Alte Apotheke

Amtsapothekerin wusste um abgelaufene Wirkstoffe in Alter Apotheke

Nach Recherchen von CORRECTIV wurde die Amtsapothekerin Hannelie Lochte im April 2016 über Unregelmäßigkeiten in der Alten Apotheke Bottrop informiert. Lochte bestätigte vor Gericht, dass sie um formal abgelaufene Wirkstoffe in der Apotheke wusste, die in den Verkauf kamen. So genannte „Anbrüche“. Allerdings hätte der Umgang mit den Mitteln kein Vergehen dargestellt. Ein Informant berichtet dagegen, er habe die Amtsapothekerin gezielt über die Verarbeitung von abgelaufenen Wirkstoffen informiert, der weit über die Verwendung von „Anbrüchen“ hinausgeht. Es steht Aussage gegen Aussage.

von Marcus Bensmann

Drei offizielle Kontrollen zwischen 2011 und 2016 konnten das Treiben von Peter S. nicht stoppen.© Correctiv.Ruhr

Nach Sachverständigen, Ermittlungsbeamten und Mitarbeitern der Alten Apotheke war am Mittwoch die erste Amtsperson vor dem Essener Landgericht geladen. Sie sollte als Zeugin im Fall um die gepanschten Krebsmittel aus der Alten Apotheke aussagen.  

Die zentrale Rolle der Amtsapothekerin

Hannelie Lochte ist eine zentrale Figur für die Aufarbeitung des Pansch-Skandals. Sie ist Amtsapothekerin für den Kreis Recklinghausen, Gelsenkirchen und Bottrop und damit auch für die Aufsicht der Alten Apotheke in Bottrop zuständig. Sie entscheidet über die Betriebserlaubnis. Stellt Lochte Unregelmäßigkeiten fest, kann sie Sanktionen festlegen – und am Ende sogar die Schließung einer Apotheke verfügen. Nach eigener Aussage stand Lochte im regelmäßigen Kontakt mit dem Alten Apotheker Peter Stadtmann, dem die Anklage im Fall der gepanschten Krebsmittel vorwirft, mehr als 60.000 Infusionen gestreckt zu haben.

Die Aussage der Amtsapothekerin ist wichtig. Warum wurden die Missstände nicht früher entdeckt? Warum griff die Kontrollbehörde nicht ein? Hinweise gab es immer wieder. Nach Recherchen von CORRECTIV hätte Lochte spätestens im April 2016 gewarnt sein müssen, dass es in der Alten Apotheke nicht mit rechten Dingen zugeht.

Denn da betrat ein Mann das Büro von Hannelie Lochte im Kreishaus Recklinghausen, der sie über Details zum Umgang mit abgelaufenen Krebsmitteln informierte. Das sagt der Informant und das bestätigt die Amtsapotherkerin.

Hinweise auf Missstände in der Alten Apotheke

Der Mann, der in das Büro von Lochte kam, ist kein Laie. Er arbeitet als Ausbilder in einer PTA-Fachhochschule. Er bildet Pharmazeutisch-technische Assistenten aus, die dann später in Apotheken arbeiten und Medikamente zubereiten sollen. Fertig ausgebildete Assistenten werden PTA genannt. Sie dürfen auch Zytostatika, also Krebsmittel, anmischen. Lochte und der PTA-Ausbilder kennen sich. Wir nennen seinen Namen nicht, weil wir unsere Informanten schützen wollen.

Im Beisein ihres Mitarbeiters, dem Pharmazeutisch-technischen Assistenten Uwe Müller, hat der PTA-Ausbilder die Amtsapothekerin vor Missständen in Bottrop gewarnt. Die Tür zum Büro wurde extra verschlossen, als der Name der Alten Apotheke fiel. Der PTA-Ausbilder hatte seine Informationen aus erster Hand, ein Mitarbeiter des Zyto-Labors der Alten Apotheke hatte es ihm gesagt. Der PTA-Ausbilder sagte nach eigenen Angaben der Amtsapothekerin, dass in der Alten Apotheke „Medikamente mit abgelaufenen Wirkstoffen“ hergestellt würden. CORRECTIV liegt über diese Angaben des PTA-Ausbilders eine eidesstattliche Erklärung vor.

Im Prozess gegen Peter Stadtmann vor dem Landgericht Essen verweigerte die Amtsapothekerin Lochte zunächst die Aussage. Ihr Anwalt sagte, sie wolle nicht in den Verdacht geraten, sich strafbar gemacht zu haben. Das Gericht wies diese Auskunftsverweigerung zurück und zwang Lochte zur Aussage.

Lochte sagte dann, der Ausbilder habe sie lediglich darüber informiert, dass Restmengen von angebrochenen Wirkstoffen verkauft werden würden. Diese Restmengen seien formal abgelaufen – stellten aber keine Gefahr dar. Es habe also kein Grund bestanden, einzugreifen. 

Was wusste die Amtsapothekerin wirklich über die Missstände in der Alten Apotheke?

Der Hinweis auf den Verkauf abgelaufener Krebswirkstoffen ging im April 2016 bei der Amtsapothekerin ein – fünf Monate bevor Martin Porwoll mit seiner Anzeige im September 2016 die Strafermittlungen gegen Peter Stadtmann ins Rollen brachte.

Warum blieb der Hinweis des PTA-Ausbilders bei der Amtsapothekerin ohne Wirkung? Warum griff sie nicht ein? Warum erhielten Krebskranke Menschen fünf Monate lang vermutlich gestreckte Medikamente?

Wir haben die Stadt Bottrop, den Kreis Recklinghausen, die Amtsapothekerin Lochte und den Pharmazeutisch-technischen Assistenten Uwe Müller gefragt, was sie die Aussagen des PTA-Ausbilders sagen. Die Stadt Bottrop antwortete nicht, ein Sprecher des Kreis Recklinghausen sagte, die Behörde werde sich nicht zu einem „laufenden Verfahren“ äußern.

Und Lochte versuchte vor Gericht die Aussage zu verweigern, mit dem Hinweis, sie wolle nicht in den Verdacht geraten, etwas strafbares gemacht zu haben.

Für die Betroffenen im Skandal ist das kaum ertragbar. Die Behörden, die für Aufklärung sorgen sollten, verstecken sich in einem Nebel aus Schweigen. Es scheint, als wollten sie sich selbst schützen und nicht die Menschen, für die sie da sein sollen. Die Nebenklägerin Andrea Freitag sagt. „Es war niederschmetternd. Man muss an sich halten, damit die Wut nicht hochkommt. Diese Lügenmachenschaften, bei denen der kleine Mann, die Betroffenen, nicht interessieren. Aufklärung wird durch solche Handlungen verschleiert. Das ist ein Schlag ins Gesicht für die Betroffenen.“

Dennoch bringt das laufende Verfahren ein wenig Klarheit über die Warnung im April 2016. Auch wenn Peter Stadtmann dazu schweigt, dass ihm vorgeworfen wird, in fünf Jahren mehr als 60.000 Krebsinfusionen in der Bottroper Alten Apotheke gestreckt zu haben. Seine Verteidiger bestreiten die Vorwürfe.

Die Amtsapothekerin verweigert vor Gericht die Aussage

Der Anwalt der Amtsapothekerin Lochte sagte vor Gericht, dass seine Mandantin nicht aussagen wolle. Sie müsse sich durch ihre Antworten vor Gericht nicht einmal einem Anfangsverdachts aussetzen, etwas falsch gemacht zu haben, auch wenn dieser Anfangsverdacht unbegründet wäre. Das Gericht lehnte den Antrag ab. Die Amtsapothekerin musste Rede und Antwort stehen.

Der Anwalt der Nebenklage Andreas Schulz fragte Lochte nach der Warnung aus dem April 2016.

Die Amtsapothekerin bestätigte vor Gericht das Gespräch mit dem Ausbilder aus der PTA-Schule, das in den Räumen des Kreishauses in Recklinghausen in Beisein des Pharmazeutisch-technischen Assistenten Müller über die Alte Apotheke geführt worden war.

Aber bezüglich des Inhalts widersprach die Amtsapothekerin der Version unseres Informanten.

Angebrochene Wirkstoffpackungen in der Alten Apotheke

Lochte sagte aus, der PTA-Ausbilder habe berichtet, dass in der Alten Apotheke „Anbrüche länger verwendet würden, als es das Verfallsdatum“ vorsieht.

Hier muss erklärt werden, was Anbrüche sind. Sie sind eine Form der Resteverwertung in Apotheken. Wenn bei einer Medikamentenmischung, sei es Salbe oder eine Krebs-Infusion, ein Wirkstoff nicht gänzlich verbraucht wird, kommt es vor, dass der Rest nicht vernichtet, sondern für eine andere Zubereitung verwendet wird. Der Hersteller gibt aber nur eine Garantie für einen Wirkstoff in einem ungeöffneten Behälter. Wird der Rest aus einem geöffneten Behälter weiter verwendet, ist die Haltbarkeit deshalb erloschen. Formal ist die Haltbarkeit des Mittels abgelaufen.

Eigentlich ist eine Weiternutzung dieser „Anbrüche“ bei Krebstherapien nicht vorgesehen. Jedoch ist es laut Lochte bis heute übliche Praxis, dass diese Anbrüche weiter verwendet werden. Lochte sagte im Gericht aus, dass sie dem PTA-Ausbilder gesagt hätte, die Verwendung von Anbrüchen würde in den Apotheken „bundesweit so gehandhabt“ und diese Praxis würde „kein Vergehen“ darstellen, deshalb habe sie den Hinweis auch nicht vermerkt.

Informierte die Amtsapothekerin die Kripo?

Lochte sagte weiter, dass sie von dem Hinweis des PTA-Ausbilders auch der Kriminalpolizei berichtet habe. Nach unseren Informationen stimmt dies nicht direkt. Nachdem die Kripo im September nach der Anzeige des Whistleblowers Martin Porwoll im Fall der Alten Apotheke wegen des Verdachts der gestreckten Krebsmedikamente ermittelte, traf sie auch die Amtsapothekerin. Darüber gibt es einen schriftlichen Bericht. Lochte sagte demnach der Polizei, dass sie zuvor von mehreren Personen verschiedene Hinweise zu kleineren Missständen in der Alten Apotheke bekommen habe – aber keinen von einem so großen Ausmaß. Ein Verfahren sei zudem eingestellt worden. In den vorliegenden Unterlagen ist nicht die Rede davon, dass Lochte davon berichtet hat, dass in der Alten Apotheke „Anbrüchen“ verkauft würden – oder dass ein PTA-Ausbilder vor dem Handel mit abgelaufenen Krebsmitteln gewarnt habe.

Auch PTA-Ausbilder widerspricht Lochte. Er habe der Amtsapothekerin im April 2016 gesagt, dass in der Alten Apotheke „Medikamenten mit abgelaufenen Wirkstoffen“ hergestellt würden. Dies habe ihm ein Mitarbeiter aus der Apotheke gesagt. Auf unsere Nachfrage betonte der PTA-Ausbilder noch einmal, dass er nicht von „Anbrüchen“ geredet hätte, sondern von „Wirkstoffen mit abgelaufener Gültigkeit“. Er kenne als Ausbilder von Fachkräften in Apotheken, den Unterschied zwischen Anbrüchen und abgelaufenen Wirkstoffen sehr genau. Wegen „Anbrüche für Salben“ wäre er sicher nicht zur Amtsapothekerin Lochte gegangen, sagt der PTA-Ausbilder.

Mehrere Mitarbeiter der Alten Apotheke hatten vor Gericht ausgesagt, dass in dem Betrieb abgelaufene Zytostatika im Privatkeller der Mutter von Peter Stadtmann gehortet und verkauft worden seien. CORRECTIV liegen Fotos von abgelaufenen Medikamenten vor, die im Privatkeller der Mutter gelagert worden sind. Und auch die Ermittler fanden bei der Razzia der Alten Apotheke im November 2016 in dem Labor verfallene und haltbare Wirkstoffe zur Herstellung von Krebsmitteln. Die ungeöffneten Packungen standen zusammen. Zudem fielen den Ermittlern die Anbrüche ohne Vermerk des Öffnungszeitraumes auf. Also die Warnung des PTA-Ausbilders im April wurde bei der Razzia bestätigt. 

Der Informant widerspricht der Amtsapothekerin

Der PTA-Ausbilder sagt weiter, Lochte und ihr Assistenten Müller hätten anders reagiert, als Lochte vor Gericht aussagte.

Lochte hätte ihm gesagt, dass sie von mehreren Personen Hinweise bekommen hätte, dass in der Alten Apotheke etwas nicht richtig liefe. Weiter sagte der PTA-Ausbilder, Lochte habe berichtet, sie habe keine Handhabe gegen die Alte Apotheke. Zudem gebe es die Gefahr von falschen Anzeigen aus Neid.  

Dann soll die Amtsapothekerin laut eidesstattlicher Versicherung des PTA-Ausbilders gesagt haben, dass ihr Eingreifen sowieso sinnlos sei. Selbst wenn sie bei einer Kontrolle in der Apotheke verfallene Wirkstoffe finden würde, könne sofort für Ersatz gesorgt werden. Am nächsten Tag sei dann alles wieder gut. Lochte und ihr Assistent hätten „ratlos“ gewirkt, schreibt der PTA-Ausbilder in der eidesstattlichen Versicherung.

Auch nach dem Prozesstag bestätigt der PTA-Ausbilder schriftlich, dass er die Amtsapothekerin Lochte und ihren Mitarbeiter Müller über abgelaufene Wirkstoffen und Medikamenten informiert habe und die Reaktion der beiden so gewesen sei, wie er sie in der Erklärung beschrieben habe.

Damit unterscheiden sich die zwei Aussagen über das Treffen im April.

Sollte der Bericht des PTA-Ausbilders stimmen, hätte die Amtsapothekerin einen Hinweis auf Unregelmäßigkeiten in der Alten Apotheke bekommen, bevor die Kriminalbeamten in dem Fall ermittelten – und nichts unternommen. Die Nebenklage möchte den PTA-Ausbilder im Gericht als Zeuge vorladen.

Die Rolle der Amtsapothekerin ist für die Nebenklage auch für zivilrechtliche Ansprüche interessant. Rechtsanwalt Andreas Schulz will die Stadt Bottrop wegen Behördenversagen im Fall der Alten Apotheke in Amtshaftung nehmen.