Dündars Brücke
Der neue Film von Can Dündar über den Putsch in der Türkei ist auch ein Meilenstein in seiner Zusammenarbeit mit CORRECTIV
Diese Geschichte beginnt in Hamburg, an einem Buffet. Irgendjemand soll in wenigen Minuten eine Rede halten. Ich hole mir noch schnell ein paar Häppchen, bevor es losgeht. Ich habe Hunger. Plötzlich steht ein Mann neben mir mit lachenden Augen. Er angelt sich ein Spieß mit Tomaten und Mozzarella und schaut sich um. Ich zeige auf die leckeren Hühnchenspieße, er zwinkert zurück und deutet mit seinem Kinn auf eine Sauce. Wir grinsen und kommen ins Gespräch – auf Englisch. Wir machen Witze über große Reden, den kleinen Partyhunger und warum Rotwein manchmal hilft.
Der Mann mit den lachenden Augen ist etwas älter als ich, elegant. Er hat einen weißen Vollbart und lockige, lange Haare. Er sagt, er kommt aus der Türkei. Ich habe ein paar Monate zuvor versucht, mit einem Kollegen ein kleines Rechercheprojekt dort zu stemmen. Wir reden jetzt über die Schwierigkeiten großer investigativer Recherchen, über Repression in Istanbul und wie kompliziert es ist, gute Leute zu finden. Er wird ernst – und gleich wieder lustig. Kleine Scherze lockern den Frust auf. Dann muss er weiter. Ich frage ihn noch nach seiner Karte, falls wir von CORRECTIV in der Türkei aktiv werden, vielleicht können wir dann was zusammen machen? Der Mann zögert keine Sekunde. Ich lese „Can Dündar – Chefredakteur Cumhuriyet.“
Das Buffet wurde an einem Abend im Frühsommer 2016 ausgerichtet. Can Dündar wurde ein halbes Jahr zuvor wegen des Verdachts der Spionage in der Türkei festgenommen. Er hatte darüber berichtet, dass der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan Waffen an Islamisten in Syrien liefern ließ. Im Frühjahr desselben Jahres kam Can frei, überlebte ein Attentat und musste nach Europa flüchten. Wenige Wochen später besetzten Putschisten in Istanbul die Brücke zwischen Europa und Asien und besiegelten mit ihrer Niederlage das Schicksal ihres Landes auf Jahre.
Ein Film trotz aller Widerstände
Fast fünf Jahre später sitzen Can und ich in Berlin im Büro von CORRECTIV, es ist Winter. Das Corona-Virus zwingt unser Land in den Stillstand. Wir schauen einen Film an. Es ist Can Dündars erster Dokumentarfilm in Deutschland; und es ist der erste 45-minütige Dokumentarfilm, den CORRECTIV ko-produziert hat.
Der Film zeigt seine investigative Recherche über eben diese Nacht des gescheiterten türkischen Putsches. Die Nacht, in der Erdoğan die Macht vollständig an sich reißen und den Einfluss des Militärs brechen konnte.
Can musste für diesen Dokumentarfilm Unmögliches möglich machen. Er musste in der Türkei filmen, ohne vor Ort sein zu können. Er musste die Aufnahmen der Sicherheitskameras an der Brücke und die Inhalte der Ermittlungsakten in die Hände bekommen, ohne mit den Behörden sprechen zu dürfen. Can musste für einen deutschen Film zu deutschen Konditionen Regie führen, ohne deutsch zu sprechen. Er musste in der Corona-Krise eine Herkules-Aufgabe bewältigen.
Dann, kurz vor Fertigstellung des Film, ein Paukenschlag aus der Türkei: ein Erdoğan- höriges Gericht verurteilte Can zu 18 Jahren und 9 Monaten Haft wegen Spionage und zu weiteren 8 Jahren und 9 Monaten wegen Terrorunterstützung.
Can hat alle Hürden überwunden. Sein Film „Kampf auf der Bosporus-Brücke – Die Türkei und der gescheiterte Putschversuch“ ist ein Meilenstein in der Berichterstattung über die Türkei. Er erläutert die Hintergründe des Putsches, erklärt den Weg, der zum Konflikt führte; und zeigt Schuldige und Opfer, ohne zu verurteilen. Der Film ist ein Wendepunkt. Er räumt mit Vorurteilen und mit Verschwörungstheorien auf. Er ist nah und ehrlich, ohne zu vereinnahmen. Der Film rekonstruiert erstmals die Nacht des Putsches: anhand von Zeugenaussagen, Gerichtsprotokollen und exklusiven Videoaufnahmen aus der Nacht. Ein Meisterwerk, entstanden unter extremem Druck. Die Dokumentation wird am 22. Januar um 20:15 Uhr auf ZDFInfo gezeigt (vorab in der ZDFMediathek).
Starkes Zeichen: Die neue Redaktion im Exil
Damit Can diesen Film machen konnte, mussten wir gemeinsam einen langen Weg zurücklegen. Es begann kurz nach dem Putsch, wenige Wochen nach unserem ersten Treffen in Hamburg. Can kam gemeinsam mit dem Geschäftsführer von Reporter ohne Grenzen, Christian Mihr, in unser Büro in Berlin.
Nach dem gescheiterten Putsch ging Erdoğan mit aller Härte gegen seine Gegner vor, echte und vermeintliche. Er nutzte die Gunst der Stunde, um seine Macht in einem Referendum zu zementieren. Wer nicht für Erdoğan war, war gegen ihn. Eine Unterdrückungswelle ging wie ein Tsunami auch über die türkischen Medien nieder. Etliche Reporter flohen nach Deutschland. Viele von ihnen nach Berlin.
Wir beschlossen, gemeinsam mit Can eine Redaktion zu gründen. Damit Can und später seine geflohenen Kollegen weiter arbeiten konnten. Damit die türkische Gesellschaft weiter Zugang zu unabhängigem Journalismus hatte. Damit die Propaganda der türkischen Regierungspartei AKP auch in Deutschland nicht unwidersprochen bleibt, die hier auf die türkischstämmige Gemeinschaft in Deutschland zielt. Wir nannten unser gemeinsames Projekt #ÖZGÜRÜZ: Das ist türkisch und bedeutet: „Wir sind frei.“
Wir machten uns an die Arbeit: bauten unser kleines TV-Studio um, richteten eine Webseite sowie eine Struktur für die Gewinnung und Verwaltung von Spendengeldern für #ÖZGÜRÜZ ein. Unsere Programmierer rätselten, wie man all das auf Türkisch macht.
Am 24. Januar 2017 gingen wir online. Dieser Tag ist ein besonderes Datum. Er markiert eine Tradition, in die wir uns stellen wollten. An diesem Tag im Jahr 1993 wurde der türkische Investigativ-Journalist Uğur Mumcu ermordet. Er recherchierte zu Korruption, Waffenschmuggel und Islamismus. Er schrieb für „Cumhuriyet“, ebenso wie Can bis zu seiner Vertreibung. Mumcus Mörder wurden nie gefasst.
Unsere türkischen Kollegen interviewten in unserem Berliner Studio Experten, analysierten Entwicklungen in Politik und Wirtschaft der Türkei, schalteten live zu Gerichtsverhandlungen und Protesten. In Deutschland, in der Türkei. Die Redaktion platzte schon vorher aus allen Nähten. Jetzt waren wir zwei Teams in den Räumen von CORRECTIV, die türkischen Kollegen sendeten jeden Tag live. Auch wenn es viel zu klein war, fühlte sich unsere Redaktion in jenen Monaten groß an: Der Mut und Elan, der von den Kolleginnen und Kollegen ausging, um weiter zu senden, zu informieren.
Fünf Jahre später konnte Can dank der Erfahrungen und der Arbeit mit #ÖZGÜRÜZ seinen ersten Dokumentarfilm im Ausland über die wichtigste Nacht in seiner Heimat vollenden. Wir fanden mit Tim Klimeš, damals Geschäftsführer der AVE Publishing, einen außergewöhnlichen Produzenten, der bereit war, mit uns die Reise anzutreten und uns über die vielen Probleme hinweg zu helfen. Gemeinsam haben wir etwas Außergewöhnliches geschafft. Özgürüz konnte weiter existieren – und wir konnten weiterarbeiten.
Immer am seidenen Faden
Gerade am Anfang war es für #ÖZGÜRÜZ schwer. Fast nichts von dem, was wir von den Strukturen bei CORRECTIV kannten und auf #ÖZGÜRÜZ übertragen wollten, funktionierte zu Beginn. Die Webseite wurde in der Türkei schon zensiert, bevor sie überhaupt veröffentlicht war. Es gibt in Deutschland keinen Vertrieb für türkischsprachige Medien, den wir zur Verbreitung unserer Nachrichten hätten nutzen können. Unterstützer wollen Geld oft nur anonym spenden, aber CORRECTIV steht für Transparenz.
Auch die Finanzierung des Projektes war anfangs besonders gefährdet: Anders als geplant können Unterstützer aus der Türkei praktisch nicht spenden, weil sie mit Repression rechnen müssen. Can ist in der Türkei als Verräter gebrandmarkt. Sein Eigentum wurde beschlagnahmt. Im Fernsehen wurde live übertragen, wie Bagger sein Haus demolierten.
Doch wir wollten alles versuchen, um #ÖZGÜRÜZ zu stabilisieren. Immer wieder fanden wir Untersützer, die uns großzügig halfen und uns weiteren Atem verliehen.
Für uns war es schwierig, Mitarbeiter für #ÖZGÜRÜZ zu finden. In der Türkei – wie in Berlin. Nur mit viel Mühe bekamen wir eine Gruppe zusammen: Exil-Journalisten, Studierende, engagierte Menschen.
Natürlich kam es zu Konflikten. Zwei Mal kündigten Mitarbeiter, indem sie einfach aus der Redaktion rannten. Da war der Stress des Exils. Da war die politische Herausforderung, sich gegen die Einführung einer Präsidialdiktatur zu stemmen. Da waren die vielen heftigen Lebensumbrüche bei einem Start in einem fremden Land. Die Verwandten, die zurückgelassenen Frauen, Männer – und Kinder. Kulturen prallten aufeinander. Es ging um die nackte Existenz – und um die komplizierte deutsche Welt mit vielen, für Neuankömmlinge kaum zu verstehenden Regeln. Behörden laden zum Gespräch zu Uhrzeiten wie 13:18 Uhr. Und die Beamten meinen es mit der Pünktlichkeit ernst.
Flucht übers Meer, Angriffe auf die Redaktion: Der Alltag ist ein anderer
Can’s Frau Dilek wurde in der Türkei jahrelang als Geisel gehalten. Sie durfte das Land nicht verlassen, um ihren Mann und ihren Sohn Ege wieder zu sehen. Sie wurde beschattet, aus der Arbeit gedrängt, belästigt; weil ihr Mann für die Freiheit eintrat. Dilek ist eine starke Frau. Als der Attentäter vor dem Istanbuler Gericht auf Can schoss, stürzte sie sich auf den Angreifer, konnte ihn überwinden. Sie konnte aus Istanbul fliehen, allein. Gelangte mit einem kleinen Boot auf eine griechische Insel und weiter nach Berlin. Ihre Flucht befreite Cans Hände. Er konnte sich nun endlich um den die Rekonstruktion des Putsches kümmern. Wir halfen einander, wo wir konnten: Gemeinsam trieben wir Förderer auf, teilten unsere Ausrüstung, unsere Autos, unsere Büros.
Und wir mussten ungebetene Besucher aushalten. Eines Tages tauchte das Team eines Erdoğan-treuen Fernsehsenders vor der Redaktion auf. In ihrem einige Tage später ausgestrahlten Bericht beschrieben sie genau, wo unsere Redaktion zu finden ist und von wann bis wann Can anwesend sei. Die Schnitte erinnerten an Explosionen. Der Film erschien wie eine Gebrauchsanweisung zur Gewalt. Hier lohnt es sich zu bomben. Unser Kollege Frederik Richter ging vor die Tür, um mit den Journalisten und einem dazu gerufenen Polizisten zu reden. Sie filmten weiter; in dem Bericht wird der CORRECTIV-Reporter mit einem roten Pfeil als angeblicher „Assistent Can Dündar“ an den Pranger gestellt. Einem Kollegen zu helfen, der sein Land verlassen musste: das ist für uns kein Pranger. Das ist unsere Arbeit. Bis heute steht Can unter dem Schutz der Berliner Polizei.
Eine alte und immer noch effektive Exil-Strategie: Wir machen Radio
Doch der Film, der nun erscheint, die Dokumentation über die Nacht des gescheiterten Putsches in der Türkei, macht klar, warum sich das Projekt #ÖZGÜRÜZ gelohnt hat. Warum es sich erneuern und immer wieder verändern musste. Und wie es wuchs. Heute betreiben wir neben unseren Özgürüz-Kanälen auf Social Media ein Webradio unter ozguruz.org gemeinsam laden wir Gästen ein: Wissenschaftlern und Ökonomen. Wir berichten über Demonstrationen und Gerichtsprozesse, sprechen mit den Angehörigen von Verhafteten, berichten über Themen aus Wirtschaft, Gesellschaft und Umwelt.
Ein paar Eindrücke unserer gemeinsamen Arbeit:
Ein Verhafteter berichtete live aus dem Gefangenenwagen, in dem er bei Protesten in der Türkei gesperrt und abtransportiert wurde.
#ÖZGÜRÜZ war als einziges Medium live dabei, als die Büros der kurdischen Oppositionspartei HDP durchsucht wurden.
Wir ließen die Verwandten eines türkischen Soldaten zu Wort kommen, der von IS-Terroristen in Syrien bestialisch ermordet wurde – und dessen Schicksal Erdoğans Regierung vertuschen wollte.
Gemeinsam enthüllten wir die Pläne für eine neue Panzerfabrik in der Türkei, von der die deutsche Politik nichts wissen wollte.
Wir berichteten über geheime Foltergefängnisse Erdoğans.
Özgürüz: Wir sind frei.
Unsere Berichte erreichen seit 2017 jedes Jahr Millionen Menschen in der Türkei und in Deutschland.
Und nun Cans Dokumenation über die Nacht des Putsches. Die Bilder des Films sind manchmal verstörend. Wenn nichtsahnende Soldaten in einen Kampf geschickt werden, der nicht ihrer ist. Wenn ein Präsident Männer und Frauen in einen Kampf gegen Panzer schickt.
Can verurteilt nicht. Er berichtet, wie es ein Journalist tun sollte. Ehrlich, nachvollziehbar, menschlich.
Wir setzen uns dafür ein, Journalisten und Journalistinnen zu unterstützen, die im Exil arbeiten müssen, weil die Pressefreiheit in ihrem Land unterdrückt ist.
Der Film „Kampf auf der Bosporus-Brücke – Die Türkei und der gescheiterte Putschversuch“ von Can Dündar läuft am Freitag, 22. Januar, um 20:15 Uhr auf ZDFInfo und vorab ab 21.01. in der ZDFMediathek.