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Zwischen abgehängt und aufgewertet – die zerrissene Stadt

Im nördlichen Ruhrgebiet kann 2017 wieder Politik-Geschichte geschrieben werden: Die AfD will dort besonders punkten. Unser Autor Stefan Laurin ist in Gladbeck aufgewachsen, war politisch aktiv und trifft nun seinen alten Weggefährten. In unserer zweiteiligen Serie beschreibt er, wie er den politischen und wirtschaftlichen Wandel in seiner Geburtsstadt erlebt hat. Und welche Chancen die Rechten im Ruhrgebiet haben könnten.

von Stefan Laurin

© Collage von Ivo Mayr

Lies im 1. Teil – wie alles mit tausend Tastentelefonen anfing.

Vielleicht sind die Gladbecker besonders anspruchslos. So wie Steffi. Mit Steffi war ich früher einmal zusammen. Sie hat dann vor über 20 Jahren Schluss mit mir gemacht. Und als ich sie zufällig auf der Hochstraße, Gladbecks Fußgängerzone, sehe, muss ich neidvoll anerkennen, dass sie sich deutlich besser gehalten hat als ich. Kaum eine Falte im Gesicht und das lange blonde Haar trägt sie auch noch so wie damals.

Sie ist verheiratet, hat zwei Kinder und ist in Gladbeck geblieben. Als ich sie frage warum, zuckt sie nur mit den Schultern. „Wir haben das Haus von den Schwiegereltern übernommen, die Schulen sind gut und mein Mann fährt jeden Morgen mit der Bahn zur Arbeit nach Düsseldorf. Der sagt, das geht schneller als mit dem Auto.“

“Die AfD? Das kann ich mir vorstellen.“

Dass es Gladbeck schlecht geht; dass es kein Kino gibt, die Kaufhäuser zugemacht haben und der Einzelhandel der Stadt ein eher schlichtes Angebot bietet, stört sie nicht: „Zum Einkaufen fahren wir nach Essen, und wenn wir mal ins Kino wollen nach Dorsten.“

Ich frag Steffi, ob sie glaubt, dass viele hier im nächsten Jahr AfD wählen werden. Sie überlegt kurz: „Ja, das kann ich mir vorstellen. Das werden viele hier tun.“ Sie verabschiedet sich. Noch ein Händedruck, dann geht Steffi die Hochstraße entlang Richtung Rathausplatz.

Zerrissene Stadt

Die Politik hat in den vergangenen Jahren versucht, traditionell soziale Brennpunkte aufzuwerten. So ist Brauck, der südlichste Stadtteil, heute auch nicht mehr das „Tal der Messer“, wie wir als Kinder immer sagten. Trotzdem bleiben Schwächen und Verluste. Das Beispiel Gladbeck, zeigt, dass das nördliche Ruhrgebiet keine vollkommen einheitliche Region ist. Wie sollte sie das mit weit über einer Millionen Menschen auch sein?

Die Werber im Finanzamt

Nicht weit vom Rathaus entfernt liegt der Jovyplatz. Hier war früher das Finanzamt, aber das ist schon lange fort. Ein paar Jahre stand das ehemalige Finanzamt leer, der Bau- und Liegenschaftsbetrieb des Landes (BLB) suchte vergeblich einen Käufer für das 3000 Quadratmeter große Gebäude aus der Gründerzeit. Dann kam Uwe Jung mit seiner Agentur C4C und mietete mit seinem „Kreativamt“ das Gebäude. Das ist vier Jahre her und Jung hat das Gebäude inzwischen gekauft.

In seinem großen Besprechungszimmer im ersten Stock erinnert nichts mehr an die muffige Atmosphäre des früheren Finanzamtes. Ich erinnere mich an graue Gardinen, dunkle, kleine Zimmer und einen Gummibaum im Büro meines damaligen Sachbearbeiters.

Die Uniform der Kreativen

Jung trägt die Uniform der  Werber, schwarzes Jacket und schwarzes Hemd und sieht kein Problem mit Gladbeck: „Natürlich ist Gladbeck keine klassische Werberhochburg, aber es ist für uns ein guter Standort. Wir sind schnell bei unseren Kunden, egal ob sie in Köln oder Münster sitzen.“

Immer mehr Firmen hätten sich in den vergangenen Jahren im Kreativamt angesiedelt: Andere Agenturen, Grafiker, Softwarespezialisten. Obwohl auch der Stadt klar war, dass hier nicht hunderte neuer Jobs entstehen, hat sie Jung und seine Mitstreiter unterstützt.

Das Gefühl, erwünscht zu sein

„Wir hatten hier vom ersten Tag an das Gefühl erwünscht zu sein — das kenne ich aus anderen Städten leider ganz anders.“ Letztendlich, sagt Jung, sei der Standort für ihn wirtschaftlich nicht entscheidend. Wichtig sei das Netzwerk. Würde er in Bochum oder Essen sitzen, da ist er sich sicher, hätte er auch nicht mehr Aufträge. Aber wahrscheinlich auch keine so attraktive Immobilie wie das Kreativamt. Jung wird sicherlich nicht AfD wählen.

Pendler- und Schlafstädte

Gladbeck ist nur ein Beispiel. Zwischen A40 und A42 liegen viele die Problemviertel des Reviers: Die Essener Stadtteile Katernberg und Karnap, die Heimat des von der SPD zur AfD gewechselten Guido Reils. Hier liegt der größte Teil Gelsenkirchens und Hernes, die Dortmunder Nordstadt, Duisburg-Hochfeld – all die Stadtteile und Städte, in denen die Arbeitslosigkeit hoch ist und ganze Straßenzüge verkommen.

Gladbeck funktioniert zwar wie viele Städte im nördlichen Ruhrgebiet wirtschaftlich nicht mehr und hat auch wenig urbane Qualität, dafür aber wird sie als Pendler- und Schlafstädte angenommen: Dorsten, Bottrop-Kirchhellen oder Haltern, der Norden-Recklinghausens, Buer sind sozial intakte Vororte der großen Ruhrgebietsstädte. Aber es gibt auch eine andere Seite des nördlichen Ruhrgebiets.

Zu Besuch beim Stubenhocker

Im Gegensatz zum Werbemann Jung, der Gladbeck auf seine Art zu schätzen weiß, ist mein ältester Freund Georg ein Stubenhocker. Wir waren als Kinder zusammen in einer „Bande“, haben später im Café gesessen, wenn wir die Schule blau machten und spielten dann noch ein paar Jahre in einer, nein, in zwei Bands, die vollkommen zu Recht vergessen sind.

Wir sitzen in der Küche des Hauses seines Schwiegervaters und schauen durch das Fenster auf die Felder, die bis zur Bahnlinie reichen, die Gladbeck-Mitte mit Zweckel verbindet.

Im Kindersarg beerdigt

Diese Bahnlinie erinnert mich an eine Geschichte, die mir Georg erzählt hat, als wir beide noch Kinder waren: Ein Junge aus seiner Schule war in einer Mutprobe auf einen Zug geklettert und dabei an die Oberleitung gekommen. Sie haben ihn dann in einem Kindersarg beerdigt, so klein sei er gewesen, nachdem er durch den Stromschlag verkokelt war, hatte Georg damals erzählt. Nun sitzen wir am Küchentisch, rauchen Zigaretten und trinken Filterkaffee aus einer Warmhaltekanne.

Er können nicht viel über Gladbeck sagen, er käme kaum aus dem Haus, sagt Georg. Mal einkaufen, die Kinder zur Schule bringen. Georg arbeitet als Designer von zu Hause aus, seine Frau Martina fährt jeden Morgen nach Essen zur Arbeit.

Ein Netto-Markt ist ein Netto-Markt

„Gladbeck ist so wie alle Städte. Wir machen viel Urlaub in Deutschland, und ein Netto-Markt ist ein Netto-Markt. Ob der im Harz, im Schwarzwald oder in Gladbeck steht ist egal“, sagt Georg. Naja, werfe ich ein, es gäbe ja noch andere Läden als Netto. Buchhandlungen zum Beispiel – als ich es ausspreche, klingt das Argument für mich selbst etwas albern, denn ich kaufe fast alle Bücher bei Amazon, die meisten als E-Books. Und ich wohne keine 200 Meter von einer angeblich hervorragenden Literaturbuchhandlung entfernt, die ich noch nie betreten habe.

Ich zähle weitere Vorzüge der Großstadt auf: Galerien, Boutiquen, Geschäfte mit einer großen Auswahl an Spielzeugen für die Kinder, Kneipen und Cafés. Georg ist vollkommen unbeeindruckt: „Was ich jeden Tag brauche, bekomme ich in Gladbeck. In Kneipen und Cafés gehe ich schon lange nicht mehr. Im Dietzel war ich zuletzt vor zwanzig Jahren.“ Ich sage ihm, dass das Dietzel schon lange zu hat.

Die Türken sind zu selten besoffen

Herbert, der alte Wirt im Dietzel, der nebenbei immer Taxi fuhr, hat mir vor ein paar Jahren vorgejammert, dass in Gladbeck alle Puffs geschlossen hätten, die Zeit der Kneipen auch vorbei sei und es nur noch Türken in der Stadt gäbe. Und die würden kein Taxi fahren, weil sie zu selten besoffen wären.

Ich zeig Georg Fotos von unserer ehemaligen Lieblingskneipe, die ich vor ein paar Tagen mit dem iPhone gemacht hatte: Um die ehemalige Terrasse haben sie einen Bauzaun aufgebaut, Unkraut wuchert, und ein Fenster ist eingeschlagen. An den anderen sind die Rolläden herunter gezogen. Tristesse.

Kein Kino, keine Notapotheke, keine Geburtsstation

„Ein Kino gibt es auch nicht mehr“, sage ich, und Georg interessiert auch das nicht. „Kinos gibt es doch sowieso keine mehr, die haben doch überall zugemacht.“ Nein, erkläre ich ihm, in Bochum hat nicht ein einziges zugemacht, seitdem ich dort wohne. Im Gegenteil: Das schöne, alte Union-Kino hätten sie renoviert. Es ist ihm egal.

Was ihm wirklich fehlt, ist eine Notapotheke. Wenn man Pech hat, muss man am Wochenende nach Gelsenkirchen oder Essen fahren, wenn man Glück hat, hat zufällig eine Apotheke in der Stadt Dienst. Und dass Ende vergangenen Jahres die Geburtsstation im Barbara-Hospital geschlossen hat, die einzige im einzigen Krankenhaus der Stadt, findet er auch schlimm.

„Ich kann mir schon vorstellen, dass viele AfD wählen. Die Leute reden nicht darüber, sie haben Angst“, sagt Greorg. Ich frage, vor wem sie Angst haben. „Vor Leuten wie Euch. Sie wissen, dass ihr Journalisten sie fertig macht, also sagen sie nichts. Aber ehrlich, ich weiß es nicht.“ Georg schüttet Kaffee nach.

In der Wahlkabine aber werden sie frei entscheiden

In Gladbeck, im nördlichen Ruhrgebiet ist eine Gemengelage entstanden, die für die AfD ideal ist: Perspektivlosigkeit, Fremdenfeindlichkeit und soziale Probleme. Viele der betroffenen Stadtteile sind alte sozialdemokratische Hochburgen — heute zeichnen sie sich durch eine niedrige Wahlbeteiligung aus.

Während zum Beispiel im bürgerlich geprägten südlichen Landtagswahlkreis Essen I bei der vergangenen Landtagswahl 69,7 Prozent aller Wahlberechtigten ihre Stimme abgaben, waren es im nördlichen Landtagswahlkreis Essen II nur 53,7 Prozent. In solchen Stadtteilen hat die AfD ein großes Wählerpotential. Ihr könnte es gelingen, Menschen zu überzeugen, die schon lange nicht mehr gewählt haben oder früher zur SPD gingen.

Der Parteiwechsler Guido Reil ist mit seinen Ansichten hier nicht alleine. Im Januar vergangenen Jahres wollten mehrere SPD-Ortsvereine im Essener Norden gegen den Zuzug von Flüchtlingen demonstrieren. Nur mit viel Druck gelang es der nordrhein-westfälischen Parteispitze, sie davon abzuhalten. In der Wahlkabine aber werden sie frei entscheiden können — und möglicherweise der AfD ihre Stimme geben.

Ein besonderer Ort — weil er in Gladbeck liegt

Thorsten Nagel und ich kennen uns seit langer Zeit, aber wir hatten nie viel miteinander zu tun, als ich noch in Gladbeck wohnte. Dann kam Facebook, und seitdem liken wir uns und kommentieren immer mal wieder die Beiträge des anderen. Er hat die Firma seines Vaters übernommen und sei deswegen in Gladbeck geblieben.

Es klingt ein wenig wie eine Entschuldigung, und ich fühle mich schlecht, weil ich denke, ich habe so gefragt, dass ich ihn in die Rechtfertigungsecke gedrängt habe. Wir sitzen im Café Goethestraße. Seitdem Ruth den Laden übernommen hat, ist er etwas Besonderes geworden: Globen dienen als Lampen über dem Tresen, alte Couchen und die verschiedenen Stühle deuten etwas an, was sich wohl Berliner Stil nennt. Aber weil es heute fast überall so aussieht, fühlt man sich sofort zu Hause.

Das Café Goethestraße könnte überall sein, und überall wäre es ein angenehmer Ort. Weil aber Gladbeck nicht zu den Überalls zählt, ist es ein besonders angenehmer Ort.

Jede Stimme für die AfD sei eine zu viel

Thorsten mag Gladbeck, und er mag es nicht, weil man schnell mit Auto wegkommt oder weil der Netto hier auch nicht schlechter ist als in Bottrop, Hamburg oder München. „Die städtische Galerie ist gut geworden, die FAZ und die Welt am Sonntag berichten über die Ausstellungen, die hier laufen. Sowas gab es früher nicht, das hat sich sehr verbessert.“

Es gäbe ein paar Kneipen, in die man gehen könnte – nicht viele, aber das sei ja vor zwanzig Jahren auch nicht anders gewesen. Rechtsradikale würden in Gladbeck kaum offen auftreten. Aber wenn er an der Supermarktkasse mitbekommt, wie sich Rentner miteinander unterhalten, sei klar, dass es auch hier eine rechts wählende Klientel gäbe. Wie viele das seien, könne er nicht sagen – jede Stimme für die AfD sei für ihn eine zu viel.

Gladbeck ist keine sterbende Stadt mehr

Thorsten mag Gladbeck, weil ihm gefällt, wie sich die Stadt entwickelt hat: Sie sei sauberer geworden. Überall würden neue Häuser stehen. Gladbeck sei keine sterbende Stadt mehr: „Viele kommen wegen der Waldorfschule hier hin. Gladbeck tun sie gut. Die Stadt ist bürgerlicher geworden, vor allem in Butendorf, wo Du herkommst.“

Die Waldorfschule in Gladbeck machte Anfang der 80er Jahre in der ehemaligen Bergmannschule auf. Die Anthroposophen haben sie umgebaut – es gibt jetzt keinen rechten Winkel mehr. Wo heute Kinder lernen, Buchstaben zu tanzen, machte mein Großvater in den 50er Jahren seine Ausbildung zum Sprengmeister. Als ich noch in Gladbeck lebte, wohnte ich nur ein paar hundert Meter von ihr entfernt.

An die Zeche erinnern nur noch Straßennamen

Aus der Waldorf-Schule ist ein Waldorf-Quartier geworden: Es gibt nun auch einen Kindergarten, und die Turnhalle ist größer, als ich sie in Erinnerung habe. Büsche und Bäume wuchern zwischen den Häusern. Hinter der Waldorf-Buschwelt liegt das ehemalige Zechengelände von Graf Moltke. Hier stand der Turm, dessen Sprengung wir uns als Kinder nicht anschauen durften.

An die Zeche erinnern nur noch Straßennamen wie Flöz-, Schacht- und Bergmannstraße. Schmuck sind die Reihenhäuser, die hier stehen; schmucker gar die etwas höheren, zweistöckigen Townhouses. Das Gelände war für uns Kinder früher eine verbotene Zone, die wir gerade deswegen eroberten.

Früher hieß der Nebel Smog

Heute ist es hier aufgeräumt, freundlich und verkehrsberuhigt. Früher stank es nach Ruß, auf dem Weg zum Zechenkindergarten musste ich mir bei Nebel immer ein Taschentuch vor den Mund halten, denn der Nebel hieß damals nicht Nebel, er hieß Smog. „Es ist heute besser“, denke ich, als ich nach Hause fahre.

.Ob die Menschen hier im Mai letztendlich AfD wählen? Ich weiß es nicht. Man sieht es ihnen ja nicht an, aber das tat man auch nicht in Baden-Württemberg. Oft wählen die Abgehängten Rechts und auch die, die Angst haben etwas zu verlieren. Und in einer Stadt ohne Arbeitsplätze und mit glücklichen Besitzern neuer, schöner Häuser gibt es von beiden genug.