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Kohle bremste Ruhr-Schnellbahn aus

von Dietmar Seher

Über Jahrzehnte prägten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert Dampfloks den Regionalverkehr überall im Ruhrgebiet – auch eine Folge der Entscheidung, die Städtebahn nicht zu bauen.© Herbert Schambach

Alle reden über die Verkehrswende. In Nordrhein-Westfalen gilt der geplante Rhein-Ruhr-Express RRX als das Rückgrat des künftigen Bahnnetzes. Doch neu ist die Idee nicht. Es gab ähnliche und sogar bessere Pläne. Das war vor fast 100 Jahren. Der Bergbau bremste sie aus. Eine Spurensuche im Industrie-Archiv.

Der regionale Bahnverkehr in Berlin und Hamburg läuft rund. Wesentlich runder als zwischen Köln, Duisburg und Dortmund im größten Ballungsraum der Republik. Mit kürzeren Taktzeiten. Mit mehr Haltepunkten. Mit klareren Tarifen. Wie kommt das? Sind es nur verpasste Investitionen in den letzten Jahren? Nur der fehlende politische Wille? Oder sind irgendwann in der Geschichte die Weichen ganz grundsätzlich falsch gestellt worden? Die Spurensuche in industriellen Archiven gibt Antworten.  

Die spannendste Spur führt neun Jahrzehnte zurück. Nach dem verlorenen 1. Weltkrieg freut sich die Weimarer Republik über eine kurzlebige wirtschaftliche Blüte. Das Ruhrgebiet hat sich zum industriellen Kern des Reiches entwickelt. Alleine hier leben und arbeiten mehr Einwohner als in der Reichshauptstadt. Die Verkehrsmittel, voran die auf der Schiene, platzen aus den Nähten.

Es ist 1922. Ein Direktor Schiffer vom Rheinisch-Westfälischen Elektrizitätswerk (RWE) sieht offenbar die aktuelle Überlastung der Bahnstrecken im Revier und die noch drohende viel stärkere der Zukunft. Er schreibt im Frühjahr einen Brief an den Kollegen Dust, Vorsteher der Essener Niederlassung der Siemens-Bauunion. Er bittet um die „technischen Unterlagen für die Bearbeitung des Projekts“.

Das Projekt. Auch Siemens ist davon angetan. Am 4. April trifft sich in Berlin in den Geschäftsräumen der Siemens-Schuckert-Werke eine Fach-Gruppe. Regierungsbaurat Dust aus Essen ist dabei. Auf dem Tisch liegt das revolutionäre Vorhaben einer „Rheinisch-Westfälischen Städtebahn“. Schon 1906, Kaiser Wilhelm II. regierte noch, hatten Industrielle darüber nachgedacht, so etwas zwischen Köln und Düsseldorf zu bauen. Jetzt wollen sie das – auf eigene Rechnung und mit finanzieller Unterstützung der beteiligten Städte – in weit größerem Umfang zwischen Köln und Dortmund verwirklichen. Als teils unterirdisches Schnellfahrnetz für die ganze Rhein-Ruhr-Region.

In Vergessenheit geraten

Berlin, Rohrdamm 83. Hier finden wir das Konzern-Gedächtnis, das zentrale Archiv, von Siemens. In der Sprache der globalen Industrie heißt es „Historical Institute“. Die freundlichen Archivare packen zwei dicke Akten auf die Arbeitsplatte. Sie tragen die Signaturen 3319 und 3320. Sorgfältig abgeheftet, jedoch angegilbt, dokumentieren die Blätter die aufsehenerregende Vorstellung von der Städtebahn und die dramatische Rangelei um die Verwirklichung. Nie ist es dazu gekommen. Doch auf die Daten des uralten Vorhabens dürften heute alle mit Neid gucken, die sich täglich auf den Bahnsteigen drängeln und auf verspätete Regionalzüge warten müssen.

In den Archivakten steckt eine alte Karte mit der geplanten Strecke. Die Schnellbahn sollte auf eigener Trasse fahren — von Köln nach Dortmund mit Halt in Düsseldorf, Duisburg, Mülheim, Essen, Gelsenkirchen, Bochum und Langendreer. 112 Kilometer lang. 77 Kilometer davon auf Dämmen, 19 Kilometer auf fünf Meter hohen Stelzen, und über 15,5 Kilometer in Tunneln unter den Innenstädten des Rhein-Ruhr-Gebiets hindurch. Zweiglinien sollten Moers, Dinslaken und Gladbeck anbinden. Kostenschätzung für die Kernstrecke im März 1922: 214,9 Millionen Reichsmark. Damit nicht genug. Man wollte schnell schwarze Zahlen schreiben. Schon zur Fertigstellung im Jahr 1933 war ein Gewinn von fünf Millionen Reichsmark jährlich angepeilt.

Schneller als heute

Die Fachleute der „Studiengesellschaft für die Rheinisch-Westfälische Städtebahn“ hatten das Projekt bis ins kleinste Detail ausgearbeitet. Risszeichnungen in den Berliner Akten stellen die Planer-Vorstellungen für unterirdische Bahnhöfe in Duisburg, Essen und Dortmund dar. Drei Betriebswerke in Dortmund, Essen und Köln hätten Reparaturen und Instandsetzungen vornehmen sollen. Es gab kleinteilige Design-Vorschläge für die anzuschaffenden einheitlichen, gusseisernen Bahnhofsuhren.

Der errechnete Fahrplan fiel hochattraktiv aus: Jede Viertelstunde sollten elektrische Triebwagen verkehren — äußerlich ähnlich denen in Berlin und Hamburg zu der Zeit. Die geplante Fahrzeit zwischen Köln und Dortmund: Atemberaubende 77 Minuten. Das war damals doppelt so schnell wie die rauchenden Züge der Reichsbahn brauchten – und noch drei Minuten schneller als der Regionalexpress heute fährt, fast einhundert Jahre später.

Der faszinierende Plan ist gescheitert. Warum? Wir schreiben 1924. In Berlin rollten die ersten Elektrotriebwagen bis nach Bernau, in Hamburg fuhr eine elektrifizierte S-Bahn schon seit 20 Jahren durch die Hansestadt. Die Welt der Experten schien zunächst überzeugt zu sein: Die Städtebahn ist die Lösung. Am 9. Dezember 1922 hatten sich die Oberbürgermeister des Siedlungsverbandes Ruhrkohlenbezirk in einer Sitzung in Köln einmütig hinter die Idee gestellt. Doch schon länger rechnete man hin und her, Kosten- und Gewinnprognosen schwankten. Die Zinshöhen der Inflationsjahre waren eine Hürde für die Finanzierung. Auch war es unter den beteiligten Industriellen zum ersten Streit gekommen. Durften die Züge nur Tempo 90 fahren, wie es Siemens favorisierte – oder doch bis zu gewagten 150, wie es sich der Mülheimer Unternehmer Stinnes vorstellte? Immerhin: Das Reichsverkehrsministerium erteilte eine erste Baukonzession.

Das Signal des Verkehrsministers muss den eigentlichen Herren der Region, den Bergwerksdirektoren, mächtig auf den Magen geschlagen sein. Über die wahren Motive ihres aufkeimenden Widerstandes darf spekuliert werden. Ist es abwegig, anzunehmen, dass sie mit dem Austausch der Dampfloks gegen E-Triebwagen Absatzeinbußen für ihre Kohle fürchteten – und das direkt vor den eigenen Zechentoren? Öffentlich argumentierten sie anders. Sie engagierten den Gutachter Prof. Erich Giese, der zunächst die Kosten- und Gewinnkalkulation der elektrizitätsnahen Industrie in der Luft zerriss. Dann schickten sie das Oberbergamt Dortmund vor. Der Bau der Schnellbahn führe zu mehr Bergschäden, hieß es dort. Das könne den Kohleabbau stören. Deshalb: Nein.

Der Sieg der Dampflok

Die Befürworter wehrten sich — teils mit Argumenten, wie sie in der verkehrspolitischen Debatte von heute aktuell sind. Die „bequeme Fahrt in der Schnellbahn“ sei „einer Kraftwagenfahrt durch die unzulänglichen Straßen des Ruhrgebiets bei weitem vorzuziehen“, schrieb Gieses Gegengutachter Gustav Kemmann.

Doch dann befiel die Konkurrenzangst eine zweite mächtige Institution: die Deutsche Reichsbahn. Würde die schnelle Städtebahn nicht die weit langsameren Züge des Staatsbetriebs abhängen, ja, sie am Ende zwischen Rheinland und Westfalen halb leer dahin rollen lassen? Die Reichsbahn, die zunächst gar nicht abgeneigt war, wurde schlagartig zum bissigen Gegner. Im konzentrierten Abwehrfeuer beider Seiten kippte das Konzept von Siemens, RWE und der AEG (Allgemeine Elektrizitäts Gesellschaft). Mehr noch: Die Reichsbahner durften in der Folge selbst ein Netz stricken – eines unter Dampf.

Moderne elektrische Nahverkehrssysteme, wie sie in jenen Jahren in den Metropolen Hamburg und Berlin als Grundlage für deren heutige Mobilität geschaffen wurden und die im Minutentakt Millionen befördern konnten, sollte das Ruhrgebiet auf Jahrzehnte nicht erhalten. Schließlich löste sich 1938 die Städtebahn-Gesellschaft auf. Die Dampflok dominierte dadurch bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg den Personenverkehr zwischen Köln, Duisburg und Dortmund. Erst am 19. Juni 1954 wurden die ersten Oberleitungsmasten an der zentralen Ruhr-Strecke aufgestellt. 1957 kamen elektrische Triebwagen zum Einsatz. Ein weiteres Jahrzehnt verging, bis die erste S-Bahn Premiere feierte.

Die Geschichte, wie sie im Archiv in der Berliner Siemensstadt hinterlegt ist, beweist: Nicht immer bestimmt pragmatische Verkehrsökonomie den Netzausbau. Oft waren – und sind – es politische oder wirtschaftliche Interessen Dritter. Es zeichnet sich ab, dass das beim Bau des Rhein-Ruhr-Express RRX, den Bundes- und Landespolitiker heute feiern und der in Wahrheit die heftig abgespeckte Kopie des Plans aus den Zwanziger Jahren darstellt, kaum anders ist.