AfD-Analyse Ruhrgebiet: Der Auf- und Ab-Steiger
Die Wähler im Ruhrgebiet bewahrten die Alternative für Deutschland vor einer weiteren Blamage in NRW. Doch der AfD-Steiger Guido Reil blieb unter den Erwartungen. Der Grund für Reils Achtungserfolg lag in der niedrigen Wahlbeteiligung im Ruhrgebiet und in der verfehlten SPD-Wahlkampfstrategie. Eine Analyse der Wahlergebnisse im Ruhrgebiet.
Am Montag nach der NRW-Wahl feierten Björn Höcke, der rechtsradikale AfD-Chef aus Thüringen, und dessen völkischer Arbeitnehmerverband ALARM auf Facebook die „AfD-Hochburgen im Ruhrgebiet“. Der Facebookpost zeigt drei Fördertürme in der Dämmerung des Reviers, dazu die zweistelligen Ergebnisse der AfD in den Wahlkreisen der Kohleregion.
Gelsenkirchen II: 15, 2 Prozent
Duisburg IV-Wesel V: 14,6 Prozent
Gelsenkirchen I: 14 Prozent
Essen I – Mühlheim II: 13,1 Prozent
Herne I: 11,2 Prozent.
ALARM wurde vor zwei Wochen am 1. Mai von dem Rechtsanwalt und Höcke-Anhänger Jürgen Pohl gegründet. Der Arbeitnehmerverband weiß, wem diese Ergebnisse zu verdanken sind: „Glückwunsch an Guido Reil, der in seiner Heimatbasis Karnap und in Vogelheim über 20 Prozent holte!“
Dabei hatte sich Reil noch beim Wahlkampfauftakt der AfD in Altenessen Anfang April von dem „Geschichtslehrer“ Höcke distanziert, „so jemand hat in der AfD nichts zu suchen“, rief damals der ehemalige Sozialdemokrat den 400 Anhängern zu. Der Bergmann Guido Reil aus Essen war 2016 zur AfD gewechselt und war die zentrale Figur im Wahlkampf der AfD in NRW.
Reil warb in Bergmannskluft und mit geschminktem Gesicht für die AfD. Neben Spitzenkandidat Marcus Pretzell und dessen Ehefrau, der Bundesvorsitzenden Frauke Petry, war er das wichtigste Gesicht der rechtspopulistischen Partei im Wahlkampf. Als hätte die AfD in NRW außer Pretzell und Reil keinen anderen Politiker, tourte der AfD-Steiger von einer Veranstaltung zur anderen.
Das SPD-Wählerklientel im Visier
Die Reil-Tour zielte auf das angestammte Wählerklientel der SPD im Ruhrgebiet, auf den gewerkschaftlich organisierten Facharbeiter.
Das NRW-Wahlprogramm der AfD hatte dazu eine sozialpolitische Ausrichtung. Das Arbeitslosengeld I sollte verlängert und die Hartz-IV Sätze erhöht werden – allerdings sollten diese Wohltaten nicht für Ausländer gelten: „Eine finanzielle Gleichstellung von vormals jahrelang Erwerbstätigen und in die Sozialsysteme Zugewanderten wird abgelehnt“, heißt es im Programm.
Die Reil-Karte lohnte sich für die AfD, aber nicht für den Steiger selbst. Obwohl er wie ein Tanzbär durch NRW tingelte, zieht er nicht in den Landtag ein. Denn die AfD verfehlte in NRW landesweit die zwei wichtigsten Wahlziele: Sie wurde nicht zweistellig, erhielt magere 7,4 Prozent der Stimmen, und wurde nicht stärkste Oppositionskraft im Landtag. Lediglich mit 16 Kandidaten zieht die AfD nach Düsseldorf, 14 davon sind loyale Pretzell-Anhänger, Reil ist nicht darunter.
Mit Hoffnungen und Drückerkolonnen
Mit Hilfe einer regelrechten Drückerkolonne hatte das Pretzell-Lager dafür gesorgt, dass vor allem genehme Kandidaten auf die Liste kamen. Der Stern veröffentlichte im November die manipulativen WhatsApp-Protokolle. Für Reil war damals kein Platz auf den aussichtsreichen Plätzen.
Als Reil sich Ende November 2017 in Rheda-Wiedenbrück allerdings gegen das Pretzell-Lager den Listenplatz 26 mit einer flammenden Rede erkämpfte, galt dieser Platz noch als eine recht sichere Fahrkarte in den Landtag. Die AfD rechnete damals mit bis zu 30 Plätzen und einem zweistelligen Ergebnis. Die Umfragen bestärkten diese Vermutung.
Steiger vs. Justizminister
Reil hoffte auf einen politischen Coup. Er wollte den Direktkandidaten der SPD, Justizminister Thomas Kutschaty, in dessen Wahlkreis in Essen direkt attackieren. Doch Reil bieb hinter den Erwartungen zurück. Er holte in den Essenern Stadtteilen Karnap und Vogelheim zwar über 20 Prozent der Stimmen. Dem Justizminister wurde er aber nicht gefährlich. In absoluten Stimmen waren es in Karnap 650 und in Vogelheim 399 Wähler für Reil.
Die absoluten Zahlen zeigen, dass der Erfolg der AfD in den Ruhrgebietsstädten sich besonders auf die niedrigere Wahlbeteiligung stützt. Während viele Wähler zuhause blieben, konnten AfD und Reil ihre Unterstützer mobilisieren.
So wählte das Ruhrgebiet
Das Ruhrgebiet stellt mit 3,89 Millionen Bürgern zwar knapp 30 Prozent der Wahlberechtigten in NRW, aber am Wahltag blieben dort viele Wähler den Urnen fern. So machten die Wähler aus dem Ruhrgebiet nur 27 Prozent der Bürger aus, die in NRW zur Wahl gegangen sind.
Dennoch hat die Landes-AfD über 35 Prozent ihres Stimmenanteils den Wählern aus dem Ruhrgebiet zu verdanken – die Menschen aus dem Pott haben die Partei Pretzells vor einem noch kläglicheren Wahlergebnis bewahrt.
Nach absoluten Zahlen hält sich Reils Triumph in Grenzen. Denn durch die geringere Wahlbeteiligung reichten bereits vergleichsweise wenige Wähler, um in den Wahlkreisen im Ruhrgebiet eine hohe Prozentzahl zu erreichen.
So holte die AfD im Wahlkreis Münster I mit 2934 Wählern und 3,4 Prozent ihr schlechtestes Ergebnis der Zweitstimmen ab, bei einer Wahlbeteiligung von 73,3 Prozent.
Dem gegenüber reichten 6611 Wähler aus, also nur doppelt so viele wie im Wahlkreis Münster I, um im Wahlkreis Gelsenkirchen II der AfD in NRW mit 15,2 Prozent das beste Wahlergebnis aller Wahlkreise zu bescheren. In dem Wahlkreis in Gelsenkirchen lag die Wahlbeteiligung jedoch lediglich bei 55,2 Prozent.
Reil und der AfD ist es gelungen, in den Arbeiter-Stadtteilen des Ruhrgebiets Wähler zu mobilisieren. In großen Teilen des Münsterlands holte die AFD dagegen ihre landesweit schlechtesten Ergebnisse und blieb in 14 Wahlkreisen unter 5 Prozent.
Warum konnte die AfD im Ruhrgebiet punkten?
Würde man die Stimmen aus dem Ruhrgebiet gesondert auszählen, hätte die AfD besser abgeschnitten als im Landeswahlergebnis. Aber auch im Ruhrgebiet wäre die AfD insgesamt nicht zweistellig geworden.
Doch wie konnten aus den SPD-Hochburgen im Ruhrgebiet AfD-Hochburgen werden? „Um uns Malocher kümmert sich niemand“, sagt Marion Seidel aus dem Essener Stadtteil Vogelheim. Antonia Martinez, die ebenfalls in Vogelheim lebt, sieht das ähnlich: „Viele Menschen sind hier nicht gut gebildet. Das ist ein großes Problem.“ Dazu käme dann die hohe Arbeitslosigkeit: „In Vogelheim leben einfach viele sozial schwache Menschen.“
Soziale Gerechtigkeit ist derzeit das große Thema der Bundes-SPD unter Martin Schulz, doch die SPD hat es im Ruhrgebiet versäumt den Schulz-Effekt auszuspielen. Die Ministerpräsidentin Hannelore Kraft hatte sich eine zu große Einmischung des Kanzlerkandidaten verbeten. Und damit habe die SPD in NRW die Chance vertan, die AfD zu stoppen, sagt der ehemalige SPD-Landtagsabgeordnete aus Essen Gerd-Peter Wolf.
Anfang April veranstaltete die AfD mit Guido Reil, den Bundesvorsitzenden Frauke Petry und Jörg Meuthen und dem Spitzenkandidat Marcus Pretzell den Wahlkampfauftakt in Altenessen, ein Heimspiel für Reil. Die Party platzte, nur 400 Leute verloren sich auf den Markt. „Reil, wie tief bist du gesunken“, rief damals Sozialdemokrat Wolf in die Menge.
Damals fremdelten die Einwohner von Altenessen mit der AfD. Ein Lkw-Fahrer aus Altenessen und dessen Frau, die in einer Spielbank arbeitet, sagten etwa, dass sie mit der AfD nichts zu tun haben wollten, und den Kanzlerkandidaten Schulz gut fänden.
Doch statt Schulz-Zug habe es die CDU geschafft, der SPD über das Sicherheitsthema das Wasser abzugraben, sagt der SPD-Mann Wolf: „Dabei hatten wir die Chance, mit dem Sozialthema im Ruhrgebiet zu punkten.“
Um die guten Chancen für Schulz im Ruhrgebiet machte sich auch Uwe Witt seine Gedanken, der Chef des Arbeitnehmerverbandes AVA in der AfD. Der AfD-Politiker aus NRW war für die sozialpolitische Ausrichtung des Wahlprogramms verantwortlich. Witt fürchtete im Frühjahr, dass der Kanzlerkandidat Schulz der AfD das Butter vom Brot nehmen könnte. Denn seine eigene Partei würde sich anstelle von Programmatik lieber mit Machtkämpfen beschäftigen, sagte Witt.
Aber Schulz durfte im Wahlkampf im Ruhrgebiet seine Trümpfe nicht ausspielen. Die SPD verlor massiv. Das sei ein Fehler gewesen, sagt SPD-Mann Wolf aus Essen. Und das zeigte sich auch in Altenessen. Dort stimmten trotz des kläglichen Wahlkampfauftaktes Anfang April 2.289 Menschen für Steiger Reil und brachten die AfD bei niedriger Wahlbeteiligung auf über 16 Prozent.