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Die Kunst des Wartens: Ein Morgen im Dortmunder Bürgerbüro

Bürgerbüros im Ruhrgebiet lassen ihre Kunden oft stundenlang warten – wir hatten darüber berichtet. Aber wie fühlt sich das Verwaltungschaos vor Ort an? Ein Erlebnisbericht aus Dortmund.

von Bastian Schlange

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„Oh, das klingt dringend“, stimmt mir die nette Dame am Service-Telefon der Dortmunder Bürgerdienste zu, als ich ihr erkläre, wofür ich den neuen Reisepass benötige. „Kommen Sie am besten direkt morgen. Ab 7 Uhr werden die Wartenummern verteilt. Versuchen Sie es aber etwas früher.“

Aye, denke ich zufrieden. Zu diesem Zeitpunkt halte ich es noch für eine gute Idee, kurz nach Sonnenaufgang bei den Dortmunder Servicestellen aufzulaufen. Ein naiver Gedanke.  

Der Vorhof zur Verwaltungshölle

„Yippie-Ya-Yay“, höre ich matt einen Burschen in Schlabbershirt und Palmen-verzierten Bermuda-Shorts murmeln, als er hinter mir in die Berswordt-Halle schlurft, dem Vorhof der Bürgerdienste in der Innenstadt. Als ich mich zu ihm umdrehe, bekommt er kaum die vom Schlaf verquollenen Augen auseinander.

Auf der Uhr unter dem Amtsadler im Dachgiebel des rot verklinkerten Standesamtes, das direkt an die moderne Glasfassade zur Berswordt-Halle schließt, hatte der große Zeiger die 12 noch nicht passiert, der kleine hing schlaff herab. Vor Sieben: Die Schalter des Bürgerbüros haben noch geschlossen, und die Schlange staut sich bereits vom Eingang in einer 30 Meter langen, von rot-weißem Baustellenband geführten Bahn zu den Treppenstufen in den ersten Stock. 

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„Das war früher anders“, kläfft eine Frau, die eine verstörende Mischung meiner Religions- und Biologie-Lehrerinnen der Sekundarstufe I vereint. Verunsichert lächle ich sie an.

„Reisepass“, sage ich entschuldigend und zucke mit den Schultern.

„Aktueller Führerschein“, entgegnet sie, als würde sie einen Packen korrigierter Arbeiten aufs Pult knallen. Ihr Führerschein wird sie später noch auf die Überholspur unserer Verharrbahn heben. Noch stehen wir aber gemeinsam im müden Mob und warten.

Warten. Wie ich es hasse. Hier in Dortmund läuft es gerade auf dasselbe Spiel hinaus wie die vergangenen 20 Tage in Nordafrika. Für eine Reportage war ich dort. Eine Flüchtlingsorganisation wollte mit einem Ultraleichtflugzeug von Tunesien in den libyschen Mittelmeerraum starten, um die Rettungsaktionen auf See zu unterstützen. Fast drei Wochen haben wir auf die Sondergenehmigungen der tunesischen Behörden gewartet. Gewartet und geschwitzt. Der Flieger ist noch immer nicht in der Luft.

Obwohl rund 2000 Kilometer zwischen der nordafrikanischen Küste und dem Ruhrpott liegen, scheinen beide Regionen im selben Maße an ihrer Bürokratie zu kranken. Und ich habe hier noch nicht einmal das Bürgerbüro betreten.

„Wir haben in den vergangenen Wochen und Monaten die Verwaltungsstellen in den Außenbezirken und das Dienstleistungszentrum in der Innenstadt immer wieder früh schließen müssen, weil der Andrang so hoch war“, sagt Manfred Kruse, der neue Kopf der Dortmunder Bürgerdienste. Mitte Juli hat er mit seiner Kollegin Elisabeth Böker die Fachbereichsleitung der Servicestellen übernommen. Der Wechsel ist die Konsequenz auf einen Skandal um verschwundene Blanko-Ausweise. Einer der Perso-Rohlinge aus den Beständen des Dortmunder Bürgerservices war Ende vergangenen Jahres bei einer Polizei-Kontrolle in einem rumänischen Wagen gefunden worden und hatte Ermittlungen ins Rollen gebracht. Die Rechnungsprüfer der Stadt sind mittlerweile auf etwa 200 Fälle von Blanko-Dokumenten gestoßen, deren Verbleib sich nicht aufklären ließ. Wird mit neuer Führung auch frischer Wind durchs Bürgerbüro wehen?

„Die Warteschlangen vor dem Dienstleistungszentrum in der Innenstadt stellen derzeit eine Extremsituation dar, obwohl es sich langsam bessert“, sagt der 59-jährige Kruse. „Zum Teil standen die ersten Leute schon um 5 Uhr morgens an. Wer erst um 9 Uhr erschien, ist häufig nicht mehr dran gekommen. Um 10 Uhr hatte man überhaupt keine Chance. Das ist natürlich unbefriedigend. Anscheinend hat sich das bei den Leuten im Kopf festgesetzt – dass nur wer früh da ist, auch dran kommt.“ Er ergänzt: „Was ja auch momentan der Fall ist.“

Die Menge in der Berswordt-Halle raunt.

Der Ordner der Dortmunder L&W Wach- und Werkschutz GmbH, der am Fuße der Treppe zur ersten Etage steht, senkt sein Walkie-Talkie und winkt die erste Zehnergruppe durch. Wer es schafft, nimmt direkt zwei Stufen auf den Weg in den behördlichen Olymp. Kaltschnäuzig nutzen einige die Gunst der Bewegung, drängen sich seitlich in den Kopf der Schlange oder gehen einfach an den Übrigen vorbei und reihen sich zwei Dutzend Plätze näher an der Himmelspforte ein.

„Ich seh nur der 22. und denke geil!“, sagt hinter mir ein hochgewachsener Typ im frisch-wuscheligen Out-of-Bed-Look, der es anscheinend im Vorfeld mit einem Online-Termin versucht hatte. „Und dann fällt mir plötzlich der Monat auf.“

Bis zu fünf Wochen können zwischen Buchung und Termin liegen, sagt Kruse. Obwohl man versuche, kleinere Schienen an jedem Tag freizuhalten. Auch könne man mal mit einem kurzfristig abgesagten Termin Glück haben. Um das reguläre Warten zu verkürzen, habe man das „schnelle Geschäft“ eingeführt und einige Dienstleistungen ausgegliedert.

„Führungszeugnisse? Meldebescheinigungen?“ Ein dynamisch wirkender Mitvierziger mit grau melierten Schläfen und flottem Fielmann-Gestell auf der Nase dünnt die Reihen der Verzweifelten aus. Im Angesicht der morgendlichen Lethargie wirkt hier wahrscheinlich jeder dynamisch, der sich mehr als 30 Zentimeter in der Minute bewegt. „Okay. Sie müssen direkt in den ersten Stock, eine Etage höher und dann links“, sagt er einem Gesegneten. Meine Lehrer-Chimäre zieht er ebenfalls raus. Einem hilflos stammelndem Syrier erklärt er: „You are wrong here. You have to go to Bürgerdienste International.“

Stück für Stück rücke ich vor. Der Mann hinter dem Absperrband sieht zerknittert aus. Mittlerweile stehe ich direkt vor ihm und seinem Ordnerhemd.

„Gestern dachte ich noch, mit Viertel vor Sieben wäre ich clever gewesen.“

Der Mann schaut auf und lacht freudlos. „Ach, heute ist wenig los.“

„Wenig?!“

„Ja. 70 Mann. Das ist nichts. Sonst stehen hier hundert, hundertfünfzig Leute. Locker. Ich weiß auch nicht, was da los ist. Die haben oben einfach zu wenig Mitarbeiter.“

Derzeit sind rund 55 Mitarbeiter im Dienstleistungszentrum der Innenstadt beschäftigt, sieben zusätzliche Kräfte werden geschult. Auf diese Mitarbeiter kamen allein im Juli 8900 Kunden. Der Andrang war 2016 relativ stabil, aktuell gibt es wegen der Urlaubszeit einen leichten Anstieg. Reisepässe, Personalausweise – alles auf den letzten Drücker. Im Juli lag die durchschnittliche Wartezeit ohne Termin bei 145 Minuten. In Gelsenkirchen kommt man dagegen auf 17. „Der Unterschied ist, dass wir eine Einheitssachbearbeitung haben und neben den Einwohner- auch noch Kraftfahrzeugangelegenheiten bearbeiten. Deshalb sind die Zeiten eigentlich nicht zu vergleichen“, rechtfertigt Kruse, räumt aber ein: „Es ist sicherlich so, dass Personen, die seit 6 Uhr gewartet haben, dann zum Mitarbeiter kommen, und es fehlt plötzlich eine Unterlage, schon ungehalten werden können.“

7:23 Uhr – Das Warten beginnt… 

Knapp eine halbe Stunde ist vergangen. Ich stehe am Empfang zum Bürgerbüro. Alles noch kein Grund durchzudrehen. Die Mitarbeiterin lächelt über ihre Theke und gibt mir eine Wartemarke. 0057.

„Das geht ja“, rutscht es mir in einem kurzen Schwindelanfall raus.

„Ja!“, entgegnet sie euphorisch. „Heute haben Sie wirklich Glück! Wir sind schon bei 18. Haben Sie die biometrische Fotos für ihren Reisepass dabei?“

Ich nicke benommen und blicke mich um. Mitarbeiter, Wartende, stereotype Zimmerpflanzen. Rechts die Anmeldung mit den Wartemarken, geradeaus die Mitarbeiterbuchten, die von Wänden und Bänken voneinander abgetrennt sind, links der Wartebereich. Stühle säumen dort U-förmig die Wände, in der Mitte vier 5er-Reihen mit weiteren Stühlen, überall Plätze zum Verharren, vor Kopf die Beamer-Projektion mit den frisch gezogenen Glückszahlen.

Alle Zeichen stehen auf Geduld. Ich setze mich in den Wartebereich. Ich stehe nach 30 Sekunden wieder auf. Kippe. Kaffee. Wenn nicht jetzt, wann dann?

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Beim Rauchen vorm Eingang erwische ich den Fresh-out-of-Bed-Burschen – mit Kaffee und Fluppe – stelle mich auf eine Zigarettenlänge dazu.

„Zwei Arbeitstage sind jetzt hierfür draufgegangen“, nuschelt er in seinen Kaffee. „Gestern vier Stunden. Da war ich aber auch erst um 8 Uhr da“, fügt er entschuldigend hinzu. Als er die Unterlagen für seine neuen KFZ-Kennzeichen zusammengesucht hatte, war ihm aufgefallen, dass auch der Perso abgelaufen war.

„Welche Nummer hast du heute?“, frage ich.

„0058.“

Ich schürze anerkennend die Lippen. Das Nummern-Poker ist im Bürgerbüro-Kosmos das Arsch-Schnüffeln unter Hunden und wird zum wichtigsten Eröffnungs-Zug im Kennenlernspielchen unter den Wartenden.

Der Wuschelkopf verrät mir seinen Kaffee-Hotspot.

Vor dem Kiosk am Hinterausgang komme ich mit dem nächsten Wartenden ins Gespräch, Nummer 0085.

Ich: „Scheiße.“

Er: „Ach, aber es ist echt nicht viel los.“

Ich bestelle zwei Kaffee und suche mit den beiden Bechern des brasilianischen Frischmachers den Ordner. Einfach mal nett sein im Vorhof zur Verwaltungshölle. Außerdem hab ich noch über dreißig Nummern vor mir. Die festen Termine nicht mitgerechnet. Unbekannte Variablen, die einen in den Wahnsinn treiben, wenn man das System hinter ihnen zu verstehen versucht.

Bis der Ordner verstanden hat, dass der Kaffee für ihn ist, brauche ich drei Anläufe. „Sowas habe ich noch nie erlebt“, sagt er ungläubig. Seit März diesen Jahres beschäftigt die Stadt Sicherheitspersonal im Bürgerbüro. Erst war es ein Wachmann, mittlerweile sorgen drei für Ordnung.

„Sonst eher Anfeindungen?“, frage ich.

Er lächelt ausweichend. „Ich kann die Leute ja verstehen. Montag und Dienstag war es so voll, dass wir knapp hundert Leute wieder nach Hause schicken mussten. Wenn man seit halb sechs angefangen hat zu warten, ist das ärgerlich.“

Mittlerweile sitze ich wieder im Wartebereich und schaue mich um. In meiner Langeweile fange ich an, Nietzsche zu rezitieren: „Ein sicheres Mittel, die Leute aufzubringen und ihnen böse Gedanken in den Kopf zu setzen, ist, sie lange warten zu lassen. Dies macht unmoralisch.“

Hier ist alles dabei. Knötternde Kinder, bullige Brummifahrer und verschlafene Frauen. Gefangen in einer RTL II-Version von „Verwaltungsangestellter gesucht“. Nur dass nichts gefaked ist. Die geknickten Gesichter sind echt. Unter Abgas geschwärzten KFZ-Kennzeichen kauern Knie. Halbwache Augen saugen sich an Handybildschirmen fest. Kleine digitale Fluchtfenster. Facebook, Twitter, Online-Welt…

7:57 Uhr – Wartenummer 0041

Erste innere Unruhe. Ich versuche die Online-Zusammenfassung von „Warten auf Godot“ zu lesen. Geht nicht. Gehe zu Facebook. Bleibe bei der Seite des Bürgerbüros hängen.

Sebastian Oliver Bux schrieb vor drei Wochen:

EIN WITZ! IHR GEHÖRT ALLE ENTLASSEN! 😉

(Anmerkung: Als ob es das wirklich besser machen würde.)

Sandra Römer postete:

ICH KÖNNTE KOTZEN…

WIE SOLL MAN BITTE SCHÖN SEINE SACHEN BEIM BÜRGERAMT ERLEDIGEN????Manche nehmen sich extra Urlaub…

Liebe Stadt Dortmund…Das kann es echt nicht sein….

Vlt denkt der gute Herr Spähnhoff (Anmerkung: Peter Spaenhoff, der entbundene Fachbereichsleiter) mal drüber nach….

Ein stinksaurer Bürger…

Mike Krc:

wozu zahlen wir eigentlich steuern wenn unsere Behördengänge nicht erledigt werden das ist der größte dreck was es überhaupt gibt

Dylala Wölkchen:

Das sind katastrophale Zustände!

Ralf Biegel:

Eigentlich müsste man prüfen, ob so ein Verhalten der Stadt nicht auch strafbar ist….‬

Und Supermoto Orti meint noch, der Welt verkünden zu müssen:

ich könnte KOTZEN!!!!! ich war um kurz nach 8 bei den Bürgerdiensten in unserem Vorort..… ZU!!!!! wegen überfüllung vorzeitig geschlossen!!!! dann zum nächsten der noch auf haben sollte….das gleiche..ZU!!!!! wegen Überfüllung……angeblich sagen sie es schon im Radio…das alle Straßenverkehrsämter in Dortmund geschlossen wurden……was erlaubt sich die Stadt Dortmund da eigentlich ? Ich finde es eine Unverschämtheit (…) Ich hoffe das diese scheiß SPD Regierung hier bald aus der Stadt fliegt..……..ich habe die Faxen gerade SOOO dicke….!!!!

Screenshot B Döger Todesstrafe 2016-08-21

Hüseyin Topel

8:04 Uhr – Wartenummer 0042

Bei dem Blitzlichtgewitter aus Groß- und Kleinschreibung, der abenteuerlichen Orthografie und dem Irrsinn der Interpunktion kriege ich Kopfschmerzen. Handy aus. Dieses auferlegte Warten ist demütigend, macht mürbe und klein. Und ungerecht.

„Die Stresssituation schlägt sich auch auf unsere Mitarbeiter nieder“, sagt Kruse. „Dass sich krankheitsbedingte Ausfälle in den letzten Monaten leicht erhöht haben, ist schon erkennbar.“ Wer mal in der Kundenbetreuung gearbeitet hat, weiß, dass die vorderste Servicefront die undankbarste Stellung im Dienstleistungskrieg ist. Das erste Gesicht, die kleinste Verantwortung und die größte Anstrengung, den Karren aus der Scheiße zu ziehen.

8:09 Uhr – Wartenummer 0043

Ich beschließe, das Beste draus zu machen: Schließlich bewirkt Warten, dass man die Zeit bewusster wahrnimmt. Achtsamkeit, Mindfullness. Einfach mal nur im Hier und Jetzt – allein sein mit sich und seinen Gedanken.

8:17 Uhr – Wartenummer 0043

Der Teppich des Wartebereichs ist grobkörnig und grau meliert.

8:27 Uhr – Wartenummer 0053

Mich stresst die Scheiße. Dabei sollte ich in Tunesien geschnallt haben, dass Stress nur im Kopf entsteht. Dieses erzwungene Nichtstun ist schlimmer als jede 14-Stunden-Schicht.

Psychologen erkennen die Hauptursache für Stress im Fehlen von Kontrolle. Unfreiwillige Blockaden werde vom menschlichen Gehirn als Bedrohungssituation interpretiert. Beim Warten im Stau zum Beispiel wird im Körper eine klassische Stressreaktion ausgelöst. Adrenalin, Cortisol – das volle Programm. Die Folge: Blutdruck- und Herzfrequenz steigen an, Muskelverspannungen, Schwitzen. Dazu Gereiztheit, Panik oder Angst. Stress ist ein Überlebensmodus. Nur drei Möglichkeiten bleiben: Kampf, Flucht oder Totstellen.

Ich betrachte wieder den Teppich und überlege kurz, mich embryonal auf das geschmacklose Muster zu kauern.

8:33 Uhr – Wartenummer 0053

Zerissen zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Immer wieder der ungläubige Blick auf die Wand, auf die Nummer, auf die Uhr, auf den eigenen Zettel. Leuchtet die richtige Ziffernfolge auf, erklingt ein dezenter digitaler Dong beziehungsweise Gong. Ich reibe mir durch das Gesicht. Wortfindungsschwierigkeiten. Gefangen in den RTL II-Alliterationen.

Müde.

„Es gibt nichts Schöneres, als so seinen letzten Urlaubstag zu verbringen“, knattert plötzlich eine feminine Raucher-Stimme auf dem Stuhl neben mir. Sie hat ihre blondierten Haare zum Pferdeschwanz gebunden und unterstreicht den dynamischen Eindruck der Frisur mit schwarzen Glitzerballerinas. Ihr Freund ein Platz weiter sieht aus wie die Dortmunder Variante des Prollo-Barden Tim Toupet, der sich mit Hits wie „Ich hab ne Zwiebel auf dem Kopf, ich bin ein Döner. Denn Döner macht schöner“ einen Namen gemacht hat. Die beiden lächeln mich an.

„Welche Nummer?“, fragt sie.

„0057.“

„Ach, ganz weit weg von uns!“ Ich schaue sie fragend an. Tim Toupet trägt ein dunkles Poloshirt und dezent geblümte Kargo-Shorts.

„0078.“

Meine Mundwinkel ziehen sich mitleidig in die Länge.

Dann wieder Schweigen. Ein junger Bursche mit einem Pink Floyd Dark-Side-of-the-Moon-T-Shirt beugt sich nach vorn und reibt sich die Augen. Hände trommeln unmotiviert auf Knien. Im Rhythmus eines älteren Herrn mit kurzärmeligen Karohemd, der still in der rechten Ecke hockt, bilde ich mir ein, den Queen-Klassiker „We will rock you“ zu erkennen. Ansonsten antriebslose und unglückliche Gesichter. Willkommen in der Haldol-Erlebnisgruppe.

Ich starre mich an der Beamerprojektion fest.

„Das Macht doch keinen Spaß!“, rasselt wieder das Rauch-Organ von Tim Toupets Freundin in mein rechtes Ohr, lässt mich aufschrecken.

8:40 Uhr – Wartenummer 0053

Es passiert nichts mehr. Erst Aggression, dann Resignation.

8:44 Uhr – Wartenummer 0053

Neues Mantra: Ich sitze hier nicht sinnlos rum. Ich verschönere den Raum.

Mit freiem W-Lan die Wartesituation erträglicher zu machen, habe man noch nicht in Erwägung gezogen, erklärt Kruse. Lieber wolle man sich darauf konzentrieren, die Wartezeiten zu verkürzen. „Die 10 Minuten, die wir früher einmal hatten und die vorbildlich waren, werden wir nicht mehr erreichen können. Dafür gibt es zu viele gesetzliche Änderungen, mit denen Beratungspflichten verbunden sind. Außerdem haben wir häufig mit massiven Sprachbarrieren zu kämpfen.“ Deswegen wolle man in Zukunft verstärkt mit Dolmetschern zusammenarbeiten, dazu das zusätzliche Personal, die Ausgliederungen des „schnellen Geschäftes“. Von einer ersten Entspannung geht Kruse im Oktober aus, von einer zweiten zum Ende des Jahres. „Wenn wir demnächst wieder bei Wartezeiten zwischen 15 und 30 Minuten liegen, wären wir zufrieden.“

8:46 Uhr – Wartenummer 0054

Die vier Ziffern blinken fordernd, niemand springt auf.

Arme Sau.

0055 – eine Dame mit Kopftuch huscht schattenhaft zu den Behörden-Buchten.

0056 – ein Schwarzer schnellt hoch.

Es ist 8:47 Uhr. Drei in einer Minute. Adrenalin. Noch eine Nummer. Meine Nummer.

In dem Moment steht vor mir eine Frau auf und stopft sich das Hemd in die Hose. WTF? Ich kann die Anzeigentafel nicht mehr sehen, krümme mich in den Gang, um irgendwie an ihr vorbei zu schielen. Doch die Serie setzt sich nicht fort. Drei Nummern – nur ein kurzer bürokratischer Durchfall.

Für meinen zweiten Afrika-Aufenthalt hänge ich ebenso in der Warteschleife. Meine Rückkehr und Beendigung der Reportage, wenn der Flieger endlich mit allen Genehmigungen in die Luft geht – alles in der Schwebe. Kann Morgen passieren oder in vier Wochen. Dafür auch der Reisepass. Das Abenteuer, mich mit Perso durch die afrikanischen Grenzkontrollen zu diskutieren, muss ich nicht wieder haben.

Also loslassen – den Pass, die Genehmigungen… Es wird sich alles regeln.

8:58 Uhr – 0057

Meine Nummer! Als ich hochfahre, machen Tim Toupet und Freundin eine Laola-Welle. Kurz darauf sitze ich am Schalter. Nach rund 135 Minuten. Zehn unterm Durchschnitt. Es geht bergauf mit den Dortmunder Bürgerdiensten. Ein afrikanisches Sprichwort lautet: Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht.

Am Ende des erzwungenen Stillstands steht für mich die Akzeptanz.

Nur wer nichts erwartet, kann das Warten ertragen.