SWR-Interview über Bürgergeldanspruch von Ukrainern in Tübingen sorgt immer noch für Wirbel
Am Beispiel Tübingen spricht der CDU-Politiker Joachim Walter in einem Interview über den Bürgergeldanspruch von Geflüchteten aus der Ukraine. Eine vierköpfige Familie bekäme dort über 3.200 Euro. Das regt viele auf. Doch einem kurzen Ausschnitt des Interviews, der online kursiert, fehlt Kontext.
In den vergangenen Wochen und Monaten kursierten immer wieder falsche oder verkürzte Aussagen über das Bürgergeld. Dazu gehört auch ein Videoausschnitt aus einem Interview des Radiosenders SWR1 von September 2023. Darin rechnet der CDU-Politiker und Tübinger Landrat Joachim Walter vor, wie viel Geld eine vierköpfige ukrainische Geflüchtetenfamilie erhalte.
Walter sagt, eine vierköpfige Familie bekomme 1.930 Euro plus Miete. Die liege für eine 90-Quadratmeter-Wohnung in Tübingen kalt bei 959 Euro. Inklusive Heiz- und Betriebskosten seien es 1.283,90 Euro. Insgesamt also 3.213,90 Euro.
Moderatorin Nicole Köster ergänzt, das Schwäbische Tagblatt habe zudem vom Jobcenter erfahren, das Ende Juli 2023 von knapp 1.300 erwerbsfähigen ukrainischen Geflüchteten, die beim Jobcenter gemeldet waren, 30 Menschen einem regulären Job nachgehen würden. Dann fragt sie Joachim Walter: „Wundert Sie das?“ Der antwortet: „Nein, bei den Sätzen kann es einen nicht wundern.“ So lege Deutschland die Menschen in die „soziale Hängematte“.
Auf X wurde ein Beitrag mit dem zweiminütigen Video rund 500.000 Mal gesehen. Online sorgte der Ausschnitt für Empörung: „Das ist ein Skandal. Wahrscheinlich netto und krankenversichert“, schreibt ein Nutzer. „Dafür sollen wir dann bis 70 malochen. Der Fachkräftemangel“, schreibt ein anderer. Nutzerinnen und Nutzer schickten uns das zweiminütige Video auch Monate später noch auf Whatsapp und fragten nach der Richtigkeit. Wir ordnen die Aussagen ein.
Tübinger Landrat Joachim Walter gibt Zahlen korrekt wieder
Der Ausschnitt aus dem Video ist Teil eines 42-minütigen Interviews, das der SWR am 29. September 2023 unter dem Titel „Joachim Walter: Überfordert die Zahl der Flüchtlinge Baden-Württemberg?“ veröffentlichte. Der Ausschnitt, der auf X geteilt wurde, findet sich darin bei Minute 22:16.
Wir haben uns zunächst angesehen, ob die Aussagen von Walter und Köster korrekt sind. Um herauszufinden, welche Wohnungen in Tübingen für Bürgergeldempfänger als angemessen gelten, haben wir die zuständige Arbeitsagentur Reutlingen kontaktiert. Von dort schrieb uns Pressesprecher Thorsten Nebe: „Die angesprochene Wohnungsgröße und auch die Kaltmiete für einen 4-Personen-Haushalt liegt exakt im Rahmen der Angemessenheit in Bezug auf eine Wohnung in der Stadt Tübingen.“
Lediglich bei der Höhe des Bürgergeldes unterlief dem Landrat im Interviewausschnitt ein Fehler. Er sagte, ein Haushaltsvorstand bekomme 563 Euro Bürgergeld. Das ist jedoch nur dann richtig, wenn es sich um eine alleinerziehende Person handelt. Beziehen beide Partner Bürgergeld, bekommen sie 506 Euro. Auf diesen Fehler wies uns auch Martina Guizetti, Pressesprecherin des Landratsamt Tübingen, hin und schrieb: „Herr Walter [hat] versehentlich bei der ersten Zahl einen falschen Betrag genannt (563 Euro Haushaltsvorstand) und diesen später korrigiert (Ehemann und Ehefrau ab 2024 je 506 €).“
Wie viele vierköpfige Familien aus der Ukraine gibt es in Tübingen?
Unklar bleibt bei dem Beispiel, wie viele vierköpfige Familien aus der Ukraine es im Landkreis Tübingen überhaupt gibt. Und, wie sie untergebracht sind. Mit anderen Worten, aus dem Beispiel geht nicht hervor, ob es sich lediglich um einen Ausnahmefall handelt.
Auf Anfrage teilte uns Thorsten Nebe von der Arbeitsagentur Reutlingen mit, dass laut der Daten, die zum Zeitpunkt des Interviews vorlagen, 1.872 Regelleistungsberechtigte beim Jobcenter des Landkreis Tübingen gemeldet waren. Insgesamt habe es 65 Bedarfsgemeinschaften mit vier Personen gegeben.
Claudia Salden, Pressesprecherin der Stadt Tübingen, teilte uns auf Anfrage mit, dass dort 819 Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine lebten (Stand: 21. März 2024). Davon seien 572 in sogenannten Anschlussunterkünften untergebracht, 82 würden privat wohnen. Bei wie vielen davon es sich um vierköpfige Familie handele, wisse man nicht.
Normalerweise würden Menschen aus der Ukraine für sechs Monate in einer vorläufigen Unterbringung leben – das seien typischerweise Gemeinschaftsunterkünfte – bevor sie eine Anschlussunterkunft bekämen. Bei der „Anschlussunterbringung“ bestehe kein privatrechtliches Mietverhältnis, so die Auskunft der Stadt. „Es fällt eine Nutzungsgebühr für diese Unterkunft an und keine Miete. In der Nutzungsgebühr (Aufgrund der aktuellen Satzung) sind auch die Nebenkosten sowie die Verwaltung und Betreuungskosten enthalten.“ In Tübingen betreibe man „keine Gemeinschaftsunterkünfte, sondern nur einzelne Wohnungen bzw. auch WGs“. Wenn Menschen die Kosten dafür nicht selbst bezahlen können, werden sie durch das zuständige Amt übernommen.
Die Gebührenhöhe ist in der „Satzung über die Benutzung und über die Erhebung von Gebühren der Unterkünfte der Universitätsstadt Tübingen für Wohnungslose und Geflüchtete“ festgelegt. Dort heißt es (Seite 8), dass die Benutzungsgebühr für Wohnungen und Räume für Geflüchtete 11,03 Euro pro Quadratmeter beträgt. Die Nebenkostenpauschale beträgt 5,63 Euro pro Quadratmeter. Dazu schreibt uns die Stadt: „Die Stadt berechnet die Gebühren annähernd kostendeckend und zieht dabei Vergleichsmieten heran.“
Zur Durchschnittsmiete in Tübingen schreibt die Webseite „Immoportal“: „In den beliebtesten Lagen werden Mietpreise von durchschnittlich 30,42 Euro pro Quadratmeter aufgerufen und in günstigen Lagen beträgt die Miete pro qm 13,42 Euro in Tübingen.“ Der Immobilienmakler „Engel und Völkers“ gibt die Durchschnittsmiete in Tübingen mit 15,57 Euro an. Normale Wohnungen sind also teurer als solche, die die Stadt für Geflüchtete bereitstellt.
So viele ukrainische Geflüchtete arbeiteten in Tübingen
Moderatorin Nicole Köster beruft sich bei Ihren Aussagen auf das Schwäbische Tagblatt. Wörtlich sagt sie: „Das Schwäbische Tagblatt zitierte dazu das Jobcenter, das Ende Juli wohl erklärt hatte, dass von knapp 1.300 erwerbsfähigen Ukrainern, die beim Jobcenter gemeldet sind, 30 Menschen einem regulären Job nachgehen“. Damit bezieht sie sich mutmaßlich auf einen Artikel, der am 20. Juli 2023 online beim Schwäbischen Tagblatt und am 21. Juli in der gedruckten Ausgabe der Zeitung erschien.
In dem Artikel heißt es unter Verweis auf das Jobcenter Tübingen, dass von 1.300 erwerbsfähigen Geflüchteten aus der Ukraine 116 in eine Arbeitsstelle oder Ausbildung vermittelt werden konnten. Davon 30 seit Jahresbeginn. Dass das Schwäbische Tagblatt diese Zahlen korrekt wiedergab, bestätigte uns Thorsten Nebe von der Arbeitsagentur Reutlingen auf Anfrage.
Auf unsere Frage, wieso dieser ausführlichere Kontext in der Sendung nicht zur Sprache komme, schrieb uns Nicole Köster, jede Form der journalistischen Darstellung sei ein Ausschnitt. „Die gesellschaftliche Komplexität und Vielfalt in allen Facetten darzustellen“ sei „wohl schlicht unmöglich“.
Interviewausschnitt aus SWR-Gespräch manipulativ gewählt
Weiter schrieb sie uns: „Themen wie die Situation von Geflüchteten lösen immer wieder Reaktionen des Publikums aus und können leicht aus dem Zusammenhang gerissen werden. Und sie können, so wie wohl in der Sendung mit Joachim Walter passiert, in Social-Media-Kanälen verbreitet werden.“
Genau das ist bei dem Interviewausschnitt ein Problem: Er ist so gewählt, dass wichtiger Kontext fehlt und so Stimmung gegen Bürgergeldbeziehende aus der Ukraine gemacht werden kann.
Ein Beispiel: Ab Minute 10:52 im vollständigen Interview erklärt Joachim Walter, dass es verschiedene Hindernisse für die Integration von Geflüchteten in den Arbeitsmarkt gebe. Als Beispiele nennt er die Zahl der Deutschkurse, die nicht ausreichend sei, die überbordende Bürokratie und die Erwartungshaltung, dass Menschen perfektes Deutsch sprechen können müssten, um in einen Betrieb gehen zu können. Auch mit der Anerkennung von Berufsabschlüssen, die im Ausland erworben wurden, tue man sich zu schwer.
Schwäbisches Tagblatt berichtete über Integrationshindernisse
Diese Gründe werden auch vom Schwäbischen Tagblatt ausführlich dargelegt. Dort heißt es zur Einordnung beispielsweise, dass von den 1.951 Menschen, die zum damaligen Zeitpunkt beim Jobcenter gemeldet waren, 621 Kinder, 908 Frauen und 420 Männer gewesen seien. Ein Hauptgrund für die geringe Integration in den Arbeitsmarkt sei die „bittere Situation bei der Kinderbetreuung rund um Tübingen und Reutlingen“.
„Viele Personen bekommen Probleme, überhaupt an den Sprachkursen teilzunehmen, weil sie keine Betreuung finden“, zitiert die Zeitung Sabrina Lamnek vom Tübinger Jobcenters. Die Sprachkurse seien aber häufig nötig, um überhaupt einen Job zu finden. Um Grundkenntnisse der deutschen Sprache zu erwerben, müssten die Geflüchteten für bis zu ein Jahr bis zu fünf mal in der Woche für fünf Stunden die Kurse besuchen. Da Dozierende für die Kurse fehlten, könne man weniger Menschen Deutsch beibringen, als möglich wäre, so Lamnek weiter. Dass nur ein geringer Teil der erwerbsfähigen Geflüchteten in Arbeit vermittelt werden können, ist also eine Folge struktureller Probleme.
Auch dieses Thema ist Teil des Gesprächs zwischen Walter und Köster, im Ausschnitt auf X wird das aber nicht ersichtlich. Über den Kitanotstand in Deutschland und dessen Folgen berichtete CORRECTIV.Lokal im November 2023. Wie Sie sich selbst an der Recherche beteiligen können, erfahren Sie hier.
Im August und September 2023 verbreiteten sich viele falsche oder verkürzte Nachrichten über den Bürgergeldbezug von Geflüchteten, insbesondere aus der Ukraine. Mehr lesen Sie hier und hier.
Einen Überblick mit allen Faktenchecks von uns zum Krieg in der Ukraine finden Sie hier.
Redigatur: Steffen Kutzner, Sophie Timmermann