Begrüßungsgeld. Eine erfundene Anekdote über eine ukrainische Frau, die beim Frisör nicht zahlen wollte, macht in Sachsen die Runde. Auf Tiktok heißt es, auf Mallorca würden Hotels mit deutschem Steuergeld für ukrainische Geflüchtete umgebaut, oder dass die Bundesregierung einen Solidaritätszuschlag für die Ukraine eingeführt habe. Viele kleine Falschbehauptungen tragen kontinuierlich dazu bei, Hass auf geflüchtete Menschen zu schüren. 

Die gänzlich unbelegte Behauptung, Ukrainerinnen und Ukrainer würden „Sozialtourismus“ betreiben – also kurz einreisen, Hartz IV beantragen und zurück in die Heimat fahren – wurde sogar kurzzeitig von CDU-Chef Friedrich Merz verbreitet. 

Eine besonders perfide Behauptung macht zudem im März in Nordrhein-Westfalen die Runde. Ukrainische Geflüchtete hätten einen russischsprachigen Jugendlichen in Euskirchen „zu Tode geprügelt“. Der Fall ist frei erfunden. Tatsächlich gibt es aber mehrere Berichte über echte anti-russische Vorfälle. Zum Beispiel als im März eine Münchner Klinik keine russischen Menschen mehr behandeln wollte. Oder das Schreiben einer Bäckereikette aus Baden-Württemberg, die „Russischen Zupfkuchen“ umbenennen wollte. Beide Fälle lösten nach Bekanntwerden Empörung aus und führten zu Entschuldigungen. 

Einmal etabliert, werden die Narrative immer wieder bedient. Und sie wirken, vor allem bei denjenigen, die verunsichert sind. Deshalb bleiben wir am Ball und recherchieren weiter zu Falschmeldungen rund um den russischen Angriffskrieg. Sie wollen uns dabei unterstützen? Dann schicken Sie uns Hinweise zu potenziellen Falschbehauptungen per Whatsapp an die Nummer +49-151-17535184 oder nutzen unser Online-Formular. Tipps zum Umgang mit Desinformation und Verschwörungstheorien im Angriffskrieg gibt es auch bei der Amadeu-Antonio-Stiftung.

Redigatur: Matthias Bau, Uschi Jonas

Update 27. Februar 2023: Wir haben in einer Bildunterschrift verdeutlicht, dass die Uhren im abgebildeten Foto von uns gedreht wurden, um die Uhrzeit besser zu erkennen.