Stadt Herne verschweigt Vertreibung von Jesiden
Aus einem Fußballspiel zwischen Libanesen und Jesiden in Herne entwickelt sich eine Massenschlägerei. Die Jesiden werden massiv bedroht. Kurz später flüchten sie aus ihren Wohnungen und verlassen die Stadt. Die Herner Stadtverwaltung äußert sich nicht offen zu dem Fall.
Ostersonntag 2016. Auf einem Fußballplatz am Rande der Hochhaussiedlung Emscherstraße in Herne-Wanne spielen zwei Gruppen miteinander Fußball. Die einen Libanesen, die anderen Jesiden aus dem Nordirak. Es kommt zu Streitereien, dann zu einer Massenschlägerei. Die Polizei wird gerufen, mehrere Verletzte müssen in Krankenhäusern behandelt werden. Was für sich bereits nach einem außergewöhnlichen Vorfall klingt, ist erst der Anfang einer skandalösen Geschichte.
Im Nachgang wurden die etwa 50 jesidischen Bewohner der Siedlung massiv bedroht, als „Ungläubige“ und „Teufelsanbeter“ beschimpft, erzählt ein Jeside, der CORRECTIV.Ruhr von den Vorfällen berichtet. Der junge Mann will anonym bleiben. Er hat noch immer Angst um sich und seine Familie. „Die kennen meinen Namen, die wissen, wie ich aussehe. Die kennen sogar die Nummernschilder meines Autos.“ Die 50 jesidischen Bewohner flüchteten nach den Übergriffen aus ihren Wohnungen und aus Herne.
Die Stadt dementiert
Die Stadt Herne äußert sich zu dem Vorfall bis heute nicht eindeutig. Auf Nachfrage von CORRECTIV.Ruhr teilte ein Stadtsprecher mit, man habe keine Erkenntnisse, die über eine sehr knappe Polizeimeldung vom vergangenen März hinausgehen. Das kann jedoch nicht stimmen. Die Stadt Herne wurde bereits kurz nach den Vorfällen über die Geschehnisse informiert. Die Hochhaussiedlung ist als Problemviertel bekannt, doch das dementiert die Stadt Herne.
Was ist in der Siedlung an der Emscherstraße los?
Der Wohnblock ist kein Schmuckstück. Graue Häuser im Plattenbau-Stil, dazwischen Parkplätze, ein paar Tischtennis-Platten und ein kleines bisschen Grün. Südlich grenzt der Block an deutlich hübschere Zechensiedlungen, im Norden an die A42, die für ein stetiges Grundrauschen sorgt.
Das einzige, das hier neu und gepflegt aussieht, ist der umzäunte Bolzplatz neben der Siedlung mit seinem strahlend grünen Kunstrasen. Ausgerechnet hier haben sich am 27. März 2016 die hässlichen Szenen abgespielt. Es begann als Streit während eines Nachbarschaftspiels, kurz später flogen die Fäuste. In ihrer nur sechs Zeilen langen Pressemitteilung am Tag darauf schreibt die zuständige Polizei Bochum: „Zu den Hintergründen der Auseinandersetzung ist noch nichts bekannt.“ Viel mehr als das ist lange Zeit nicht an die Öffentlichkeit gelangt.
“Teufelsanbeter“ und „Ungläubige“
Der Vorfall ist aber viel brisanter. Geprügelt haben sich Anwohner, die aus dem Libanon stammen, mit Nachbarn jesidischen Glaubens. Und es ist nicht bei der Schlägerei geblieben. Bereits während der Auseinandersetzung auf dem Fußballplatz wurden massive Drohungen gegen die Jesiden ausgesprochen — gepaart mit Beschimpfungen als „Ungläubige“ und „Teufelsanbeter“.
Die Jesiden sind eine eigenständige Religionsgruppe. Vor allem im Nordirak werden sie vom „Islamischen Staat“ verfolgt. Die Vereinten Nationen sprechen dort von einem Völkermord. Jesiden gelten den Islamisten als „Ungläubige“ und „Gottlose“.
“Die Drohungen und Beschimpfungen wurden auch ausgesprochen, als die Polizei vor Ort war“, sagt Holger Geisler. Geisler ist Pressesprecher des Zentralrats der Jesiden und war kurz nach den Auseinandersetzungen vor Ort in Herne. „Ich kann mich noch an die verängstigten Gesichter der Kinder und auch an die Panik der jungen Männer erinnern“, erzählt er.
“Die Polizei kann euch nicht beschützen.“
“Wir wurden schon in den Monaten davor immer wieder als Teufelsanbeter beschimpft und mit Eiern beworfen“, berichtet der 21-jährige Jeside, der seit Mai 2015 in der Hochhaussiedlung gewohnt hat. Die Situation sei nur deshalb nicht früher eskaliert, weil sich die jesidischen Bewohner nicht auf Provokationen eingelassen hätten. Nach der Schlägerei hätten die libanesischen Nachbarn gedroht: „Die Polizei kann euch nicht 24 Stunden beschützen.“
Fast alle der etwa 50 Jesiden, die in dem Wohnkomplex gelebt haben, seien noch am selben Tag aus ihren Wohnungen geflüchtet. Eine Familie habe sich jedoch nicht alleine aus ihrer Wohnung getraut, und hätte sie erst am Tag darauf verlassen, als die Polizei einen Streifenwagen vorbei geschickt habe, berichtet Zentralrats-Sprecher Holger Geisler.
Der Staatsanwalt ist krank, die Akte nicht da
Kurz darauf sollen Unbekannte die Wohnung aufgebrochen und verwüstet haben. Die Pressestelle der Polizei Bochum bestätigt lediglich eine Sachbeschädigung an einer leerstehenden Wohnung und verweist für weitere Informationen an die Bochumer Staatsanwaltschaft. Dort teilt man derzeit allerdings mit, sich zu dem Fall nicht äußern zu können. Die Akte sei gerade versandt und der zuständige Staatsanwalt, der sich an den Fall erinnern könnte, sei erkrankt.
“Die Polizei hat uns geraten, aus Herne wegzugehen“, erklärt der 21-jährige Ex-Bewohner der Hochhaussiedlung. „Wir haben anderthalb Monate lang mit fünf Familien in einer Vier-Zimmer-Wohnung von Verwandten gelebt“, erzählt er. Nach dem Tod eines Kleinkinds in der Familie hätten sie wegen der Bedrohungen nicht in den eigenen vier Wänden trauern können, wie es die jesidischen Traditionen eigentlich vorsehen. In der Öffentlichkeit will der junge Mann anonym bleiben. „Wir können es uns einfach nicht leisten, noch einmal umzuziehen.“
Glaube an den Rechtsstaat
Keiner der jesidischen Bewohner sei nach dem Vorfall in seine Wohnung zurückgekehrt, erklärt Telim Tolan, der Vorsitzende des Zentralrats der Jesiden. Tolan war nach der Schlägerei in Herne, um sich mit den Betroffenen zu treffen. Sie haben sich gemeinsam in einem kurdischen Vereinsheim in Gelsenkirchen verabredet. Auch die Polizei sei dort dabei gewesen, erzählen Tolan und Geisler. Die hätte nur angeboten, im Wohnblock häufiger Streife zu fahren. An der Bedrohungslage in den Wohnhäusern hätte das aber nichts ändern können.
Das Vereinsheim, so berichten die beiden, sei noch am selben Abend angegriffen worden, es seien Scheiben zu Bruch gegangen. „Die müssen den Leuten aus Herne gefolgt sein“, so Geisler.
Alle der etwa 50 Jesiden seien nach den Ereignissen umgezogen, sagt der Vorsitzende des Zentralrats. Manche, so Tolan, würden heute in umliegenden Städten leben, einige am Niederrhein. Dass die Menschen sicher aus dem Wohnblock weggekommen seien, sei gut, sagt Holger Geisler. Er sagt aber auch: „Es ist ein Aufgeben. Man gibt den Angreifern das Gefühl, sie hätten gewonnen. So verstehe ich den deutschen Rechtsstaat nicht.“
Stadt Herne blockt
Und wie bewertet die Stadt Herne die Vorgänge?
Der Vorfall sei bekannt, schreibt Stadtsprecher Christoph Hüsken in seiner Antwort auf eine Anfrage von CORRECTIV.Ruhr. Es habe nach dem Vorfall einen Austausch mit dem Zentralrat der Jesiden gegeben. „Allerdings liegen uns keine Kenntnisse vor, die über die Mitteilungen der Polizei hinausgehen.“ Ein- und Auszüge würden in dem Bereich immer wieder stattfinden. Die Gründe für Umzüge würden aber melderechtlich nicht erfasst.
Dass die Stadt Herne von den Bedrohungen und der Flucht der Jesiden aus ihren Wohnungen nichts gewusst habe, ist kann eigentlich nicht sein. „Wir standen direkt in Kontakt mit der Stadt Herne. Die haben auch dabei geholfen, dass das Jobcenter einigen Bewohnern den Umzug genehmigt“, erklärt Telim Tolan. CORRECTIV.Ruhr liegt außerdem eine E-Mail des Zentralrats der Jesiden an den Büroleiter des Herner Oberbürgermeisters vor.
Hohe Eskalationsstufe
In dem Schreiben vom 6. April werden die Bedrohungen zusammengefasst. Von einer „gefährlich hohen Eskalationsstufe“ ist dort die Rede. Auch auf die traumatische Verfolgungsgeschichte der Bewohner in ihrer Heimat im Irak wird in der E-Mail verwiesen. Spätestens seit diesem Zeitpunkt müssten der Stadt Herne die bedrohlichen Entwicklungen im Wohnblock also bekannt gewesen sein. Öffentlich thematisiert wurden sie trotzdem nicht.
Weiter schreibt der Stadtsprecher in seiner Antwort auf die CORRECTIV.Ruhr-Anfrage, der Bereich um die Emscherstraße sei „ordnungsbehördlich nicht besonders auffällig“. Das habe auch die Polizei kürzlich bestätigt. Weitere Vorfälle aus dem Wohnblock seien der Stadt nicht bekannt.
Faustrecht, Gewalt und Aggressionen
Anders sieht das die CDU-Fraktion im Herner Stadtrat. Nach einem Ortsbesuch im November beschrieben zwei CDU-Stadtverordnete die Lage in der Siedlung als „Pulverfass“. Es herrsche dort eine Atmosphäre, die vielen Bürgerinnen und Bürgern Angst mache, schreiben die Stadtverordneten Gabriele Sopart und Andrea Oehler in einer Pressemitteilung. Im Wohnblock regiere das Faustrecht. Gewalt und Aggressionen stünden auf der Tagesordnung. Die Stadtverwaltung sei dringend gefordert, zu handeln.
Im Hinblick auf die Vertreibung der Jesiden aus der Hochhaussiedlung fordert auch der Herner Landtagsabgeordnete Thomas Nückel (FDP) eine Aufklärung und Aufarbeitung. Nückel hatte die Vorgänge als erster in einer Pressemitteilung öffentlich gemacht. Er kritisiert, dass aus dem von der Stadt versprochenen Arbeitskreis zum „Problemschwerpunkt Emscherstraße“ bislang nichts dazu zu hören gewesen sei.
Dass es rund um den Wohnblock Gesprächsbedarf gibt, ist auch der Stadt Herne bekannt. Im März soll dort ein Runder Tisch aus Verwaltung, Polizei und Anwohnern stattfinden. 50 Menschen mussten angeblich fliehen, weil Stadt und Polizei nicht ihren Schutz gewährleisten konnten. Dass wenigstens am Runden Tisch der Fall der Jesiden offen angesprochen wird, bleibt zu hoffen.