CORRECTIV.Ruhr

Wo ein Glas Wasser zur Straftat wird

Der Kreis Borken ist die größte Nitratfabrik Nordrhein-Westfalens. Das stinkt nicht nur Umweltschützern. Selbst der Landrat macht sich Sorgen um Böden und Gewässer des Kreises – weil die Landwirte zum Teil sorglos mit Gülle und Gärresten umgehen.

von Henning Brinkmann

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Dieser Artikel ist Teil unserer Serie Nitrat in NRW

Die Landwirtschaft ist hier, im westlichsten Kreis des Münsterlandes, so intensiv wie fast nirgendwo sonst in NRW. Hier lebt jedes sechste Rind Nordrhein-Westfalens und nahezu jedes siebte Schwein. Seit Jahren ist der Trend klar: mehr Vieh bei weniger Haltungsbetrieben. Gleichzeitig wächst die Maisanbaufläche, da sich die Pflanzen gut als Rohstoff für Biogasanlagen eignen. Binnen weniger Jahre hat sich deren Anzahl im Kreis von 52 auf 99 fast verdoppelt.

Eine Folge der intensiven Landwirtschaft und der steigenden Zahl an Biogasanlagen: Die Bauern im Kreis produzieren massenhaft Gülle und pflanzliche Gärreste – weit mehr, als die Borkener Böden aufnehmen können. Rund 17 Millionen Kilogramm Stickstoff aus tierischen Exkrementen fielen im Jahr 2014 an. Das ist fast so viel wie im gesamten Regierungsbezirk Arnsberg – und mehr als in jedem anderen Kreis in Nordrhein-Westfalen.

Weil die Stickstoffmengen deutlich höher sind, als auf die Flächen im Kreis Borken ausgebracht werden darf, müssen die Landwirte jährlich mehr als zwei Millionen Kilogramm an andere Kreise und Städte abgeben. Trotzdem ist der Stickstoffüberschuss in den Ackerböden viel zu hoch: Der Kreis ist einer der bundesweiten Nitrat-„Hot-Spots“. Im Jahr 2014 berechnete das Thünen-Institut, das Bundesforschungsinstitut für Ländliche Räume, einen Nitratüberschuss von mehr als 120 Kilogramm pro Hektar Boden – das liegt deutlich über dem NRW-Landesdurchschnitt (84,5 Kilogramm) und dem Bundesdurchschnitt (74,1 Kilogramm).

Die seit Jahren und Jahrzehnten zu hohen Nitrateinträge belasten das Grundwasser. Eine von CORRECTIV.Ruhr durchgeführte Auswertung der Grundwasserdaten der Jahre 2000 bis 2015 ergibt für den Kreis Borken ein schlechtes Bild: Von insgesamt 803 Messungen in diesem Zeitraum wurde der gesetzliche Grenzwert von 50 Milligramm Nitrat pro Liter Wasser (mg/l) 259 Mal überschritten – also etwa bei jeder dritten Messung.

Am stärksten belastet war das Grundwasser an der Messstelle HS/2-Nordick in Stadtlohn. Dort wurde im Schnitt ein Nitratwert von 176 Milligramm pro Liter gemessen. Der Spitzenwert lag bei 245 Milligramm Nitrat pro Liter. Es folgten eine Messstelle bei Groß Reken mit durchschnittlich 160 mg/l Nitrat sowie eine Messstelle in Südlohn-Wendfeld mit durchschnittlich 142 mg/l. Insgesamt lieferte fast jede dritte von 50 Messstellen nicht nur punktuell, sondern im Durchschnitt aller Messungen zu hohe Nitratwerte.

Der schlechte Zustand des Grundwassers betrifft vor allem Menschen, die ihr Trinkwasser aus einem Hausbrunnen schöpfen und deren Grundstücke nicht an die öffentliche Wasserversorgung angeschlossen sind. Solche Hausbrunnen sind im Kreis Borken aufgrund der ländlichen Siedlungsstruktur verbreiteter als im übrigen NRW: Rund 7000 Haushalte versorgen sich hier mit eigenen Quellen.

Jeder fünfte Brunnen fiel durch

Viele Brunnen sind allerdings so stark mit Nitrat belastet – häufig noch drastischer als an den offiziellen Messstellen – dass das Wasser nicht mehr trinkbar ist. Im Gegensatz zu Wasserwerken sind die Betreiber nicht in der Lage, das Quellwasser so zu verschneiden, dass die Nitratkonzentration den Grenzwert nicht überschreitet.

Stillgelegt werden die Brunnen bei solch extremen Befunden zwar nicht – wer allerdings als Brunnenbesitzer Gäste oder Mieter von dem Wasser trinken lässt, macht sich laut Angaben des Kreises strafbar.

Im Zeitraum zwischen 2013 und 2015 wurde im Kreis Borken die Trinkwasserqualität von fast 7000 Brunnen untersucht. Fast jeder fünfte Brunnen fiel wegen zu hoher Nitratkonzentrationen durch. Der Spitzenwert der Nitratbelastung lag bei 283 mg/l. 71 Brunnen wiesen sogar einen Nitratgehalt von mehr als 150 mg/l auf.

Es gibt Menschen, denen die Auswirkungen der Gülleschwemme gehörig stinkt. Herbert Moritz und Jürgen Kruse etwa. Sie sind so etwas wie die Umweltpolizei im Kreis Borken – und der Begriff stört sie nicht, auch wenn er von manchen Bauern eher despektierlich als respektvoll verwendet wird. Die beiden Nabu-Mitglieder spüren Missständen in der Landwirtschaft nach. Wenn ein Bauer innerhalb der Sperrfristen Gülle fährt, zu viel davon auf seine Felder kippt oder illegal in Gewässer einleitet, sind sie da. Sie machen Fotos, sprechen die Verursacher an. Zeigen die sich nicht einsichtig, melden sie die Sache an die Behörden.

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Die Umweltschützer Herbert Moritz (l.) und Jürgen Kruse

Henning Brinkmann

Damit macht man sich im Kreis Borken nicht viele Freunde. „Wir sind hier die Buhmänner. Aber das sind wir gerne“, sagt Jürgen Kruse. Nachdem der Naturschützer vor fast drei Jahren aus Niedersachsen nach Borken gezogen war, habe er sofort Gegenwind gespürt, wenn er Probleme ansprach. „Das ging bis zu einem anonymen Schreiben, in dem stand: ‚Hau lieber wieder ab, solche wie dich können wir hier nicht gebrauchen.‘“

Moritz: „Da lebt nichts mehr“

Trotzdem machen die beiden weiter: Sie berichten von Höfen, auf denen Gärsäfte aus Silagehaufen unkontrolliert im Boden versickern. Von Feldern, auf denen die Gülle so hoch steht, dass sie über die Feldränder direkt wieder in Gräben und Bäche läuft. Von Bauern, die Gülle in Gewässer einleiten. Herbert Moritz hat all das fotografiert; bei ihm zuhause stapeln sich DIN-A3-Ausdrucke der Umweltsünden.

Moritz zeigt das Foto eines mit Algen zugewucherten Baches. „Der ist tot, da lebt nichts mehr“, empört er sich. Auch der sogenannte Abwasserpilz breite sich im Kreis immer weiter aus – ebenfalls eine Folge von organischem Müll im Wasser. „Die Fließ- und Oberflächengewässer im Kreis sind zu einem großen Teil klinisch tot“, sagt er.

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Herbert Moritz steht in einem Biotop – Algen haben das Ökosystem kippen lassen.

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Moritz holt eine Bilderserie hervor. Auf dem ersten Foto wird gerade ein Biotop angelegt. Auf dem zweiten ist es fertiggestellt. Auf dem dritten, aufgenommen nur sieben Monate später, ist das Biotop bereits von Algen übersät. „Das ist durch die Stickstoffbelastung in kürzester Zeit umgekippt“, erklärt Moritz. Im direkten Umkreis wuchern, auf Kosten anderer Pflanzen, Brennnesseln und Brombeerhecken – zum Teil mehrere Meter hoch. Schuld seien hohe Ammoniakausgasungen aus den gegüllten Feldböden. „Die biologische Vielfalt geht immer mehr kaputt“, klagt Moritz.

Die Düngepraxis im Kreis habe sich in den letzten Jahren nicht verbessert, im Gegenteil: „Die Landschaft sieht hier so aus, wie sie aussieht, weil hier Gülle illegal entsorgt wird. Die Landwirte sind nicht zu doof zum Düngen, die haben einfach ein Entsorgungsproblem.“

Gewässerschützer Harald Gülzow, Vorsitzender des Vereins zum Schutz des Rheins und seiner Nebenflüsse,  beschreibt einen unheilvollen Trend. In den 90er Jahren habe sich die Nitratbelastung im Grundwasser zwischenzeitlich verbessert. „In letzter Zeit beobachten wir aber, dass die Belastung wieder zugenommen hat.“ Und die Auswirkungen der aktuellen Düngepraxis seien erst in vielen Jahren zu sehen. Gülzow ist sich sicher: „Wird nicht bald gegengesteuert, werden die Werte noch stärker ansteigen. Auch weitere Veränderungen im Oberflächenwasser werden wir in den kommenden Jahren zu spüren bekommen.“

Schwarze Schafe in der Landwirtschaft

Die Landwirtschaftskammer im Kreis Borken hält dem entgegen, dass das mit der richtigen Güllemenge gar nicht so einfach sei: „Ein Hektar Boden enthält 5000 bis 10.000 Kilogramm natürlichen Stickstoff“, erklärt Wolfgang Neuenhaus, der Landwirte im Kreis zum Wasserschutz berät. „Von diesem gibt die Natur in einem Jahr 50 Kilogramm als mineralisch verfügbaren Dünger ab, im nächsten Jahr 300 Kilogramm.“ Das mache es schwierig, punktgenau zu düngen.

Natürlich gebe es das eine oder andere „schwarze Schaf“ in der Landwirtschaft, räumt er ein. Dass heute mehr gedüngt werde als vor zehn Jahren, sieht er aber nicht so. „Von einer Gülleschwemme zu sprechen, halte ich für populistisch“, sagt Neuenhaus. Er vermutet, dass subjektives Empfinden eine Rolle spiele: „Dadurch, dass mehr Gülle anfällt, kann ein Landwirt zum Beispiel Mineraldünger einsparen. Mineraldünger riecht man nicht, Gülle schon. Da kann der eine oder andere auf die Idee kommen, dass mehr gedüngt wird.“

Zweifel am sachgerechten Umgang der Landwirte mit Gülle und Gärresten haben im Kreis Borken allerdings nicht nur Umweltschützer. Auch der Landrat des Kreises, Kai Zwicker (CDU), zeigte sich Anfang 2016 entsetzt über den Umgang vieler Landwirte mit Gülle, Jauche, Gärresten und Futter-Silage, die ebenfalls Nitrat enthält.

Damals sei eine plötzliche Ausbreitung des Abwasserpilzes in vielen Gewässern im Kreis festgestellt worden, erklärt Hubert Grothues, Fachbereichsleiter Natur und Umwelt in der Kreisverwaltung Borken. Die Behörden hätten rund hundert Meldungen über Gewässerverunreinigungen erhalten. Zahl und Schwere der Verfehlungen durch Landwirte waren so massiv, dass das Landwirtschaftsministerium in Düsseldorf den Kreis zur Berichterstattung aufforderte.

Der griff daraufhin durch: In einem Brief an seine Mitglieder warnte der Vorsitzende des Westfälisch-Lippischen Landwirtschaftsverbands (WLV) in Borken, Jörg Sümpelmann, seine Mitglieder, dass der Kreis künftig rigoros alle illegalen Einleitungen von Gülle verfolgen werde. „Der Eindruck, der beim Land NRW und beim Kreis entstanden ist, lautet, dass es sich nicht um ein paar Einzelfälle handelt. Vielmehr hat man uns deutlich zu verstehen gegeben, man sehe hier die gesamte Landwirtschaft im Kreis in der Verantwortung“, schrieb Sümpelmann.

Der Kreis drohte, die Staatsanwaltschaft einzuschalten und kündigte Strafverfahren wegen Gewässerverunreinigung an. „Im Wiederholungsfalle wird Vorsatz angenommen“, warnte Sümpelmann die Bauern. Die Drohung zeigte Wirkung: Die Belastung der Gewässer durch den Abwasserpilz war in diesem Winter deutlich geringer.

Auch wenn viele Landwirte, wie in Viersen und Petershagen auch, in den Wasserschutzgebieten mit Wasserversorgern kooperieren: Der Eindruck, dass andere sich nicht um das Grundwasser scheren, blieb haften. Umweltschützer Jürgen Kruse hält die Kooperationen für Feigenblätter einer verfehlten Agrarpolitik: „Die Vorgabe für die Bauern lautet doch: wachsen, wachsen, wachsen – oder sterben.“ Das System begünstige nun einmal die intensive Landwirtschaft – da müsse man ansetzen, das müsse man endlich ändern.